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Wie Al-Kaida einen Protostaat in Syrien errichtet

Heute ist es genau 2.600 Tage her, dass das Terrornetzwerk Al-Kaida im Oktober 2006 im Irak einen Staat ausrief. Das weiß ich deshalb so genau, weil Al-Kaida diese Tage in einem Zähler auf einem der wichtigsten dschihadistischen Internetforen anzeigt.

Einen Staat ausrufen – das klang 2006 im Irak lächerlich und war es auch, und dass die Dschihadisten seinerzeit eine Kabinettsliste inklusive Fischereiminister veröffentlichten, änderte an diesem Eindruck nichts. Aber bedeutsam war der Schritt trotzdem.

Zum einen spiegelte er das universelle Verlangen von Dschihadisten wider, nach Möglichkeit staatsähnliche Gebilde auszurufen. Das hat ideologische Gründe, denn Dschihadisten sind der Ansicht, dass es verboten ist, selbst nominell, Untertan oder Bürger eines „gottlosen“ oder „ungläubigen“ Herrschers zu sein. Da sind dann Staatsgründungen die einzige Abhilfe. Zum anderen zeigte die Ausrufung aber auch, dass es Al-Kaida eben nicht ausschließlich um Terroranschläge ging, sondern auch um Herrschaftsausübung und Gebietskontrolle.

Im Irak ist das nie wirksam gelungen. In Syrien aber sieht die Lage anders aus. Hier steht den Al-Kaida-Kämpfern nicht die US-Armee gegenüber, sondern die Truppen von Baschar al-Assad, die nicht nur weniger effektiv sind, sondern vor allem einige Teile des Landes de facto aufgegeben haben. Und es ist deshalb kein Zufall, dass die irakische Kaida-Filiale, die sich seit jener Staatsausrufung im Irak 2006 Islamischer Staat im Irak nannte, sich mittlerweile Islamischer Staat im Irak und Großsyrien (Isis) nennt – und das Staatsprojekt auf Syrien ausgedehnt hat.

Am Wochenende veröffentlichte Isis ein Video, das veranschaulicht, wie man sich das vorzustellen hat. In dem 15 Minuten langen Film aus al-Dana nahe der Stadt Idlib haben die Dschihadisten einen sogenannten Islamischen Gerichtshof etabliert: Ein bestehendes Regierungsgebäude wurde umgewidmet, schon draußen wird vor den Strafen für „Beleidigung des Propheten“ gewarnt. Drinnen sitzen langbärtige Dschihadisten und loben die „Ordnung und Ruhe“, die das Gericht geschaffen habe. „Keine Gesetze, keine Verfassung“, erklärt einer das Prinzip. Es gelte nur, „was Gott gesagt hat und was der Prophet gesagt hat“.

Seit Monaten richten Isis und andere Dschihadisten in Syrien solche Gerichte ein, es häufen sich Berichte von verhängten Todesstrafen und Amputationen. Frauen und Mädchen werden gezwungen, sich komplett zu verschleiern, vormals in Syrien ein nahezu unbekannter Anblick. In den Schulen werden die Curricula auf Religion umgestellt. Sogar Nummernschilder gibt Isis Bildern zufolge heraus.

Wie ernst man das alles nehmen muss, lässt sich noch nicht abschließend sagen. Beunruhigend aber ist es in jedem Fall – zumal Isis-Kämpfer und deren Verbündete nach wie vor Städte und Dörfer einnehmen. Zuletzt, so berichtete die türkische Zeitung Hürriyet, die Grenzstadt Atimah. CNN zufolge droht diese Eroberung der Freien Syrischen Armee, der einzigen wenigstens teilweise säkularen und moderaten Miliz von Bedeutung, die Nachschubrouten abzuschneiden.

Isis operiert dabei – das muss man ergänzen – unter dem Oberbefehl des irakischen Al-Kaida-Chefs Al-Baghdadi, der wiederum seit Monaten den Befehlen des Kaida-Gesamtchefs Aiman al-Sawahiri zuwiderhandelt, indem er die Operationen in Syrien nicht einstellt. Warum nicht? Weil er es nicht braucht. Er ist unabhängig genug, sein eigenes Projekt durchzuziehen. Dabei stört ihn auch nicht, dass in Syrien mit Dschabhat al-Nusra eine zweite Kaida-Gruppe mit dem Segen al-Sawahiris aktiv ist. Vor Ort wird ohnehin gelegentlich kooperiert und Kämpfer wechseln immer mal wieder zwischen beiden Gruppen.

