Lesezeichen
‹ Alle Einträge

Menschenfeindliche Einstellungen: Die Mitte am Rand?

 

„Demokratie ist kein Sockel, der – einmal erreicht – langfristig stabil bleibt.“ Diese Schlussfolgerung ist Leitmotiv der gerade veröffentlichten Studie im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES): Die Mitte in der Krise.

Ein Kommentar zur aktuellen Debatte von Benjamin Mayer und Ulf Meyer-Rewerts*

Wenn in Deutschland über die Gefahren für die parlamentarische Demokratie diskutiert wird, verweist man meist auf die politischen Ränder, welche die eigentlichen Gegner des bestehenden demokratischen Systems seien. Der Grund hierfür ist nicht zuletzt in der dafür meist bemühten Extremismustheorie zu suchen, die in ihrer Gleichsetzung von „Rechtsextremismus“ und „Linksextremismus“ ein unterkomplexes Bild der Gesellschaft skizziert, welches eine Mitte als frei von Extremen darstellt und somit für die wissenschaftliche Analyse eher Barrikaden errichtet anstatt einen klaren Zugang zu ermöglichen. Besonders in den letzten Monaten wurde immer wieder deutlich – nicht zuletzt durch die Sarrazin-Debatte –, dass Gefahren für die Demokratie, insbesondere was den Gleichheitsgedanken betrifft, auch jenseits der politischen Ränder vorhanden sind. Entsprechend groß war das mediale Echo auf die Veröffentlichung der aktuellen FES-Studie.

Die Forscher der Universität Leipzig, welche die Studie im Auftrag der Ebert-Stiftung durchführten, zeichneten ein Gesellschaftsbild, welches rechtsextreme Ideologien auch in ihrer Mitte verortet. Das soziologische Theorem des „Extremismus der Mitte“ ist allerdings nicht neu. In der medialen Berichterstattung jedoch ist dieser Aspekt – der in der Studie durchaus angesprochen wird – weitgehend unterschlagen worden.

Bereits 1930 analysierte der Soziologe Theodor Geiger die Wählerwanderungen zur NSDAP; dabei beschäftigte ihn vor allem die Rolle des Mittelstandes, den er am Ende der Weimarer Republik als das Lager ausmachte, dem ein großer Teil der NSDAP-Wähler entstammte. Geigers Analyse ist sicher nicht uneingeschränkt nutzbar, aber seine Beschreibung des Kontextes, welcher den Zulauf der gesellschaftlichen Mitte zur NSDAP erklärt, bleibt bis heute relevant. So verweist bereits Geiger darauf, dass nicht das Programm der Nationalsozialisten ihren Erfolg ausmachte, sondern es vor allem die „Sorgen und Lebensangst“ waren, die den Mittelstand bewegten – der „Verzweifelte ist leichtgläubig“. Auch wenn Ideologien wie der Antisemitismus tief in der deutschen Gesellschaft verankert waren und zum Teil bis heute sind, ist doch der jeweilige Kontext, der ihr Hervortreten befördert, von großer Bedeutung.

Geigers Ansätze wurden Ende der 1950er Jahre von Seymour Lipset systematisiert und als „Extremismus der Mitte“ bekannt. Lipset ergänzte die gängigen Vorstellungen vom linken und rechten Extremismus um eben diesen „Extremismus der Mitte“. Er ging davon aus, dass alle drei Strömungen jeweils eine gemäßigte und eine extremistische Form aufweisen. Lipset analysierte dies unter anderem anhand der Wählerbewegungen am Ende der Weimarer Republik: „Die Untersuchung der Verschiebung im deutschen Wahlverhalten zwischen 1928 und 1932 bei den nicht-katholischen und nicht-marxistischen Parteien zeigt […], daß die Nationalsozialisten weitaus mehr Stimmen auf Kosten der Parteien der Mitte und der liberalen Parteien gewannen als auf Kosten der Konservativen.“ Als Ergebnis seiner Analyse kommt er zu dem Schluss, dass der idealtypische Wähler der NSDAP ein „selbstständiger protestantischer Angehöriger des Mittelstandes“ war, der „entweder auf einem Hof oder in einer kleinen Ortschaft lebte und der früher für eine Partei der politischen Mitte oder für eine regionale Partei gestimmt hatte“.

Damit war Hitler für Lipset ein „Extremist der Mitte“. Lipsets Arbeit ist für die Analyse der enormen Wählerzuwächse des Nationalsozialismus noch immer aktuell, auch wenn er durch die Überbetonung der sozialen Herkunft die Rolle politischer Inhalte nicht ausreichend erfasst hat. Unterzieht man die Wahlversprechen des Nationalsozialismus einer genaueren Analyse, so widersprechen sich diese an verschiedenen Stellen. Hierin wird die nationalsozialistische Strategie erkennbar, ohne den Versuch eines kohärenten Programms möglichst viele Wählerschichten anzusprechen.

