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Dreißig Minuten für ein zerstörtes Leben

 

Ein Spätsommertag im argentinischen März dieses Jahres, ich bin wieder einmal im Bundesgericht in Buenos Aires, nahe dem Bahnhof Retiro und dem Containerhafen am Río de la Plata. Täglich finden hier mehrere mündliche Verhandlungen über die Verbrechen der argentinischen Militärdiktatur statt. In einem Saal läuft bereits seit zwei Jahren das Großverfahren gegen hohe Militärs wegen der Operation Condor, wie die von den USA unterstützte, länderübergreifende Verfolgung von Regimegegnern in den siebziger Jahren hieß, als im gesamten südlichen Amerika Militärdiktaturen herrschten. In dem aktuellen Prozess geht es um 106 Fälle von Verschleppung und Mord, ein Großteil der Opfer stammt aus Uruguay. Wenige Flure weiter steht das geheime Haft-und Folterlager El Vesubio im Mittelpunkt, in dem im Sommer 1977 auch die Deutsche Elisabeth Käsemann malträtiert wurde.

In einem anderen Saal läuft das weltweit größte Strafverfahren wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit: der Prozess um das Folterzentrum ESMA der Marine. Ich bin heute hier, weil meine Mandantin, die deutsche Staatsbürgerin Betina Ruth Ehrenhaus, als Zeugin und Nebenklägerin aussagen wird. Sie und ihr damaliger Lebensgefährte Pablo Lepiscopo wurden am 5. August 1979 entführt und in der ESMA inhaftiert. Betina, damals eine zwanzigjährige Militante, kam mit dem Leben davon.

Im Zeitraffer hakt sie die Leidensstationen ab: Grillen bei den Schwiegereltern, auf dem Rückweg von drei Autos angehalten und von einem Dutzend bewaffneter Männer in ein Auto gezerrt, Kapuze über den Kopf und dann zur ESMA gebracht, wo im Laufe der Diktatur von 1976 bis 1983 geschätzte 5.000 Menschen umgebracht wurden. Mit der Kapuze sieht sie nicht sehr viel, hört aber die startenden und landenden Flugzeuge, mit denen ein Teil der Häftlinge über dem Rio de la Plata abgeworfen wird, es riecht nach verbranntem Fleisch, sie bekommt nichts zu essen und darf wegen der erlittenen Elektrofolter nichts trinken. Nach wenigen Tagen ist sie wieder draußen. Anders als ihr Lebensgefährte, der bis heute verschwunden bleibt.

Eine Geschichte über eines, über viele zerstörte Leben, abgehandelt in weniger als 30 Minuten; die gelangweilten Verteidiger der Militärs stellen erst gar keine Fragen, alles läuft mit der für Außenstehende manchmal erschreckenden, andererseits aber beruhigenden Routine eines Strafprozesses ab – eines von Dutzenden im ganzen Land. Fast 500 Personen, unter ihnen höchste Militärs und Polizisten, sind in der Regierungszeit des Präsidentenehepaars Kirchner in den letzten zehn Jahren bisher verurteilt worden.

Nur in der Verhandlungspause wird es einmal unruhig, als gepanzerte Wagen im Hof des Gerichtsgebäudes halten, bewaffnete Robocops herausspringen und kurz darauf einen gefesselten Mann mit kugelsicherer Weste in einen der Wagen führen, ein kolumbianischer Drogendealer, wird mir auf meine Frage zugeraunt.

Betina Ehrenhaus, außerhalb des Gerichtssaales eine sehr selbstbewusste Tangosängerin, ist wie vielen Opferzeugen die enorme Spannung anzumerken. Dennoch nutzt sie in ihren abschließenden Worten die Gelegenheit, das damalige Verhalten der Deutschen Botschaft in Buenos Aires zu kritisieren: Im Kampf um die Freilassung ihres Lebensgefährten habe sie sich wie viele andere auch von den Diplomaten im Stich gelassen gefühlt, es habe sogar ein argentinischer Geheimdienstoffizier mit dem Decknamen Major Peirano in den Räumen der Botschaft die Familienangehörigen der deutschen Verschwundenen verhören dürfen. Das Botschaftspersonal ist nicht eingeschritten.

Der Strafprozess wird wahrscheinlich noch dieses Jahr beendet werden, das Urteil wird – wenn keine Überraschungen erfolgen – ähnlich lauten wie bereits viele Urteile gegen hohe Militärs: hohe, wenn nicht lebenslange Freiheitsstrafen. Das ist das Mindeste, was Diktaturopfer wie Betina Ehrenhaus erwarten. Denn die erhoffte Aufklärung über das Schicksal des verschwundenen Pablo Lepiscopo blieb bisher aus.

Wolfgang Kaleck ist Berliner Rechtsanwalt und Generalsekretär des European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR). Kaleck hat sich in den vergangenen Jahren mit Menschenrechtsverletzungen in Argentinien bis Abu Ghraib und Kolumbien bis Philippinen beschäftigt; aktuell ist der NSA-Whistleblower Edward Snowden einer seiner Mandanten.