Es gehört zu den bitteren Erkenntnissen des syrischen Bürgerkrieges, dass die Vertreibung der Regierungstruppen nicht immer synonym ist mit einer Befreiung der Menschen, die dort leben. Jedenfalls nicht nach westlichen oder demokratischen oder rechtsstaatlichen Maßstäben. Es mag Orte geben, an denen Bürger die Verwaltung selbst an sich ziehen. Aber es gibt eben mittlerweile eine ganze Reihe von Ortschaften, in denen Dschihadisten regieren, und zwar allein nach ihren Vorstellungen.

Dies wirft ein erneutes Schlaglicht auf ein Problem, welches auch nur zu diskutieren der Internationalen Gemeinschaft derzeit der Mut fehlt: Wer soll eigentlich gegen die Dschihadisten in Syrien vorgehen? Wer soll verhindern, dass sie sich auf eine Art und Weise festsetzen und konsolidieren, dass keine einheimische Kraft auf absehbare Zeit in der Lage ist, sie herauszufordern?

 

Der rosarote Krieg

„Nun bin ich hier, auf dem Boden des Dschihad“: Eine deutsche Konvertitin bloggt über ihren Alltag an der Seite islamistischer Kämpfer in Syrien. Von Yassin Musharbash

Wo hört authentische Selbstdarstellung auf – und wo beginnt Propaganda? Im Falle von Extremisten lässt sich diese Frage so gut wie nie eindeutig beantworten. Wer sein Leben einer Ideologie unterstellt, tendiert dazu, sich selbst nicht mehr als Individuum zu sehen, sondern als Beispiel. Was einem widerfährt, wird zum Symbol. Was man sagt, wird zum Signal.

Trotzdem bleibt ein Kern: Da wird zum Beispiel etwas beschrieben, ein Alltag, ein Gedanke, eine Begebenheit, und wenn dieses Beschriebene nicht komplett erlogen ist, offenbart solch ein Text unter Umständen Wahrheiten, die jenseits der Propaganda liegen. Dann kann es auch für Außenstehende erhellend sein, das Mitgeteilte zu betrachten.

So verhält es sich, jedenfalls meiner Ansicht nach, auch mit einem noch relativ jungen Blog einer Frau aus Deutschland, die sich, als überzeugte und militante Islamistin, gemeinsam mit ihrem Mann und den Kindern nach Syrien begeben hat. In ihrer Selbstvorstellung schreibt sie: „Ich bin die Frau eines Mujahids, Mutter von Mini-Muhajirin und Nachbarin von Ansar, Muhajirin und Mujahidin. Eine Geschichte wie aus einem Bilderbuch. Nein! Noch besser: So war die Geschichte von unserem geliebten Propheten (saws) seiner Familie (rah) und den Sahaba (ra).“

Mit „Mujahid“ meint sie: jemand, der in einem Dschihad kämpft; „Muhajirin“ bezeichnet im islamischen Kontext religiöse Auswanderer; „Ansar“ sind Helfer; Kürzel wie „saws“ und „ra(h)“ stehen für Segensformeln.

Fünf Blog-Einträge gibt es bisher, alle sind im September entstanden. Sie kreisen um Pfannkuchenrezepte ebenso wie um nächtlichen Kanonendonner, um 9/11 und um die Hauskatze „Nonoh“.

Natürlich ist ein guter Teil Propaganda. Etwa wenn die Bloggerin am Jahrestag der Anschläge vom 11. September 2001 schreibt: „Wenn es vom Islam her erlaubt wäre, hätten wir diesen sonnigen 11. September zum Feiertag erklärt. Ein Feiertag mit Geschenken und Keksen, fast wie Weihnachten. Nur das wir keinen Menschen, den man zum Gott erklärt hat, feiert, sondern einen ehrenhaften Scheikh Usama bin Laden. Er war wirklich ein Held und aufrichtiger Mann mit noblem Charakter. Möge Allah (swt) mit ihm barmherzig sein. Amin. So, und nun fliegen uns die Pfannkuchen in den Mund. Ein Kracher sind sie geworden. Alhamdulillah. InschaAllah werden wir in Zukunft weitere einfallsreiche Köpfe haben, die Flugzeuge starten lassen.“