Spätestens mit den rassistischen Ausschreitungen Anfang der neunziger Jahre ist das Schlagwort vom „Extremismus der Mitte“ wieder aktuell geworden. In seinem Aufsatz „Extremismus der Mitte“ erkannte Wolfgang Kraushaar in der Debatte vier Ansätze zur Analyse dieses Phänomens: Neben der Identifizierung der Komplizenschaft zwischen Tätern und Politikern bzw. staatlichen Stellen (wie es das Zusehen der Polizei in Rostock-Lichtenhagen zeigte), sind dies die Kennzeichnung der sozialen Herkunft der Täter, die Charakterisierung moderner rechtspopulistischer Parteien und die Analyse reaktualisierter rechtskonservativer Ideologien.

Jüngst zeigten die Zustimmungswerte zu Sarrazins Thesen, dass ausländerfeindliche Einstellungen nicht nur bei den Wählern der extrem rechten Parteien zu finden sind, sondern dass extrem rechtes Gedankengut auch in der Mitte der Gesellschaft vorhanden ist. Diese Erkenntnis ist nicht neu und wird durch die Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung nur erneut bestätigt.

Einen Anstieg verzeichnet die Studie vor allem im Bereich antidemokratischer, rassistischer Einstellungen, außerdem stellt sie eine leichte Zunahme sozialdarwinistischer Ungleichwertigkeitsvorstellungen fest. Auch der Trend, dass immer weniger Deutsche eine Diktatur befürworten, hat sich umgekehrt. Während diese Entwicklung bis 2002 rückläufig gewesen ist, wünscht sich 2010 jede/r vierte Deutsche eine „starke Partei“ an der Spitze, welche die „Volksgemeinschaft insgesamt verkörpert“. Der deutlichste Anstieg von Ungleichwertigkeitsvorstellungen ist im Bezug auf die Einstellung zu Menschen mit arabischem und/oder muslimischem Hintergrund zu verzeichnen. Besonders die Forderung nach Einschränkungen der Religionsfreiheit bezüglich muslimischer Glaubensgemeinschaften bewegt sich in Deutschland mit 58,4 Prozent auf sehr hohem Niveau.

Laut Studie ist ein Teil der Ergebnisse vor allem in Ostdeutschland durch die aktuelle Wirtschaftskrise zu erklären. Der Zusammenhang zwischen Verunsicherung und Zustimmungswerten zu ausländerfeindlichen und antidemokratischen Einstellungen wird nicht zuletzt durch die überdurchschnittlich hohe Zustimmung bei Arbeitslosen zu solchen Aussagen nachgewiesen. Allerdings, und dies ist bemerkenswert, zeigt die Studie eben auch, dass die Wirtschaftskrise insgesamt gesehen von den Menschen subjektiv nicht im gleichen Maße wahrgenommen wird wie dies in der öffentlichen Diskussion der Fall ist. Zwar ist in Ostdeutschland ein größerer Einfluss zu bemerken, doch: „Die Finanz- und Wirtschaftskrise scheint bei den Menschen nicht angekommen zu sein – oder von ihnen nicht wahrgenommen zu werden“. Die Ängste der Gesellschaft sind eher sozialer Natur: Es ist zu beobachten, dass „Prekarisierungsprozesse eine allgemeine Ausbreitung von Unsicherheit in der Gesellschaft abbilden, die die Mitte und ihre Ränder […] seit geraumer Zeit erfasst hat“.

Chauvinistische und ausländerfeindliche Einstellungen finden nicht nur bei Nichtwählern hohe Zustimmungsraten, sondern – in der gleichen Größenordnung – auch unter Anhängerinnen und Anhängern der etablierten Parteien der Mitte zwischen ca. 20 bis 25 Prozent (bei der Ausländerfeindlichkeit sind es in Ostdeutschland bis zu knapp 40 Prozent). Die Zustimmung zur rechtsextremen NPD bleibt bundesweit dennoch weiterhin deutlich unter 5 Prozent. Somit stellt sich die Frage, ob es einer neuen, rechtspopulistischen Formation gelingen könnte, jenes Nichtwähler-Potential zu mobilisieren.

