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Der Nationalismus – ein Wahngebilde

 

Nicht nur im organisierten Rechtsextremismus, auch im rechtskonservativen Denken spielt die Ideologie des Nationalismus eine zentrale Rolle. Es geht dabei um die Vorstellung, dass die Nation ein metahistorisches Gebilde darstelle, das zur Entfaltung einer bestimmten, abgrenzbaren menschlichen Gemeinschaft unbedingt notwendig sei. Die Durchsetzung und Verteidigung der Nation habe so Vorrang gegenüber individuellen Bedürfnissen, Interessen und Ansichten – denn nur die starke Nation, und nur sie, könne denjenigen, die zu ihr gehören, eine lebenswerte Zukunft gewährleisten. Die Nation wird in dieser Logik zu einem nicht hinterfragbaren und nicht relativierbaren Wert an sich. Im nationalistischen Denken wird somit dem Individualismus, jeglichem Eigeninteresse und jeglicher Opposition die Legitimation abgesprochen. So findet man nicht nur im NPD-Parteiprogramm, sondern auch bei rechtskonservativen Vordenkern wie Carl Schmitt die Absage an Demokratiemodelle, die von der Anerkennung unterschiedlicher Positionen unterschiedlicher Parteien und Interessengruppen ausgehen, und setzt an deren Stelle die beinahe monolithische Interessengleichheit aller unter das Diktum der Nation. Von da aus ist es nur mehr ein kleiner Schritt zur Forderung, ein großer Führer solle die Geschicke dieser einheitlich wollenden Kollektivs exekutieren. Und ebenso klein ist der Schritt zur Forderung, diejenigen auszugrenzen oder auszulöschen, die vermeintlich nicht zu diesem Kollektiv gehören. Dabei beruht der Nationalismus auf drei zentralen Irrtümern. Die pseudoreligiöse Überhöhung der Nation, die von diesen Irrtümern nichts wissen will, macht den Nationalismus so zu einem Wahngebilde, das in der Vergangenheit für die Ermordung von Millionen Menschen ausschlaggebend war.

Der erste Irrtum des Nationalismus ist die Vorstellung, es gebe ein homogenes Volk, das sich zur Nation zusammen finde. Tatsächlich aber gibt es auf der Welt wahrscheinlich keine Nation, in der alle Menschen sowohl ethnisch, als auch kulturell, sprachlich oder religiös identisch wären. Beispiel Deutschland: Nicht nur die Trennung der religiösen, christlichen Mehrheit in Katholiken und Protestanten sticht ins Auge; hinzu kommt die große Zahl derjenigen, die überhaupt keiner Religionsgemeinschaft angehören. Daneben existieren eine jahrhundertelange jüdische Tradition, eine jüngere muslimische und eine noch jüngere, in rasantem Wachstum befindliche buddhistische Community. Auch sprachlich ist Deutschland heterogen: es gibt die Minderheiten der Dänen im Norden und der Sorben im Osten. Darüber hinaus leben hierzulande seit Jahrhunderten Roma die untereinander ebenfalls ihre eigene Sprache sprechen. Außerdem darf man die kulturellen und sprachlichen Identitäten in den unterschiedlichen Regionen nicht außer Acht lassen: ein Niederbayer hat keine Chance, sich verständlich zu machen, wenn er Dialekt redet und er es mit einem Ostfriesen zu tun hat, der gewohnt ist Platt zu sprechen. Die Beispiele ließen sich lange fortsetzen. Aus gutem Grund wurde innerhalb der letzten 500 Jahre daher das (künstlich geschaffene) Hochdeutsche eingeführt und flächendeckend durchgesetzt – als verbindendes Element nicht anstelle, sondern neben dem sprachlichen Flickenteppich. Noch ein Wort zur ethnischen Homogenität:  bekanntermaßen stammt die Mehrheit der altbayerischen Bevölkerung von den Bajuwaren ab, die wiederum auf die hinterbliebenen römischen Besatzungssoldaten zurückgehen. Ganz anders ist es aber bei den Alemannen (Baden), den Franken, Friesen, Sachsen usw.. Man könnte höchstens sagen, dass das alles irgendwie germanische Stämme waren – allerdings kulturell ebenfalls heterogen und untereinander z.T. verfeindet. Außerdem waren auch die Germanen in permanentem Austausch mit anderen Gruppen, seien es die Römer, die Kelten oder die Mongolen gewesen. Einen Einfluss aus dem Mittelmeerraum und damit auch aus Nordafrika wird es in den letzten 2300 Jahren mit Sicherheit gegeben haben.