Interessanter aber sind jene Passagen, in denen erkennbar wird, was die junge Frau an ihrer Ideologie, die sie freilich für die reine Form ihrer Religion hält, eigentlich so anziehend findet: „Im Land der Kuffar (Ungläubigen, YM) unterliegst du deren Gesetzesbüchern und machst, was dein Chef dir in der Arbeit sagt, wenn du nicht grad irgendwelche Hartz-IV-Formulare ausfüllst und mit den Ämtern kämpfen musst. Hier aber herrschen unsere Gesetze, Allahs (swt) Scharia. Man arbeitet nicht für Hans-Peter in der Fabrik oder im Büro zwischen 7-16 Uhr, um dann noch seine Gebete in den kleinen Pausen in Hektik (manchmal an dreckigen und ungeeigneten Plätzen) zu verrichten. Hier arbeitest du 24 Stunden konzentriert für Allah (swt). Allahs Religion ist hier keine Nebensache, sondern Mittelpunkt deines Alltags.“

Die „Dunya“, das Diesseits, ist für sie „zugemüllt“ und wertlos: „Unglaublich trügerisch ist sie. Sie lässt dich vergessen, wie nah dir der Tod ist. Eine andere Sache wird dich hier dennoch an den Tod erinnern. Die Bomben, die weit und nah einschlagen … plötzlich erkannt man seine Fehler und man fragt sich, ob man bereit ist für die Akhira (das Leben nach dem Tod, YM). Habe ich das Wohlgefallen Allahs (swt)? Wenn ich jetzt sterbe und für alle Ewigkeiten in der Akhira bin, werde ich es gut haben? Bin ich von den Geretteten?“

Hier mischen sich Faktoren, die nach Ansicht von Radikalisierungsforschern fast immer zusammenkommen: Scheinbar einfache und endgültige Antworten auf die komplexen Herausforderungen des Lebens; ein radikaler Bruch mit dem alten Leben; ein Sinn-Vakuum, das plötzlich gefüllt wird.

Aus dem Blog geht leider nicht hervor, unter welchen Umständen die Autorin und ihr Ehemann sich kennengelernt haben – oder wer die treibende Kraft bei der Radikalisierung war. Aber ganz deutlich wird, dass die junge Bloggerin vollständig zufrieden mit der ihr zugewiesenen Rolle als Ehefrau eines dschihadistischen Kämpfers ist: „‚Mach dich bereit, wir gehen mit den Geschwistern an einen schönen Ort und essen dort Falafel und Kebab‘, sagte mein Ehemann. Schnell alles zusammengepackt fuhren wir zu einem Fluss. Wir Frauen konnten unten sitzen und die Männer oben. So waren wir von den Männern abgeschirmt. Das Essen war sehr lecker. Salat gab es dazu. Frisches kaltes Quellwasser ebenfalls. Plötzlich hörten wir Schüsse. Unsere Männer visierten auf der andere Flussseite einen orangefarbenen Gegenstand an und versuchten diesen mit ihren Sturmgewehren zu treffen. Das war eine Prise Spass zum leckeren Essen und ein wunderschönes Gefühl zu sehen, wie der eigene Mann schiesst, mit seinem Gewehr. Einfach ein richtiger Mann. Ja SubhanAllah, ein Mujahid ist er, ein Soldat Allahs und nicht ein Blauhelm oder deutscher Soldat.“

Sie berichtet von ihrem schlechten Gewissen, weil sie, als das Haus wegen eines Waldbrandes evakuiert werden muss, die „Notfalltasche“ („frische Kleider für mich und die Kinder, Babyflasche, Babynahrung, Feuerzeug, Kerzen / Taschenlampe, Medikamente“) nicht fertig gepackt hat.

Aber am Ende, natürlich, wird alles gut: „Was wohl gerade meine Geschwister in Deutschland machen? Haben sie von dem Feuer mitbekommen? Es ist spät in der Nacht. Ich höre wieder das Einschlagen der Bomben, worauf die Hunde mit einem Bellen antworten. Die Grillen im Hintergrund dürfen nicht fehlen. Wie jede Nacht eben.“ Dschihad-Romantik; der Krieg in Rosarot.

Nach aktuellen Schätzungen der Sicherheitsbehörden halten sich rund 170 Kämpfer aus Deutschland in Syrien auf. Wie viele Frauen unter ihnen sind, ist unbekannt; aber die Bloggerin ist gewiss kein Einzelfall.