Ein Blick ins europäische Ausland zeigt, dass Rechtspopulisten durchaus langfristige Erfolge verbuchen können. Das Fehlen einer derart erfolgreichen Partei in Deutschland stellt dagegen eher die Ausnahme dar. Dass die besondere Situation in Deutschland weniger mit der nationalsozialistischen Vergangenheit, Aufklärung oder politischer Bildung zu tun hat, wird in der FES-Studie durch die Zustimmung der Mittelschichten zu extremen Positionen deutlich. Es dürfte eher strukturelle Gründe haben, dass rechtspopulistische Parteien hierzulande zeitlich nur sehr begrenzten Einfluss hatten. Bisher handelte es sich – wie bei der Hamburger Schill-Partei – stets um Neugründungen, die nicht auf eine vorhandene Organisationsstruktur oder eine feste Anhängerschaft bauen konnten. Dagegen konnte beispielsweise die Schweizerische Volkspartei (SVP) bei ihrer Gründung u. a. auf die Bauernschaft und Freiberufler setzen. Im Falle der österreichischen FPÖ gehörten in den 1950er Jahren ehemalige Nationalsozialisten zur Stammklientel. Andere Rechtspopulisten können wenigstens auf eine charismatische Führung setzen, wie der Erfolg von Geert Wilders in den Niederlanden demonstriert.

Das (inzwischen immer weiter schrumpfende) bundesrepublikanische Modell der Volkspartei, welches sich nach dem Krieg zunächst in der CDU, dann auch in der SPD manifestierte, war jedoch schon immer darauf ausgerichtet, ein möglichst breites Spektrum an Milieus bzw. Schichten anzusprechen und zu integrieren. So gelang es, eine Demokratie mit einer starken „Mitte“ zu etablieren.

In der Tat war auch die NSDAP, ihre Wählerschaft betreffend, durchaus eine Volkspartei – ihr gelang es, schichtübergreifend Stimmen zu erlangen. In ihrem Streben nach einer breiten Wählerschaft zeigte die NSDAP – wie oben beschrieben – durchaus populistische Züge, schließlich ging es hier nicht um tatsächliche programmatische Grundsätze, erst recht nicht um einen demokratischen Konsens, sondern um den reinen Wahlerfolg. Eine breite Integration von Wählergruppen allein ist also noch kein hinreichendes Kriterium für einen demokratischen Konsens.

Entsprechend ist Vorsicht geboten, wenn Union und SPD nun versuchen, die politischen Ränder einzufangen, wie es der verschärfte Ton der Parteien in der Integrationsdebatte zeigt. Einerseits muss eine demokratische Partei zwar darauf bedacht sein, Problemen und Ängsten der Bevölkerung entgegenzukommen und diese ernst zu nehmen; andererseits kann eine Öffnung dessen, was mach- und sagbar ist, den politischen Diskurs so weit enthemmen, dass demokratische Werte ausgehöhlt werden. Denn gerade in der Ausländer- und Integrationspolitik feiern die europäischen Populisten ihre größten Erfolge.

Ein aktuelles Beispiel hierfür ist die so genannte Ausschaffungsinitiative der SVP. Dabei handelt es sich um eine geplante Volksbefragung darüber, ob in der Schweiz lebenden Ausländern bei Gesetzesverstößen auf der Grundlage eines festen Kataloges die Aufenthaltsgenehmigung entzogen werden darf. Im Vorfeld der Abstimmung, die am 28.11. dieses Jahres erfolgt, befürworten nach einer aktuellen Umfrage immerhin auch 33 Prozent der Anhänger der Schweizer Sozialdemokratischen Partei (SP Schweiz) die Initiative. Dagegen waren die SP-Anhänger bei der Initiative zum Minarett-Verbot im November letzten Jahres noch mehrheitlich dem von der Partei empfohlenen „Nein“ gefolgt. Dass die Partei nach dem überraschend klaren Erfolg des Minarett-Verbots dennoch einen unklaren Kurs in der Integrationsdebatte mit teilweise populistischen Parolen fuhr, hat sicherlich nicht dazu beigetragen, ihre Anhängerschaft bei der „Ausschaffungsinitiative“ vom „Nein“ zu überzeugen.

Hierbei stellt sich die Frage, wie man den beschriebenen Tendenzen entgegenwirken kann. Laut FES-Studie ist das Problem der bundesdeutschen Demokratie, dass die Menschen sie nicht mehr als ihr Projekt begreifen und mit der Funktionsweise der Demokratie unzufrieden sind. Bestes Beispiel hierfür ist „Stuttgart 21“: Obwohl der institutionelle Weg des Bauvorhabens formal nach den Regeln der Demokratie ablief, fühlen sich die Menschen abgehängt von einem elitären, bürokratischen Apparat, der Partizipation kaum ermögliche. Die Forderung der FES-Wissenschaftler ist: Mehr Partizipationsmöglichkeiten schaffen. Die Identifikation mit der Demokratie setzt ein Verstehen ihrer Abläufe und Strukturen voraus, was besonders die Politische Bildung auf den Plan ruft, die den kontinuierlichen Demokratisierungsprozess begleiten und unterstützen muss.

Benjamin Mayer und Ulf Meyer-Rewerts sind Mitarbeiter des Göttinger Instituts für Demokratieforschung. Der Text erschien zuerst in gekürzter Version auf dem Blog des Göttinger Instituts für Demokratieforschung.