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Naziangriff in Kreuzberg: Polizei leitete Rechtsextreme in die Gegendemo

 

Nazis schlugen vor den Augen der Polizei auf die Gegendemonstranten ein © Christian Jäger

Bei dem verhinderten Naziaufmarsch am Samstag in Berlin-Kreuzberg, hat die Einsatzleitung offenbar eine folgenschwere Fehlentscheidung getroffen. Mehrere Gegendemonstranten wurden von Neonazis durch Schläge und Tritte verletzt.
Wie aus einer Pressemitteilung der Polizei hervorgeht, beschloss der Einsatzleiter die Neonazis durch den U-Bahnhof Mehringdamm hindurchzuführen, um auf der Straße eingekesselte Gegendemonstranten zu umgehen. „Auf dem Bahnsteig überrannten unvermittelt Aufzugsteilnehmer an der Spitze des Aufzuges die Polizeikräfte und erreichten für kurze Zeit unbegleitet die Oberfläche des Mehringdamms“, heißt es weiter. Die 600 eingesetzten Polizisten hatten die Situation am Samstag zeitweise nicht mehr unter Kontrolle. Die Polizei wies am Sonntag Kritik am EInsatz zurück. Es habe keine andere Möglichkeit gegeben, die Blockierer zu umgehen.

Innensenator Ehrhart Körting (SPD) verurteilte am Sonntag „das erschreckende Maß an brutaler Gewalt, die von rechtsextremistischen Demonstrationsteilnehmern gegenüber weitgehend friedlichen Gegendemonstranten, unbeteiligten Dritten und eingesetzten Polizeibeamten ausgeübt wurde.“ Bis auf wenigen Ausnahmen, hätten sich die Nazigegner friedlich Verhalten. „So wie diese Demonstration abgelaufen ist, fällt sie nicht mehr unter den grundrechtlichen Schutz der Versammlungsfreiheit.“ Bei künftigen Naziaufmärschen werde der „Gewaltexzess der Rechtsextremisten“ in eine Verbotsprüfung mit einfließen.

Pressebilder zeigen den brutalen Angriff von Neonazis auf am Boden sitzende Gegendemonstranten. Fahrgäste flüchteten in Panik aus dem U-Bahnhof. Vier junge Leute wurden vor den Augen der Polizei von rund 40 Neonazis regelrecht überrannt und verprügelt. Als die Polizei eingriff, schob sie die Angreifer lediglich zur Seite. Festnahmen gab es in dieser Situation offensichtlich keine.

„Die haben gezielt auf unsere Köpfe getreten“, sagt Student Max, der auf dem Foto links neben dem Mann im grauen Pullover auf der Straße liegend zu sehen ist. Ein Rechter habe ihm mehrfach mit der Faust ist Gesicht geschlagen. Auf Tagesspiegel.de ist ein Bild des Studenten mit Platzwunde im Gesicht und zugeschwollenem Auge zu sehen. Mit drei Freunden hatte sich der 30-Jährige spontan auf den Mehringdamm gesetzt, um den Aufmarsch zu blockieren. „Nur drei Polizisten standen da, konnten die Rechten aber nicht stoppen“, sagt er. Als die Angreifer von ihnen abließen, halfen ihnen Passanten zum Bürgersteig und riefen einen Krankenwagen. Die vier Betroffenen wollten noch am Sonntag Anzeige wegen Körperverletzung erstatten. „Unser Anwalt prüft gerade, ob wir auch gegen die Polizisten wegen unterlassener Hilfeleistung vorgehen.“ Zwei seiner Freunde kamen mit leichten Blessuren und Abschürfungen davon, der dritte habe eine Gehirnerschütterung erlitten.

Die Polizei sprach am Sonntag von 36 verletzten Polizeibeamten, von denen sechs vom Dienst abtreten mussten. 46 Personen wurden vorübergehend Festgenommen, wie viele davon Rechtsextreme und wie viele Gegendemonstranten waren, konnte die Polizei nicht sagen. Laut BVG-Angaben wurden die Videoaufnahmen von den Bahnsteigen bereits gesichert.