Was die Behörden in den wenigsten Fällen wissen, ist, welchen Gruppen sich die deutschen Konvertiten anschließen. Ganz klar ist es auch im Falle der Bloggerin nicht. Aber ihr Blog läuft über die Webpräsenz einer Institution namens „Sham Center“, einer Art dschihadistischem Medienportal, an dem mehrere deutsche Islamisten beteiligt sind. Es gehört augenscheinlich zum Umfeld des Ex-Gangsta-Rappers Denis Cuspert alias „Deso Dogg“, der sich mittlerweile Abu Talha al-Almani nennt, und vom Sham Center wie folgt porträtiert wird: „Wir haben die letzten Monate unseren Bruder Abu Talha Al-Almani auf seiner Reise begleitet und sind auch noch fleißig dabei Videomaterial für eine Dokumentation zu sammeln. Momentan ist der Bruder verletzt, weshalb wir kein Datum für das Veröffentlichen der Dokumentation mitteilen können.“ Das teilten die Aktivisten am 20. September mit.

Ob dieser Zirkel an Kampfhandlungen teilnimmt, ist nicht eindeutig. Es scheint jedoch Beziehungen zu Kämpfern der militanten Salafistengruppe Jund al-Sham zu geben. Vielleicht ist die Tatsache, dass die Blog-Autorin seit fast drei Wochen nichts mehr veröffentlicht hat, ein Hinweis darauf, dass sich die Lage verschärft hat.

Fünf Blog-Posts reichen weder für ein Persönlichkeitsprofil noch für allgemeingültige Schlüsse. Aber es schimmert etwas durch. Für einige, die derzeit nach Syrien ziehen, geht es nicht allein ums Kämpfen und schon gar nicht in erster Linie um das Assad-Regime. Das Schlachtfeld Syrien ist für sie offensichtlich auch attraktiv als Kulisse zum Ausleben zuvor verinnerlichter Ideen. Als Zufluchtsort vor den Anfechtungen (und vielleicht auch Zweifeln) zu Hause. Als Bewährungsprobe, dass man wirklich bereit ist, die gelernten Ideale zu leben. Als eine Art virtuelle Zeitmaschine, die es scheinbar möglich macht, sich in die verherrlichte Vergangenheit des 7. Jahrhunderts zu imaginieren und die Vorbilder zu imitieren, die einem ständig vorgehalten werden.

Dass der mögliche Preis der Tod ist, sogar der Tod der eigenen Kinder, wird dabei in Kauf genommen.

Es ist schwer, das nachzuvollziehen; aber es scheint mir wichtig, es nicht zu ignorieren. Es werden noch mehr Islamisten und Islamistinnen aus Deutschland nach Syrien ziehen – und viele werden zurückkehren. Dann wird es darauf ankommen, sie richtig einzuschätzen.


PS: Eine Anmerkung zum Schluss. Es ist naturgemäß nicht einfach, zu prüfen ob die Autorin sich wirklich in Syrien aufhält. Ich kann genau genommen nicht einmal verifizieren, dass das ganze Blog kein Fake ist. Ich glaube aber, dass es authentisch ist, weil mir der Inhalt, der Tonfall und der Veröffentlichungsort plausibel erscheinen. Andere Experten, die ich befragt habe, sehen ebenfalls keinen Grund für Zweifel. Sollte sich an dieser Einschätzung etwas ändern, werde ich das an dieser Stelle nachtragen.

 

Al-Kaidas Chef al-Sawahiri stellt neue Regeln auf

Seit gut zwei Jahren führt der ägyptische Arzt Aiman al-Sawahiri das Terrornetzwerk Al-Kaida an. Zum ersten Mal tritt er nun erkennbar aus dem Schatten seines Vorgängers Osama Bin Laden, der im Mai 2011 von US-Spezialeinheiten in Pakistan getötet worden war. Und zwar nicht mit einer Rede, sondern mit einer fünfseitigen (arabisches Original) beziehungsweise siebenseitigen Erklärung (englische Übersetzung, von Al-Kaida zur Verfügung gestellt) namens „Allgemeine Erläuterungen zur dschihadistischen Arbeit“. Al-Kaidas Medienabteilung Al-Sahab hat das Dokument vor einigen Tagen über einschlägige Internetseiten verbreitet; es liegt ZEIT ONLINE vor.