Der zweite Irrtum hängt mit ersterem Zusammen: die Nationalisten glauben, es gebe eine historische Kontinuität zwischen dem (pseudo-) homogenen Volk und dem Territorium. Man behauptet also, es gebe einen angestammten Platz, auf den das eigene Volk einen historischen Anspruch habe. Tatsächlich aber ist die Geschichte der Menschheit eine Geschichte der Wanderung. Die einzigen, wirklichen biologischen Zusammenhang zwischen Menschen und Territorium findet man wohl im Osten Zentralafrikas: hier ist nach dem aktuellen Stand der Wissenschaft die Menschheit entstanden. Zu allen anderen Orten der Welt musste man erst einwandern; die Menschheit – eine große Gemeinschaft der Migranten. So waren die Kelten, die sich aus dem Südwesten Deutschlands über ganz Westeuropa ausdehnten, nicht die Ersten auf diesem Territorium. Aus Osteuropa wanderten später germanische Stämme ein, aus dem Mittelmeerraum kamen die Römer. Aus dem Osten drangen die Mongolen und slawische Stämme nach Mitteleuropa. Hinzu kamen im frühen Mittelalter vertrieben Jüdinnen und Juden, im Spätmittelalter wanderten Sinti aus dem ferneren Osten ein. Mitteleuropa – und damit das Territorium, das die Bundesrepublik Deutschland ausmacht – war lange Zeit Teil eines Kultur- und Handelsraums, der sich bis nach Indien und China erstreckte. Es gab über die letzten Jahrhunderte kontinuierliche Wanderungsbewegungen, die zum Teil ausgelöst wurden durch die Vertreibung in den Ursprungsländern – z.B. der französischen Hugenotten im 17. Jahrhundert – , bedingt waren durch die Suche nach Arbeit und Einkommen, oder Folge der Flucht aus Kriegsgebieten. Ich behaupte, dass sich unter 100 deutschen Staatsangehörigen keine 10 finden, deren Vorfahren seit mehr als 8 Generationen im heutigen Deutschland leben.

Der dritte Irrtum betrifft die Vorstellung einer natürlich gewachsenen, territorialen Abgrenzbarkeit der Nation. Das Gegenteil ist aber der Fall: aufgrund der Tatsache, dass man vertraglich festgelegte Grenzen zwischen Staaten zog, gibt es beiderseits dieser Grenzen nationale Minderheiten im jeweils anderen Staat. So findet sich eine deutsche Minderheit in Dänemark und eine dänische Minderheit in Deutschland. In Polen existiert ebenso eine deutsche Minderheit wie in Tschechien und in Belgien. Südtirol wiederum ist sowohl österreichisch, als auch stark italienisch geprägt. Und das Elsass war mal deutsch, mal französisch. Bis ins 18. Jahrhundert überlappten sich auch die administrativen Grenzen zwischen den Nationen, woraus etliche Kriege um Grenzziehungen ihre Nahrung fanden. Und welche sind nun die richtigen Grenzen Deutschlands? Von der Maas (Frankreich) bis an die Memel (Polen), von der Etsch (Italien) bis an den Belt (Dänemark) soll dieses Deutschland reichen, glaubt man seiner Nationalhymne. Und in der Tat gibt es im deutschen nationalistischen Denken Tendenzen, die die Ostgrenze gerne weit nach Polen verschieben und neben Österreich auch Südtirol einverleiben wollen. Problemtisch ist aber, dass polnische und italienische Nationalisten ähnliche Denkmuster haben und ihr Territorium ebenfalls eher vergrößern als verkleinern wollen  – ein internationales Bündnis der Nationalisten scheitert damit schon an der Frage der gegenseitigen Grenzziehung und gibt einen Ausblick auf zukünftige Kriege, die mit dem Nationalismus unvermeidlich wären.

