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Lieber gegen Journalisten als gegen Waffenhändler

„Warum braucht ein Staatsanwalt einerseits fünfeinhalb Jahre, um Anklage gegen ein Rüstungsunternehmen zu erheben, und versucht andererseits, innerhalb kürzester Zeit mit enormem Aufwand ein Strafverfahren wegen eines Filmes herbeizuziehen?“ – diese Frage stellt zu Recht der Anwalt des Rüstungsforschers und Friedensaktivisten Jürgen Grässlin, der gemeinsam mit anderen in der preisgekrönten Dokumentation Meister des Todes die illegale Ausfuhr von Heckler-&-Koch-Sturmgewehren nach Mexiko aufdeckte.

Anfang dieser Woche machte Reporter ohne Grenzen anlässlich des Tages der Pressefreiheit auf deren beklagenswerten Zustand in vielen Teilen der Welt aufmerksam. Auf einer Weltkarte, die die Freiheit der Presse in aller Welt illustriert, ist Deutschland neben den skandinavischen Ländern als einer der wenigen Staaten gekennzeichnet, denen eine gute Lage der Pressefreiheit attestiert wird.

Dies mag relativ gesehen zu Ländern wie Afghanistan, Irak, Russland und Mexiko, in denen investigative JournalistInnen um Leib und Leben fürchten müssen, der Fall sein. Auch gegenüber der Türkei und Ungarn heben sich deutsche Verhältnisse wohltuend ab. Dennoch ist auch der deutsche Staat gegen den Virus der Repression gegen unliebsame Berichterstatter nicht immun. Immer wieder kommt es zu Einschüchterungsversuchen, insbesondere in den als sensibel erachteten Bereichen von sogenannter innerer und äußerer Sicherheit. Davon zeugt das Ermittlungsverfahren wegen Landesverrats im Zusammenhang mit netzpolitik.org von letztem Sommer, ebenso wie die nicht ganz so bekannt gewordenen Versuche, gegen Journalisten der Süddeutschen Zeitung wegen ähnlicher Vorgänge zu ermitteln.

Und jetzt der Auftritt der Staatsanwaltschaft München im Zusammenhang mit den Enthüllungen zu Heckler & Kochs Exportpraxis. Die Aufnahme der Ermittlungen gegen die Filmemacher mutet, gelinde gesagt, absurd an. Denn die Strafverfolger wenden den höchst umstrittenen Paragrafen 353d Nr. 3 des Strafgesetzbuches an, nach dem die Veröffentlichung von Anklageschrift oder anderen amtlichen Schriftstücken eines Verfahrens unter Strafe gestellt ist. Diese immer wieder kritisierte Vorschrift auf genau diejenigen Rechercheure anzuwenden, die ihrerseits über Jahre hinweg versucht haben, mit eigenen Untersuchungen die Staatsanwaltschaft Stuttgart dazu zu bewegen, gegen die Waffenhändler von Heckler & Koch tätig zu werden, ist nichts anderes als ein billiger Versuch der Einschüchterung von aufrechten Journalisten.

Wolf-Dieter Vogel, gegen den in München ermittelt wird, lieferte mit seinen Recherchen weitere Vorwürfe gegen die Waffendealer. Er hat in Mexiko herausgefunden, dass die Heckler-&-Koch-Sturmgewehre nicht nur an den korrupten und gewalttätigen mexikanischen Polizeiapparat geliefert, sondern – Überraschung, Überraschung – auch eingesetzt wurden. Dies soll beim schlimmsten mexikanischen Massaker der jüngsten Zeit, das an den 43 Studenten von Ayotzinapa im September 2014, der Fall gewesen sein. Niemanden verwundert es, dass die Staatsanwaltschaft Stuttgart diesen Hinweisen bisher nicht nachgeht, denn wie das Münchner Ermittlungsverfahren wegen Paragraf 353d Nr. 3 eindringlich belegt, tun sich deutsche Staatsanwaltschaften traditionell einfacher damit, politisch missliebige Journalisten, denn ehrwürdige Unternehmer, die Waffen verkaufen, anzugehen.

PS: In unserem Nachbarland Luxemburg, dem ebenfalls eine gute Lage der Pressefreiheit bescheinigt wird, stehen im sogenannten Lux-Leaks-Prozess nicht nur die beiden Whistleblower Antoine Deltour und Raphaël Halet, sondern auch der Journalist Edouard Perrin vor Gericht. Grund dafür ist, dass sie Dokumente veröffentlicht haben, welche die von Luxemburg aus geplante sogenannte Steuer-„Optimierung“ dokumentieren, bei der die anderen EU-Staaten geschätzte 65 bis 70 Milliarden Euro an Steuereinnahmen jährlich verlieren. Auf dem ganzen Kontinent wird die Belastung durch Flüchtlinge beklagt, doch diejenigen, die unseren Gesellschaften wirklich schwer und nachhaltig schaden, wird das Handwerk nicht gelegt.