Das Papier ist sehr interessant – schon weil es in eine Kategorie von Kaida-Veröffentlichungen fällt, die in den vergangenen Jahren immer seltener geworden ist: jene nämlich, die sich nicht vornehmlich an „den Feind“ richtet und ihn einschüchtern soll, sondern stattdessen Anweisungen für die eigenen Anhänger enthält. Wörtlich sagt al-Sawahiri: „Wir rufen die Anführer aller Gruppen, die zur Gemeinschaft Al-Kaidas zählen, sowie unsere Unterstützer und Sympathisanten dazu auf, diese Richtlinien unter ihren Mitgliedern zu verbreiten, gleich ob Anführer oder Individuen.“

Diese Richtlinien beginnen recht unspektakulär mit einer Art Präambel: Al-Kaida agiere erstens militärisch und zweitens durch Propaganda; militärische Akte seien vornehmlich gegen „das Haupt des Unglaubens“, also die USA sowie deren Alliierten Israel gerichtet, ferner gegen „die lokalen Verbündeten, die unsere Länder regieren“. Zweck und Ziel aller Angriffe auf die USA sei es, das Land „auszubluten“, auf dass es der verbliebenen Supermacht so ergehe wie einst der Sowjetunion. Danach – das ist die dschihadistische Variante der Domino-Theorie des Kalten Krieges – würden dann alle US-Alliierten „einer nach dem anderen“ ebenfalls stürzen.

Es folgt eine wenig überzeugende Lesart des Arabische Frühlings: Dieser sei ein von den USA (!) geschaffenes Ventil für die Unzufriedenheit der Menschen in diesen Ländern, habe sich nun aber zum Nachteil der USA weiterentwickelt. Wahrscheinlich verbreitet al-Sawahiri diese Deutung, weil er sonst eingestehen müsste, dass es nicht etwa, wie stets von Al-Kaida propagiert, Dschihadisten waren, die arabische Autokraten hinwegfegten, sondern eher liberal gesonnene Bürgerinnen und Bürger.

„Denn unser Kampf ist lang“

Dann aber wird es interessant. Denn nun schlägt al-Sawahiri eine Brücke zwischen „Propaganda“ und „Operationen“: Den Muslimen weltweit müsse klargemacht werden, dass die „Mudschahedin“ die Speerspitze des Widerstands gegen die neuen „Kreuzzügler gegen den Islam“ seien. Jegliche militärische Tätigkeit Al-Kaidas, so der oberste Anführer sinngemäß, müsse entsprechend legitimierbar sein: als Akt der Verteidigung, nicht etwa der Aggression.

Diese Denkfigur hat bei Al-Kaida zwar schon immer große Bedeutung gehabt. Osama Bin Laden versuchte mit ihrer Hilfe, 9/11 zu legitimieren: Die Anschläge von New York und Washington seien ja lediglich eine Schlacht in einem immerwährenden Krieg, ein Gegenschlag, eine Reaktion der Attackierten, Vergeltung und nicht etwa eine Kriegserklärung.

Aber in den vergangenen Jahren ist Al-Kaida anders aufgetreten, und al-Sawahiri hat offensichtlich beschlossen, Konsequenzen daraus zu ziehen, dass sein Terrornetzwerk über sehr wenig öffentliche Unterstützung in der islamischen Welt verfügt, weil es zunehmend als blutrünstig, brutal und unterschiedslos mörderisch in Erscheinung getreten ist.

Entsprechend befiehlt al-Sawahiri Zurückhaltung: „Es sollte vermieden werden, in einen bewaffneten Konflikt (mit den lokalen Herrschern) einzutreten. Wenn wir gezwungen sind zu kämpfen, müssen wir klarmachen, dass unser Kampf gegen sie ein Teil unseres Widerstandes gegen den kreuzzüglerischen Angriff auf die Muslime ist.“ Al-Sawahiri will also vermeiden, dass Al-Kaida wirkt, als übe sie Gewalt (zumal in der muslimischen Welt) zum Zwecke der Gewalt aus. Er geht sogar noch weiter. Wo möglich, solle man Konflikte sogar befrieden, sollte danach eine Situation entstehen, in der „die Brüder“ Freiraum zur Ausübung von Propaganda und Rekrutierung hätten: „Denn unser Kampf ist lang, und der Dschihad braucht sichere Basen …“

Keine Angriffe auf Christen oder Schiiten mehr!

Noch weitreichender: Al-Sawahiri fordert die Kader auf, Angriffe auf „abweichende“ islamische „Sekten“ wie Schiiten oder Sufis zu unterlassen. „Selbst falls sie Sunniten angreifen, muss unsere Reaktion beschränkt bleiben und darf nur jenen gelten, die uns auch angegriffen haben.“ Auch von Christen, Hindus und Sikh, die in muslimischen Ländern leben, sollen die Mudschahedin ablassen, sondern diesen stattdessen erklären, dass Al-Kaida mit ihnen friedlich gemeinsam in einem islamischen Staat leben möchte.

