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„Ein trauriger Tag für die Zivilgesellschaft“: Gericht erlaubt Neonaziaufmarsch

 

Die Neonazis dürfen marschieren, alle Gegenproteste sind verboten. Im niedersächsischen Bad Nenndorf verstehen couragierte Anwohner die Welt nicht mehr. Mit buntem und friedlichen Aktionen wollten sie am Samstag den Aufmarsch von bis zu 1500 Rechtsextremen aus der militanten Kameradschaftszene verhindern. Im Internet bejubeln die Rechten das Urteil und drohen dem Protestbündnis offen mit Gewalt.

Erschüttert blickt Sebastian Wertmüller auf die Entscheidung des Verwaltungsgerichtes Hannover von DonnerstagAbend. Die Richter haben einen bundesweiten Neonaziaufmarsch in Bad Nenndorf am 14. August erlaubt und gleichzeitig die Gegendemonstration von „Bad Nenndorf ist bunt“ verboten. Angesichts der Emörung fehlt es dem Regionsvorsitzenden des DGB Niedersachsen Mitte nicht an deutlichen Worten: „Ein Aufzug in der offenen Tradition des SA, durchgeführt von militanten Rechtsextremen der so genannten Kameradschaftsszene wird nicht verboten. Der bürgerliche Gegenprotest wird aufgrund ominöser Gefahrenprognosen von Polizei und Verfassungsschutz untersagt.“.

Sebastian Wertmüller vom DGB

Wertmüller kündigte eine Beschwerde beim Oberverwaltungsgericht in Lüneburg an, auch der Weg zum Bundesverfassungsgericht sei geplant, sagt der DGB-Chef und spricht von einem „unglaublichen Vorgang“. Auf scharfe Kritik stoßen bei ihm besonders „unbestimmte und allgemeine Hinweise auf möglicherweise anreisende angebliche linksextreme Gewalttäter“, durch die der Widerstand vor Ort diskreditiert werde. Die jetzt gefallene Entscheidung sei ein Schlag in das Gesicht derjenigen, die seit Monaten den Protest in Bad Nenndorf organisierten. Die stets geforderte Zivilcourage, das „Hinsehen statt Wegsehen“, bürgerschaftliches Engagement und der Einsatz für die Zivilgesellschaft – vor dem Hintergrund des aktuellen Gerichtsentscheides laufe all das Gefahr, zu leeren Phrasen zu verkommen. Der DGB-Chef bilanziert: „Ein sehr trauriger Tag für die Zivilgesellschaft, aber auch ein Ansporn mehr an uns, noch aktiver gegen Rechtsextremismus vorzugehen“. Er forderte zum Protest auf: „Lasst Euch dieses Verbot nicht gefallen. Protestiert und fordert das Versammlungsrecht ein“.

Neonaziaufmarsch in Bad Nenndorf 2009

Zuvor hatte der Landkreis Schaumburg als Versammlungsbehörde beide Demonstrationen und sich dabei auf den „polizeilichen Notstand“ berufen. Nachdem anfangs von etwa 2000 Beamten ausgegangen worden war, würden nach einer aktuellen Einschätzung fünf Hundertschaften mehr benötigt. Die Richter in Hannover gaben einem Eilantrag der Neonazis statt und hoben das Verbot des rechtsextremen „Trauermarschs“ auf, weil diese ihre Versammlungzuerst angemeldet hatten (Az. 10 B 3508/10 und 10 B 3503/10). Auch der Landkreis Schaumburg kündigte Rechtsmittel gegen die Entscheidung an.

Beobachter vor Ort kritisieren, die Behörden unterschätzten die Zahl der anreisenden Neonazis. Angesichts der offensiven Werbung und Mobilisierung im gesamten Bundesgebiet gehen sie von bis zu 1500 Rechtsextremen aus und befürchten bei der An- und Abreise Übergriffe seitens der Neonazis. Die Kritiker verweisen auf den Aufmarsch zum rechtsextremen „Tag der deutschen Zukunft“ im Juni in Hildesheim. Auch dort waren wesentlich mehr Neonazis angereist als erwartet. Während der Veranstaltung kam es zu gezielten Übergriffen auf Journalisten, im Anschluss griffen Rechtsextreme auf Bahnhöfen vermeintliche politische Gegner an.

Das Wincklerbad in Bad Nenndorf

Sollte der weitere Rechtsweg erfolglos bleiben, könnte die Versammlung für die Neonazis ein bundesweiter Ersatz für den verbotenen „Trauermarsch“ für den Kriegsverbrecher Rudolf Heß im bayrischen Wunsidel werden, denn der vom rechtsextremen „Gedenkbündnis“ organiserte alljährliche Aufmarsch ist bereits bis zum Jahr 2030 angemeldet. Der mittlerweile fünfte „Trauermarsch“ ist der größte Neonazi-Aufmarsch in Norddeutschland und bundesweit die drittgrößte Veranstaltung ihrer Art. Zählte die Polizei anfangs 100 Neonazis, reisten im vergangenen Jahr schon 800 Rechtsextreme in den Kurort. Hinter dem „Trauermarsch“ steckt ein Netzwerk der militanten Kameradschaftsszene aus Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen. Anmelder ist der mehrfach vorbestrafte und ehemals inhaftierte Neonazi Marcus Winter. Seit 2006 führt der jährliche Aufmarsch durch die Stadt zum Wincklerbad, wo der britische Geheimdienst nach dem zweiten Weltkrieg knapp zwei Jahre lang ein Verhör- und Internierungslager betrieben hatte. In der Einrichtung wurden auch Häftlinge misshandelt.