Wolfgang Kaleck ist Berliner Rechtsanwalt und Generalsekretär des European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR). Kaleck hat sich in den vergangenen Jahren mit Menschenrechtsverletzungen in Argentinien bis Abu Ghraib und Kolumbien bis zu den Philippinen beschäftigt; aktuell ist der NSA-Whistleblower Edward Snowden einer seiner Mandanten.

 

Nicht nur gegen die Schwächeren

In vielen Ländern geht es heiß her, wenn über das internationale Strafrecht diskutiert wird. Heftig gestritten wird vor allem dort, wo es um die juristische Aufarbeitung von Verbrechen im eigenen Land geht, wie im ehemaligen Jugoslawien, in Argentinien oder Kolumbien; aber auch dort, wo Gerichte sich mit Völkerstraftaten auseinandersetzen müssen, die sich anderswo ereignet haben – wie im vergangenen Jahr in Südafrika, als dort der per Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofes gesuchte sudanesische Präsident Omar al-Baschir zu Besuch war. Oder auch in den vergangenen Jahren in Spanien, wo die konservative Regierung mehrfach Gesetze erlassen hat, um die Zuständigkeit der spanischen Justiz für Morde in Tibet oder Folter im US-Gefangenenlager Guantanamo oder Lateinamerika zu beschränken. Damit schaffte die Regierung in Madrid die in Spanien bisher sehr erfolgreiche Praxis der Universellen Jurisdiktion de facto ab.

Dieser Grundsatz, auch Weltrechtsprinzip genannt, ermöglicht es der nationalen Justiz dritter Staaten, in Fällen von Folter, Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit auch dann tätig zu werden, wenn kein Bezug zum eigenen Staatsgebiet oder kein Staatsbürger auf Seiten der Täter oder Opfer zu finden ist.

Vor diesem Hintergrund ist es zunächst wohltuend, dass in Deutschland das Völkerstrafgesetzbuch, in dem dieses Prinzip verankert ist, nicht nur seit 2002 gilt, sondern derzeit von praktisch niemandem infrage gestellt wird. Eine Sachverständigenanhörung vor dem Rechtsausschuss des Bundestages zu Beginn dieser Woche verlief entsprechend unspektakulär. Abgeordnete und juristische Experten zogen eine Zwischenbilanz des Völkerstrafrechtes in der Praxis. Im Fokus stand die sehr aufwändige jahrelange Hauptverhandlung vor dem Stuttgarter Oberlandesgericht, bei der im September 2015 schließlich zwei von Deutschland aus tätige Anführer der exilruandischen FDLR-Miliz wegen der Beteiligung an Verbrechen im Osten der Demokratischen Republik Kongo verurteilt wurden. Weiter„Nicht nur gegen die Schwächeren“

 

Das Auswärtige Amt und die Diktaturen

Spät, aber immerhin: Außenminister Frank-Walter Steinmeier will sich kommende Woche zum Verhalten seines Amtes gegenüber der Verbrecherkolonie Colonia Dignidad erklären. In der deutschen Sektensiedlung, ein riesiges Gelände im Süden Chiles, ließ ihr Gründer und Leiter Paul Schäfer seit 1961 Bewohner unter Drogen setzen, vergewaltigte Kinder der Siedlung und aus den Nachbardörfern. Ab 1973 unterhielt die Colonia in Kollaboration mit der Pinochet-Diktatur ein Foltergefängnis für Regimegegner.

Die Ankündigung Steinmeiers weckt große Erwartungen, hat das Außenministerium doch 2010 mit dem historischen Grundlagenwerk Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik hohe Standards gesetzt. Auf Betreiben des damaligen Außenministers Joschka Fischer untersuchte eine Kommission von Wissenschaftlern nicht nur die Rolle des Auswärtigen Amtes im nationalsozialistischen Machtsystem, sondern auch die personellen und ideologischen Kontinuitäten in der frühen Bundesrepublik. Schon damals hätte ich mir ein kleines Kapitel als Postskriptum gewünscht: die deutsche Diplomatie während der argentinischen und der chilenischen Militärdiktatur. Weiter„Das Auswärtige Amt und die Diktaturen“

 