Ansonsten gelte es, Zivilisten (insbesondere muslimische) zu schonen, also keine Angriffe auf Moscheen, Märkte oder andere Orte, wo sich gewöhnliche Muslime aufhalten könnten. Ferner: Hände weg von islamischen Gelehrten (auch wenn sie gegen Al-Kaida sind) sowie von Frauen und Kindern.

Was will al-Sawahiri mit diesem Papier erreichen? Zunächst einmal: Es schwingt in dem Dokument eine Kritik nach, die der Ägypter auf dem Höhepunkt des irakischen Bürgerkrieges an den seinerzeitigen Kaida-Statthalter dort gerichtet hatte, dass dieser sich nämlich mit seiner überbordenden Blutrünstigkeit zurückhalten solle, weil das die lokalen Unterstützer verprelle, auf die Al-Kaida angewiesen sei. Al-Sawahiri sieht Al-Kaida eben gar nicht in erster Linie als Terrororganisation, sondern als Bewegung – und als solche müssen ihre Taten vermittelbar und in sich schlüssig sein, und sollten sich außerdem besser nicht unterschiedslos gegen Zivilisten richten.

Zum zweiten: Al-Sawahiri ist mit Leib und Seele Ägypter, man darf getrost davon ausgehen, dass es stets die Lage in seinem Heimatland ist, die ihn am meisten umtreibt. Und unter diesem Aspekt ergibt sein Richtlinien-Papier noch einmal besonderen Sinn. In Ägypten nämlich, wo das Militär den von den Muslimbrüdern gestellten Präsidenten abgesetzt hat, stehen die radikalen Ränder der Muslimbrüder gerade vor der Frage, wie sie auf diesen Putsch reagieren sollen. Al-Sawahiri will jene einfangen, die mit den vormaligen, eher zivilen Taktiken und Methoden der Brüder nichts mehr anfangen können, denen Al-Kaida aber zu mörderisch erscheint. Eine geschminkte, politischere, von Regeln der Kriegsführung bestimmte Al-Kaida könnte aber als Auffangbecken für junge, radikalisierte Muslimbrüder interessant sein.

Al-Sawahiri will ideologische Reinheit

Al-Sawahiri spricht niemandem, der kämpfen will, ob in Syrien oder gegen das chinesische Regime, das Recht dazu ab; er verlangt lediglich die Einhaltung gewisser Regeln und die ständige Rückführung der Aktivitäten auf die große Al-Kaida-Erzählung vom Angriff der Kreuzfahrer auf die islamische Welt. Im Grunde handelt es sich um den Versuch, eine gewisse ideologische Reinheit wiederherzustellen, die zuletzt kaum mehr erkennbar war.

Die Anhänger Al-Kaidas reagieren freundlich auf die neuen Maßgaben; alles, was Al-Kaida als wichtigen Faktor mit einhelliger Botschaft erscheinen lässt, ist ihnen recht. Zumal al-Sawahiri ihnen weder den Krieg noch den Terror verbietet – im Gegenteil: Angriffe auf US-Bürger und Israelis erklärt der Al-Kaida-Chef für stets zulässig und gewünscht.

Eine andere Frage ist, ob jene Kämpfer im Namen Al-Kaidas, die besonders mörderisch vorgehen, sich an die Regeln halten wollen oder werden – also jene, die im Irak gegen Schiiten wüten oder in Syrien zum Beispiel Christen niedermetzeln, nur weil sie Christen sind. Die Chancen stehen freilich nicht so gut; schon al-Sarkawi reagierte seinerzeit nicht auf al-Sawahiris Kritik.

Für Kaida-Anhänger ist die Botschaft aus der Zentrale dennoch wichtig: Al-Sawahiri gilt bislang als eher blasser Nachfolger Bin Ladens mit wenig Anstößen, gar keinem Charisma und schwachen Antworten. Jetzt hat er erstmals eine Art Programm vorgelegt. Es könnte sein, dass die Erklärung seine Position festigt.