Der Nationalismus als Wahnvorstellung kommt nicht aus ohne einen Mythos, der die politische Durchsetzung der eigenen Ideologie zur Mission macht. In Deutschland ist das der Mythos, Opfer einer ungerechten Geschichte zu sein. Durch seine Lage im Zentrum Europas sei es immer wieder den Angriffen seiner Nachbarn ausgesetzt gewesen. Nach dem verlorenen Krieg komme nach 1945 auch noch die kulturelle Überfremdung durch die USA hinzu. Solche Mythen geben dem deutschen Nationalismus einen zusätzlichen Schub – denn es geht nun nicht mehr nur darum, sein vermeintlich homogenes Kollektiv und sein vermeintlich angestammtes Territorium zu verteidigen. Es gilt zusätzlich, sich von der Schmach der vermeintlich ungerechten Behandlung zu erlösen. Fragt man allerdings die Menschen in den Nachbarländern Deutschlands, so haben sie die Deutschen bisher als sehr selbstbewusst, mächtig und zuweilen äußerst aggressiv erlebt. Und das entspricht, blickt man auf die deutsche Geschichte seit 1864, leider der Wahrheit.

Nüchtern betrachtet ist die Nation nichts weiter als eine Verwaltungseinheit, die sich im Laufe der letzten 500 Jahre zunächst innerhalb Europas – und später weltweit – entwickelt hat. Es ging dabei um die Durchsetzung einer direkten Herrschaft der Zentralregierungen bis hinunter auf die lokale Ebene, ohne die Vermittlung durch lokale oder regionale Herrscher. Hinter der direkten Regierungsgewalt stand, ebenso nüchtern, der Wunsch nach einfacherer Steuererhebung, nach Machtentfaltung bis in die kleinsten Einheiten, nach effektiverer Rekrutierung zum Militärdienst und Steuerung der wirtschaftlichen Entwicklung. Zweifelsohne war die Nation in dieser Epoche ein erfolgreiches Modell, ohne das ein bestimmtes Maß an Fortschritt nicht denkbar gewesen wäre. Der Nationalismus als Ideologie aber verkennt die Tatsache, dass sich das Modell der Nation aus guten Gründen mittlerweile stark relativiert hat und an supranationale Zusammenschlüssen – wie der UNO oder der EU – Funktionen abgeben muss. Skurrilerweise führt der Nationalismus sogar zu seinem Gegenteil, nämlich zum Unfrieden und zum inneren Zerfall der Nationen – Diskriminierungen, Bürgerkrieg oder fanatisch geführter Massenmord. Ob es die sog. „ethnischen Säuberungen“ im Balkankrieg, der Völkermord an den Tutsi in Rwanda oder der Holocaust war: immer ging es um die konsequente Durchsetzung des nationalistischen Homogenitätsgedankens.

 

Literaturtipps

– zur Entwicklung der Nationen in Europa seit dem 15. Jahrhundert:

Tilly, C.: Die europäischen Revolutionen. München 1999 (Verlag C. H. Beck)

– zur antidemokratischen Dimension des Nationalismus im Rechtskonservatismus:

Gessenharter, W.; Pfeiffer, T. (Hg.): Die Neue Rechte – eine Gefahr für die Demokratie? Wiesbaden 2004 (Verlag für Sozialwissenschaften)