Noch nicht die ganze Wahrheit, aber sehr wahrhaftig – die Filmtrilogie über den NSU-Komplex

Am Wochenende habe ich sie mir dann doch angeschaut, die ARD-Filmtrilogie „Mitten in Deutschland: NSU“ – und war am Ende beeindruckt, dass es Derartiges im öffentlich-rechtlichen Fernsehen gibt. Denn jeder der drei Spielfilme beleuchtet wichtige Themen und Positionen nicht nur zum NSU-Komplex, sondern auch zum Verständnis der heutigen deutschen und europäischen Realität: offen zur Schau getragener Fremdenhass allenthalben; Parteien, die fast ausschließlich von Rassismus zehren, und Hunderte von Anschlägen auf Unterkünfte von Geflüchteten alleine in den vergangenen Monaten. Weiter„Noch nicht die ganze Wahrheit, aber sehr wahrhaftig – die Filmtrilogie über den NSU-Komplex“

 

Wer Kolumbiens Frauen hilft – und wer nicht

Seit es dieses Blog gibt, war geplant, Kollegen, denen ich viel Inspiration und Motivation verdanke, ebenfalls zu Wort kommen zu lassen. Heute schreibt Andreas Schüller. Er leitet den Bereich Völkerstraftaten und rechtliche Verantwortung des European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) und arbeitet unter anderem zu sexualisierter Gewalt gegen Frauen im kolumbianischen Konflikt.

Der große Saal im Planetarium von Bogotá, Kolumbien: Kurz vor Ostern stellte hier die Arbeitsgruppe von Organisationen zur Beobachtung der Umsetzung der Verfassungsgerichtsurteile zu sexualisierter Gewalt in Kolumbien ihren neuen Bericht vor. Laut ihrer Statistik hat die kolumbianische Justiz in den vergangenen 15 Jahren in nicht einmal drei Prozent der Fälle von Vergewaltigung und sexuellen Übergriffen die Täter verurteilt. Der Saal ist bis auf den letzten Platz gefüllt, weit mehr als 100 Frauen aus allen Teilen des Landes sind gekommen. Die Frauen repräsentieren die Vielfalt, aber auch die Zerrissenheit Kolumbiens. Die Teilnehmerinnen sind teils von weither angereist – indigene und afrokolumbianische Frauen, intern Vertriebene, Frauen und Aktivistinnen aus ländlichen Gegenden, sowie Frauen, die in der Hauptstadt Bogotá vor allem politisch arbeiten.

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Verfluchte Politiker

Seit es dieses Blog gibt, war geplant, Kolleg/innen, denen ich viel Inspiration und Motivation verdanke, ebenfalls zu Wort kommen zu lassen. Heute schreibt Claire Tixeire. Sie leitet das Education Programme des European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR).

Im vergangenen Dezember hat EarthRights International junge Anführer von Gemeinden aus den Mekong Anrainerstaaten zusammen mit einer Delegation der Bertha Foundation zu einer viertägigen Exkursion in den Norden Thailands eingeladen. Unsere Gastgeber waren Dorfbewohner, die jahrzehntelang friedlichen Widerstand gegen den Bau eines Damms geleistet haben, der drohte, sie vom Land ihrer Vorfahren zu vertreiben. Weiter„Verfluchte Politiker“

 

Abschottung, Abschreckung – und Verdrängung

Seit es dieses Blog gibt, war geplant, Kollegen, denen ich viel Inspiration und Motivation verdanke, ebenfalls zu Wort kommen zu lassen. Heute schreibt Julia Duchrow. Sie ist Juristin und leitet das Referat Menschenrechte und Frieden bei Brot für die Welt.

Aus den Augen, aus dem Sinn – so lautet das Motto, nach dem die EU ihre Flüchtlingspolitik organisiert. Trauriger Höhepunkt dessen ist der Türkei-Deal vom 18. März. Ab sofort schicken griechische Behörden alle Migranten, die über die Türkei irregulär nach Griechenland eingereist sind, kein Asyl oder anderen Schutz erhalten oder in türkischen Gewässern abgefangen wurden, in die Türkei zurück. Die Asylgesuche in Griechenland sollen in Schnellverfahren überprüft werden. Weiter„Abschottung, Abschreckung – und Verdrängung“

 

40 Jahre Aufarbeitung sind nicht genug

Vor vierzig Jahren, am 24. März 1976, übernahm in Argentinien eine Militärjunta unter Führung des Generals Jorge Rafael Videla nach einem Putsch auch formal die Macht in dem lateinamerikanischen Staat. Bereits in den Jahren zuvor hatten Videlas Schergen Hunderte von Oppositionellen extralegal hinrichten und foltern lassen. Im Namen des Antikommunismus und der Guerillabekämpfung begann eine der blutigsten Militärdiktaturen des vergangenen Jahrhunderts, die an ihrem Ende 1983 geschätzt 30.000 Menschen ermordet hatte beziehungsweise zwangsweise verschwinden ließ.