 

Deutscher Dschihadist und Ex-Rapper meldet sich aus Syrien

Screenshot aus dem Video von "Abu Talha al-Almani" alias Denis Cuspert
Screenshot aus dem Video von „Abu Talha al-Almani“ alias Denis Cuspert

Ich hab‘ es nicht so mit Apokalypse-Blockbustern, aber wenn mich nicht alles täuscht, dann sind es vor allem Bilder aus dem Hollywood-Film 2012, mit denen der Mann, der sich „Abu Talha al-Almani“ nennt, sein neuestes Kampflied unterlegt hat. Brücken stürzen ein, Züge fliegen durch die Luft, Hochhausschluchten explodieren, und „Abu Talha“ näselt dazu: „Hörst du nicht, was die Engel sagen?“

„Abu Talha“, das muss man dabei natürlich wissen, ist der gebürtige Berliner und Ex-Gangsta-Rapper Denis Cuspert alias Deso Dogg und nun, nach seiner Verwandlung in einen militanten Islamisten, eben alias „Abu Talha al-Almani“. Cuspert ist seit Jahren in einschlägigsten radikalen Kreisen unterwegs, seit einiger Zeit hält er sich, das ist bereits bekannt, in Syrien auf. Mutmaßlich, um dort am Bürgerkrieg an der Seite dschihadistischer Kämpfer mitzuwirken.

Vor Kurzem veröffentlichte er bereits ein kurzes Video aus Syrien, wo er an einem Wasserfall stand und erklärte, wie glücklich er sei. In dem nun veröffentlichten 11-Minuten-Video grüßt er „vom Boden der Ehre“ – das ist Dschihadistensprech für „vom Schlachtfeld“.

Warnung vor der Höllenstrafe für alle Ungläubigen

Cuspert stammt aus dem Umfeld des österreichischen Hasspredigers Mohammed Mahmoud, der in Österreich eine Haftstrafe wegen Terrorismus absaß, zuvor die Kaida-nahe Globale Islamische Medienfront gegründet hatte und danach den mittlerweile in Deutschland verbotenen Verein Millatu Ibrahim. Im April 2012 wurde seine Ausweisung aus Deutschland verfügt, der er mit einer Ausreise nach Ägypten zuvorkam. Etliche Gesinnungsgenossen, darunter Cuspert, schlossen sich ihm an. Von Ägypten aus versuchten einige von ihnen zeitweise offenbar, nach Mali und/oder Libyen zu reisen. Mahmoud selbst wurde vor einigen Monaten an der türkisch-syrischen Grenze verhaftet und sitzt seitdem in der Türkei im Gefängnis, angeblich unter recht kommoden Umständen.

Es wird vermutet, dass Mahmoud nach Syrien einreisen wollte – etwas, das Cuspert augenscheinlich gelang. In dem Video schreibt Cuspert im Untertitel, es grüßten „Eure Geschwister von Millatu Ibrahi“, ein Hinweis darauf, dass er nicht allein dort ist, sondern vermutlich in Gesellschaft anderer Dschihadisten aus Deutschland.

Welcher Gruppe sie sich dort angeschlossen haben, ist einstweilen ungewiss. Auch ob sie tatsächlich kämpfen, ist nicht bekannt. Der Song, den Cuspert veröffentlicht hat, ist in dieser Hinsicht (und musikalisch, würde ich mal sagen) wenig bedeutsam. In dem religiös inspirierten Lied, einem sogenannten Nascheed, warnt er lediglich vor der Höllenstrafe für alle Ungläubigen. Am Ende bekennt er, der Film Nach dem Tod habe ihn inspiriert. Vielleicht kennt jemand diesen Film, ich habe ihn auf die Schnelle nicht eindeutig identifizieren können.

Deutsche Szene radikaler Islamisten als Adressat

Cuspert gehört zu jener Kategorie deutscher Syrien-Kämpfern, die den Sicherheitsbehörden Sorgen bereiten. Das Umfeld von Mahmoud ist extrem radikal, drohte mehrfach auch mit Terror. Dass es ihnen nicht allein um den Sturz des syrischen Regimes geht, liegt auf der Hand. In diesem Zusammenhang sind Propaganda-Videos, wie das nun veröffentlichte, dann auch doch nicht völlig belanglos. Cuspert hat durchaus Anhänger und einen Ruf in der hiesigen Szene radikaler Islamisten.

Der gesamte Vorgang erinnert an die Jahre 2009 und 2010, als plötzlich ähnliche (na ja, professionellere und wortlastigere, aber nicht unähnliche) Videos deutscher Dschihadisten aus Wasiristan im pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet auftauchten. Dafür zeichnen sich bis heute vor allem die beiden Brüder Yassin und Munir C. aus Bonn verantwortlich, die sich der Islamischen Bewegung Usbekistans angeschlossen haben und unter anderem zum Mord an Mitgliedern islamfeindlicher Parteien in Deutschland aufriefen.