Eine konkrete Begründung, weshalb die Neonaziveranstaltung bis zuletzt geheim gehalten wurde, so dass Anwohner von dem Aufzug überrascht wurden, war weiter nicht zu bekommen. Die Pressestelle sei nicht verpflichtet Routen von Versammlungen an Journalisten zu geben, hieß es. Das bei jeder anderen Demonstration die Route über die Pressestelle zu erfahren ist, sei lediglich ein nettes Entgegenkommen. Eine Anweisung, den Ort des Aufmarsches auch auf Nachfrage nicht zu nennen, habe es nicht gegeben.

„Ich erwarte vom Polizeipräsident und vom Innensenator eine Erklärung, warum der Aufmarsch vorher nicht bekannt gegeben wurde“, sagte FDP-Innenexperte Björn Jotzo. Mit mehr Transparenz wäre es für die Anwohner nicht zu diesen unvorhersehbaren Entwicklungen gekommen. Jotzo kündigte an, im Innenausschuss „einen detaillierten Bericht“ zu den Geschehnissen zu verlangen.

Als „völlig befremdlich“ bezeichnete Bezirksbürgermeister Franz Schulz (Grüne) die „Geheimhaltungspolitik“ der Polizei. „Ich werde Herrn Körting um Aufklärung bitten, warum ich nicht informiert wurde“, sagte Schulz am Sonntag. Er selbst sei kurz nach dem Durchbruch der Rechtsextremen am Mehringdamm angekommen und sei überrascht über das harte Vorgehen der Polizei gegen die protestierenden Kreuzberger gewesen. „Richtig schlimm war das“, sagte Schulz. Es habe keinerlei Verhältnismäßigkeit oder Zurückhaltung der Beamten gegeben. „Die ganze Einsatztaktik wirft fragen auf“, sagte der Vorsitzende der Linksfraktion im Abgeordnetenhaus, Udo Wolf, der auch an den Protesten teilgenommen hatte. Er betonte, dass der Vorfall bei der Verbotsprüfung zukünftiger Anmeldungen berücksichtigt werden müsse.

„Die Polizei trägt eine erhebliche Mitschuld an der Situation, zum einen, das sie die Nazis nicht aufgehalten hat, zum anderen, da sie durch die konsequente Verheimlichung der Route der Nazis den Anwohnern keine Möglichkeit gegeben hat sich effektiv vor diesen zu schätzen“, sagte Lars Laumeyer von der Antifaschistischen Linken Berlin. Die Polizei habe  die Migranten „den Nazis ins offene Messer laufen lassen“.

Der Türkische Bund Berlin Brandenburg bedankte sich bei allen Menschen, die den rechten Marsch blockiert hatten. „Unsere Anerkennung gilt allen, die sich gegen Rassismus und neonazistische Gewalt stellen“, sagte Vorstandssprecher Hilmi Kaya Turan. Die Erfahrungen rechtsextremer Übergriffe in Solingen, Mölln, Hoyerswerda dürften nicht vergessen werden.

Die rechte Szene feiert derweil im Internet den Gewaltausbruch als Erfolg. „Ich finde die Aktion mehr als gelungen“, schreibt ein User in einem Neonaziforum. Unter dem Nutzernamen „Demoleitung“ bedankt sich ein Rechtsextremer bei den „auswärtig angereisten Kameraden“ für die Teilnahme. Der Eintrag erweckt den Eindruck, dass der Durchbruch der Rechten eine vorher geplante Aktion gewesen ist. „Wir haben taktisch probiert was möglich war“, heißt es dort.

Unterdessen wurde bekannt, dass es in der Nacht zu Sonntag Sonnabend noch einen weiteren Angriff von Neonazis gab. Zwei 28-Jährige wurden gegen 2.30 Uhr von zehn Rechtsextremen an der Tram-Haltestelle Welsestraße in Hohenschönhausen zusammengeschlagen. Die Täter konnten unerkannt flüchten. Der Staatsschutz ermittelt.