Lesezeichen
‹ Alle Einträge

Colonia Dignidad – ein Skandal, der seiner Aufklärung harrt

 

Ab heute wird der Spielfilm Colonia Dignidad – Es gibt kein Zurück in den Kinos gezeigt. Er handelt von der gleichnamigen deutschen Sekte, die über Jahrzehnte in Chile systematisch deutsche und chilenische Kinder vergewaltigte und während der Pinochet-Diktatur Regimegegner auf dem eigenen Gelände foltern und „verschwinden“ ließ.

Der Film hat schon jetzt eines erreicht: Er lenkt die Aufmerksamkeit auf einen der größten Skandale der alten BRD, einen Skandal, der bis heute nicht vollständig aufgeklärt ist und dessen Folgen nicht beseitigt sind.

Spätestens seit dem Mauerfall 1989 wird die Geschichte der alten BRD als eine durchgängig erfolgreiche Entwicklung zu einer funktionierenden Demokratie erzählt. Dunkle Flecken wie die zentrale Mitwirkung ehemaliger Nazieliten am Aufbau der Bundesrepublik oder die Ignoranz der bundesdeutschen Justiz gegenüber den Naziverbrechen kommen in diesem Narrativ, jedenfalls in einer größeren Öffentlichkeit, nicht vor. Genauso verhält es sich mit den zahlreichen Verbrechen, die der gesamte Westen und seine Bündnispartner in den kolonialen Befreiungskämpfen und in vielen kriegerischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen in Lateinamerika, Afrika und Asien begangen haben. Es herrschte der Kalte Krieg und die Bekämpfung des Kommunismus rechtfertigte praktisch alle Mittel.

Insofern passen die Zusammenarbeit exilierter Deutscher in Chile mit dem verbrecherischen Pinochet-Regime unter stillschweigender Duldung, und teilweiser Beteiligung, deutscher Diplomatie, der Geheimdienste und politischer Parteien wie der CSU und der ihr nahe stehenden Hanns-Seidel-Stiftung ins Bild.

Doch als mich neulich ein befreundeter Journalist fragte, wie ich mir die jahrzehntelange Straflosigkeit der verbrecherischen Sekte nicht nur in Chile, sondern auch in Deutschland erklären könne, war ich am Ende meines Lateins; in der Tat frage ich mich das seit Langem selber.

Bereits 1961, als der Sektengründer Paul Schäfer von Deutschland nach Chile auswanderte, gab es erste Strafverfahren wegen Vergewaltigung von Minderjährigen gegen ihn in Deutschland. Auf dem abgeschirmten riesigen Gelände der Colonia Dignidad im Süden Chiles konnten Schäfer und seine Getreuen dann in den folgenden Jahrzehnten Generationen von Kindern aus der Kolonie und chilenischen Jungen aus der Nachbarschaft quälen, missbrauchen und vergewaltigen – und zwar weitestgehend unbehelligt von der chilenischen und deutschen Justiz.

Wirklich überzeugende Erklärungen für die Nichtaufklärung dieser und anderer Verbrechen gibt es nicht. Jahrzehntelang konnten die Anführer der Colonia, wie Hartmut Hopp, seines Zeichens rechte Hand von Schäfer und Sektenarzt, als Repräsentanten der Colonia in Deutschland ein- und ausreisen. Es gab weder internationale Haftbefehle noch sonstige Versuche, ihrer habhaft zu werden.

Dies änderte sich erst, als sich die chilenische Justiz in den 2000er Jahren, ausgelöst durch eine gesellschaftliche Öffnung und die Verhaftung Pinochets 1998 in London, umfassend mit den während der Diktatur begangenen Verbrechen befasste. Schäfer wurde inhaftiert und verurteilt, starb allerdings kurz danach. Andere Täter konnten ebenfalls verurteilt werden und verbüß(t)en ihre Strafen in chilenischen Gefängnissen. Hartmut Hopp flüchtete nach Deutschland und lebt seit 2011 in Krefeld. Es bedurfte einer Strafanzeige unseres European Center for Constitutional and Human Rights (wegen Beihilfe zum schweren sexuellen Missbrauch von Kindern und Beihilfe zum Mord an drei Regimegegnern), bis überhaupt ein Ermittlungsverfahren eingeleitet und erste Untersuchungen durchgeführt wurden. Dies war immerhin mehr, als die in den 70er, 80er und 90er Jahren zuständige Staatsanwaltschaft Bonn zustande gebracht hatte. Doch das Verfahren zieht sich, bisher wurde weder Anklage erhoben, noch ein Haftbefehl gegen Hopp erlassen.

Nur dem Drängen der chilenischen Justiz ist es zu verdanken, dass die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe gegen Hopp nun wahrscheinlicher wird. Denn nachdem die Chilenen zunächst die verfassungsrechtlich nicht erlaubte Auslieferung von Hopp begehrt hatten, beantragen sie nunmehr, dass ein in Chile gegen ihn gefälltes Urteil wegen Kindesmissbrauchs vollstreckt wird. Natürlich wäre mit einer befürwortenden Entscheidung der Krefelder Justiz der jahrzehntelange Skandal weder aufgeklärt noch dessen Wirkungen beseitigt. Ein längst überfälliger Schritt in die richtige Richtung wäre sie allerdings schon.