Deshalb glaube ich auch, dass „Abu Talha“ künftig noch mehr Videos veröffentlichen wird. Außer natürlich, die Situation auf dem Schlachtfeld lässt das nicht zu. Wir werden sehen.

Anmerkung: Ursprünglich hatte ich das Wort Nasheed mit ‚Kampflied‘ übersetzt; nach dem zutreffenden Leserhinweis, dass es sich bei Anasheed (so der Plural) keineswegs nur um Lieder über den Kampf handelt, habe ich die Stelle entsprechend geändert. Wichtig ist: Anasheed werden stets ohne Instrumente (einige halten allerdings Handtrommeln für akzeptabel) gesungen und kreisen um religiöse Themen. In dschihadistischen Anasheed geht es hingegen bervorzugt um den Kampf, den Krieg und das Märtyrertum.

 

Dschihadisten in Syrien fürchten US-Angriff

Die Anzeichen verdichten sich, dass die USA, womöglich gemeinsam mit Großbritannien und anderen Staaten, in den kommenden Tagen Einrichtungen des syrischen Regimes bombardieren werden. Es wäre die erwartete Reaktion auf den tödlichen Giftgasangriff vom vergangenen Mittwoch, der mutmaßlich von Assads Armee ausgegangen war.

Doch in Syrien kämpfende Dschihadisten glauben nicht, dass die USA nur Regierungsziele angreifen würden. Sie befürchten vielmehr, dass die Amerikaner versuchen könnten, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen – und ein paar der Raketen auch auf ihre Stellungen abfeuern. In Syrien kämpfen inzwischen Tausende Islamisten gegen das Assad-Regime – und gegen rivalisierende Rebellengruppen.

In dschihadistischen Internetforen und vor allem auf Twitter kursieren nun jedenfalls Warnungen vor einem möglichen US-Angriff. So wird zum Beispiel unter Dschihadisten und ihren Sympathisanten die Vermutung eines arabischen Journalisten weiterverbreitet, derzufolge das Hauptmotiv der internationalen Gemeinschaft bei Luftschlägen eher die Schwächung der dschihadistischen Gruppen als des Assad-Regimes sein würde.

Ein eher persönlich gehaltenes Schreiben eines Dschihadisten, der (relativ glaubhaft übrigens) versichert, er halte sich in Syrien auf, macht ebenfalls die Runde: „Brüder, eine ernsthafte Angelegenheit“, schreibt er an seine Gesinnungsgenossen und mahnt: „Für jede Rakete, die das Regime trifft, wird eine zweite auf die Mudschahidin gerichtet sein … Die Amerikaner werden so viele Anführer beider Seiten wie möglich töten.“ Es sei nun an der Zeit, den Aufenthaltsort zu wechseln, nur ohne Ankündigung im Land zu reisen, und sich von den Anführern fernzuhalten. Falls es Notfallpläne gäbe, sei jetzt die Zeit, sie zu aktivieren. Größere Mengen Essen und Medikamente gelte es nun, aus den Basen zu räumen. Besonders dramatisch der Hinweis, dass Flugabwehrraketen gegen die mutmaßlich zum Einsatz kommenden US-Flugkörper wohl kaum helfen dürften, sondern eher zu einer Art „Arbeitsselbstmord“ führen würden.

Die in den Postings zum Ausdruck kommende Sorge ist natürlich nachvollziehbar, auch wenn es für Angriffe auf Dschihadisten-Gruppen wohl kaum ein Mandat geben wird. Gleichwohl sind die Reaktionen interessant, weil die möglichen Luftschläge der Amerikaner diesmal eben nicht bejubelt werden. Dies ist sonst, so kurios es klingt, üblich und hat damit zu tun, dass Dschihadisten für gewöhnlich instinktiv davon ausgehen, dass Angriffe von westlichen Mächten, in welcher Form auch immer, ihnen Sympathisanten zuspielen.

Eine andere Theorie, dass nämlich das Giftgas in Wahrheit von Aufständischen oder Dschihadisten eingesetzt wurde, eben um eine militärische Reaktion des Auslandes in Gang zu setzen, wird derweil in dschihadistischen Internet-User-Kreisen wenig diskutiert.

Allerdings muss ich anstandshalber ergänzen, dass mein Einblick im Moment etwas getrübt ist: Einige der entscheidenden dschihadistischen Internetforen, wo die maßgebliche Debatten sonst stattfinden, sind derzeit inaktiv.