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Vishy Anand mag es nicht so wild

 

Vishy Anand, hier beim Turnier in London gegen Michael Adams (Foto: Carl Court/Getty Images)
Vishy Anand, hier beim Turnier in London gegen Michael Adams (Foto: Carl Court/Getty Images)

Das Tradewise Chess Festival in Gibraltar, das Anfang Februar zu Ende ging, hatte alles, was ein Schachturnier braucht: ein starkes Teilnehmerfeld, eine gute Organisation, hohe Preise und ein vielfältiges Rahmenprogramm.

Doch so richtig freuen konnte sich der Ex-Weltmeister Viswanathan Anand aus Indien darüber nicht. Er spielte nicht gut. Mit einer Ratingzahl von 2784 startete er als Nummer drei der Setzliste, landete aber mit 6,5 Punkten aus 10 Partien am Ende nur im oberen Mittelfeld. Dabei lieferte er eine Ratingperformance von 2541 Punkten ab, womit Anand die Nummer 27 der deutschen Rangliste wäre. Dabei gehört der Inder seit über einem Vierteljahrhundert zur absoluten Weltspitze, von 2007 bis 2013 war er Schachweltmeister, 2013 und 2014 spielte er gegen Magnus Carlsen um die Weltmeisterschaft – und jetzt so etwas. Was ist da passiert?

Es war wohl die Natur des Turniers, die für Anand zum Problem wurde. In Gibraltar handelte es sich um ein sogenanntes offenes Turnier. Das letzte Mal, dass Anand so ein Turnier gespielt hat, war 1986, seitdem standen für ihn nur Rundenturniere und Wettkämpfe auf dem Programm. Aber in offenen Turnieren weht ein anderer Wind – und der ist oft rauer.

In Rundenturnieren spielt jeder gegen jeden, meistens treten sechs, zehn oder zwölf Teilnehmer gegeneinander an, da kann man sich auf jeden Gegner einstellen. Bei den Turnieren der Besten ist die Weltelite oft unter sich, jeder weiß, welche Eröffnungen die Gegner gerne spielen, man kennt ihre Stärken und Schwächen, schließlich hat man schon oft gegeneinander gespielt. In Rundenturnieren ist es wichtig, nicht zu verlieren, entsprechend vorsichtig taktieren die Teilnehmer. Mit Weiß gewinnen, mit Schwarz Remis spielen, die Schwächeren schlagen, gegen die Stärkeren Remis spielen, so das Erfolgsrezept. Ab und zu ein kurzes Remis schont die Nerven und spart Kraft.

In offenen Turnieren funktioniert das nicht. Dort gehen Hunderte von Teilnehmern jeder Spielstärke an den Start, in Gibraltar waren es über 250. Wer in so einem Feld gewinnen will, darf sich nicht viele Patzer erlauben. In Gibraltar teilten sich der Amerikaner Hikaru Nakamura und der Franzose Maxime Vachier-Lagrave den ersten Platz, beide hatten am Ende 8 Punkte aus 10 Partien, sechs Siege, vier Remis. Hinter dem Duo an der Spitze folgten sechs Spieler mit je 7,5 Punkten.

Wer in offenen Turnieren oben mitspielen will, der darf nicht vorsichtig taktieren, sondern muss mit Weiß und mit Schwarz auf Gewinn spielen. Deshalb haben Open-Spezialisten ein ganz anderes Eröffnungsrepertoire als Spieler, die vor allem geschlossene Turniere spielen. Sie spielen Eröffnungen, die riskanter sind, aber auch mehr Chancen bieten. In offenen Turnieren führt das oft zum Erfolg, denn viele Gegner können die Nachteile solcher Eröffnungen nicht ausnutzen. Doch in den Rundenturnieren der Weltspitze bekommen Spieler mit dieser Eröffnungsstrategie regelmäßig Probleme: Sie verlieren zu oft und gewinnen zu selten, im Open ist es umgekehrt.

Eine Schachlegende wie Anand hat in offenen Turnieren noch ein zusätzliches Problem: Für fast jeden Gegner ist eine Partie gegen ihn etwas Besonderes, ein Höhepunkt der eigenen Schachlaufbahn. Entsprechend motiviert spielen sie, um mit einem Remis oder sogar einem Sieg für eine kleine Sensation zu sorgen und ein wenig Schachgeschichte zu schreiben.

Damit nicht genug. Ein Spieler wie Anand hat in fast allen Partien die Favoritenrolle. Er muss gewinnen, auf ihm ruht die Beweislast, der Außenseiter hat nichts zu verlieren. Entsprechend verkrampft wirkte Anand in Gibraltar in einigen Partien. Besonders deutlich wurde das bei seiner Niederlage gegen den Franzosen Adrien Demuth in Runde fünf. Anand hatte Weiß und versuchte mit aller Kraft zu gewinnen. Das aber gab die Stellung nicht her und auf der Suche nach einem Sieg verlor Anand am Ende sogar noch.

Aus all diesen Gründen scheuen Top-Spieler, wenn sie es sich leisten können, das Risiko offener Turniere. Schon eine kleine Formschwäche kann viele Ranglistenpunkte und damit viel Geld kosten. Das ist schade. Für die Spitzenspieler mag das raue Klima der offenen Turniere gefährlich sein, aber für Schachfans bedeutet es frischen Wind. Nicht nur, weil das Duell Außenseiter gegen Favorit eigentlich immer reizvoll ist, sondern auch, weil Abwechslung ins Schachleben kommt und man nicht immer die gleichen Spieler gegeneinander spielen sieht. Außerdem zeigen die Spitzenspieler bei ihren Siegen oft, warum sie so gut sind, was sie besser können als die schwächeren Spieler. Immerhin hat Anand, auch wenn er in Gibraltar kein gutes Turnier gespielt hat, fünf schöne und interessante Partien gewonnen.

Schon bald kehrt Anand wieder in die vertraute Umgebung der Rundenturniere zurück. Mitte März steht in Moskau das Kandidatenturnier auf dem Programm, bei dem ermittelt wird, wer im Herbst 2016 gegen Magnus Carlsen um die Weltmeisterschaft spielen darf. Acht Teilnehmer, jeder gegen jeden, doppelrundig – das sind vierzehn Partien gegen die absolute Weltspitze. Gut möglich, dass Anand dort weniger Partien verliert als in Gibraltar – und weniger gewinnt.