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Hochkonjunktur für Strafen aller Art

Die Forderung nach Strafe oder gar nach Gefängnisstrafe hat hierzulande wieder einmal Hochkonjunktur. Ob gegen strafrechtlich auffällig gewordene Migranten oder gegen rechtsradikale Gewalttäter – mehr und mehr politische und journalistische Kommentatoren messen die Ernsthaftigkeit der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit bestimmten Themen daran, ob die Justiz Untersuchungshaft verhängt oder harte Strafen ausspricht. Da werden fleißig alle Klischees bedient – von der generalpräventiven Wirkung von Gefängnisstrafen, gerne auch in Kombination mit einem Malus für Nichtdeutsche („Missbrauch des Gastrechts“).
Selbst unverhältnismäßig hohe Gefängnisstrafen für Ersttäter werden bejubelt – so beispielsweise im Kommentar der langjährigen Gerichtsreporterin des Spiegels im Falle eines Urteils des Amtsgerichts Köln gegen einen neunzehnjährigen aus dem Irak stammenden Sockendieb zu sechs Monaten Freiheitsentzug: „Er hat in Deutschland keine familiären Bindungen, streunt durch die Gegend und geht keiner Arbeit nach. Was spricht dafür, dass er sich künftig an Recht und Gesetz halten wird?“ Und: Die „harte Strafe“ habe nichts mit der „Herkunft des jungen Mannes zu tun“.
So, so…
Wo eine Gesellschaft landen kann, wenn die Strafjustiz zu einer von rassistischen Vorurteilen durchsetzten Klassenjustiz gegen diskriminierte und unterprivilegierte Bevölkerungsteile wird, zeigt sich seit Jahrzehnten in den USA. Wer die Gründe dafür theoretisch nachvollziehen möchte, kann die Artikel und Bücher von Loic Wacquant zur Gefängnisindustrie oder den Klassiker von Otto Kirchheimer und Georg Rusche Sozialstruktur und Strafvollzug lesen. Wer es gerne etwas konkreter und plastischer hat, sollte Bryan Stevenson Ohne Gnade. Polizeigewalt und Justizwillkür in den USA studieren. Der Jurist Stevenson ist nicht nur als Professor in New York akademisch unterwegs, sondern in einer Vielzahl von Projekten beteiligt, unter anderem der Equal Justice Initiative. In seinem neuen Buch geht er nach seinen eigenen Worten „der Frage nach, mit welcher Leichtfertigkeit wir in diesem Land Menschen verurteilen und welches Unrecht wir begehen, wenn wir den Schwächsten unserer Gesellschaft mit Angst, Zorn und Distanz begegnen“.
Es geht nicht darum, einmal mehr mit dem Finger auf die USA zu zeigen oder gar auf noch strafwütigere Länder wie Russland, Vietnam oder China. Vielmehr sollten wir in diesem Fall von den USA lernen – von ihren Fehlern, die Menschen wie Stevenson immer wieder gnadenlos aufdecken. Die Fehler beginnen bereits bei der polizeilichen Untersuchung von Straftaten, die durch Vorurteile und vorschnelle Festlegung auf bestimmte Personen die Aufklärung behindert und unschuldige Menschen enorm schädigt. Aber auch den Fehler, zu glauben, noch mehr und noch härtere Strafen würden bei der Bekämpfung gesellschaftlicher Probleme helfen. Stevenson erzählt vor allem Geschichten aus seinem Kampf gegen die Todesstrafe – etwa den Fall von Walter McMillian aus Alabama, den er als junger Anwalt vertreten und später bis zu dessen Tod begleitet hat. McMillian wurde 1988 wegen des Mordes an einer Frau zum Tode verurteilt, obwohl er ein Alibi nachweisen konnte, er war zur Tatzeit auf einem Grillfest. Nach jahrelangem Kampf seiner Angehörigen und Anwälte wurde er 1993 schließlich entlassen, 2013 starb er verarmt und geistig verwirrt. Der berührende Fall eines Einzelnen. Doch Stevenson belegt mit weiteren Beispielen aus seiner verdienstvollen Arbeit: McMillian ist mitnichten ein Einzelfall.