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„Seit seinem Tod ist alles anders“

 

Hunderte Menschen demonstrierten nach dem Mord gegen rassistische Gewalt

„Ein junger Mensch musste sterben, weil seine Hautfarbe einigen Menschen nicht gefiel“, schrieb die Familie von Kamal K. in der Todesanzeige für den 19-Jährigen. Der junge Mann starb am 24. Oktober 2010 – eine Woche nach seinem 19. Geburtstag. Die Todesursache: Ein Messerstich in den Bauch. Am Freitag beginnt nun am Landgericht Leipzig der Prozess um den Tod des jungen Irakers. Die Tatverdächtigen: zwei mehrfach wegen Gewaltdelikten vorbestrafte Rechtsextremisten – der gebürtige Leipziger Daniel K., Jahrgang 1982, und Marcus E., Jahrgang 1978. Ein rassistisches Motiv sieht die Staatsanwaltschaft trotzdem nicht. Es lägen bislang „keine hinreichenden Anhaltspunkte für eine ausländerfeindliche Motivation der beiden Angeschuldigten vor“, erklärten die Strafverfolger.

Lebenstraum Bundeswehr

„Alles ist anders geworden seit Kamals Tod“, sagt sein älterer Bruder Ali. Vorsichtig öffnet er die dünne Tür zu dem 10 Quadratmeter kleinen Jugendzimmer seines jüngeren Bruders in der noch zu DDR-Zeiten gebauten Neubauwohnung. Auf der schwarzen Decke, die über dem schmalen Jugendbett von Kamal ausgebreitet ist, liegt eine Bibel neben einem Koran; darüber das Foto eines offen strahlenden jungen Mannes mit dichten, kurz geschnittenen dunklen Haaren, der seinen Arm um eine junge Frau mit blondem Zopf legt. Rings um das Foto stapeln sich Kondolenzbriefe von Freunden der Familie, von Sachsens Ausländerbeauftragten Martin Gillo (CDU) und von unbekannten Leipzigern. Auf das Kissen am Kopfende ist mit glänzendem Garn der Schriftzug „King“ eingestickt. Eine halbe Tafel Milka-Schokolade liegt noch auf dem Schreibtisch vor einem Fenster mit Blick auf die Leipziger Innenstadt. Kamals Mutter, eine koptische Christin aus dem Irak, seine beiden Brüder und auch der Stiefvater, ein muslimischer Geschäftsmann, haben das kleine Zimmer in einen Ort multireligiösen Gedenkens verwandelt. „Kamal dachte, Deutschland sei seine Heimat“, sagt Ali, der seit mehr als fünf Jahren als Security-Mann in Leipziger Diskotheken arbeitet. Er war stolz, als Kamal im Oktober 2010 ebenfalls eine Ausbildung im Sicherheitsgewerbe beginnen wollte und schon einen Arbeitsvertrag in der Tasche hatte. „Am Tag vor seinem Tod hatten wir gerade darüber gesprochen, zusammen zur Ausländerbehörde zu gehen und endlich die deutsche Staatsbürgerschaft zu beantragen. Dann wollte Kamal seinen Führerschein machen und später seinen Traum verwirklichen und zur Bundeswehr zu gehen.“ In Ali K.’s Stimme mischen sich Bitterkeit und Ohnmacht. „Wir sind hier aufgewachsen, wir haben hier viele Freunde, ich kann nicht verstehen, dass wir hier nicht sicher sein können.“ Kamal und Ali K. kamen als kleine Kinder Anfang der 1990er Jahre mit ihrer Mutter aus dem Irak Saddam Husseins nach Leipzig. Der jüngste Sohn wurde hier geboren und geht noch zur Schule; die Familie hat längst einen dauerhaften Aufenthalt in Deutschland.

„Verpisst Euch, Antifaschisten“

In der Nacht des 24. Oktober 2010 war Kamal gemeinsam mit seiner 16-jährigen Freundin und einem Freund durch die Diskos gezogen und gerade auf dem Nachhauseweg, als die drei in den frühen Morgenstunden in einem kleinen Park beim Leipziger Hauptbahnhof Marcus E. und Daniel K. begegneten. „Kick off Antifascism – Verpisst Euch, Antifaschisten“ lautete der Schriftzug des Kapuzen-Sweatshirts, das der 29-jährige Daniel K. auf den Fotos, die unmittelbar nach seiner Festnahme gemacht wurden, über seinen Kopf und seinen tätowierten Unterarm zieht. K. und E. hatten sich in der sächsischen Haftanstalt Waldheim kennengelernt. K., der mehrere Jahre in Aachen gelebt hatte und dort unter anderem als gewalttätiger Neonazi der Kameradschaft Aachener Land (KAL) aufgefallen war, verbüßte bis zum Frühjahr 2010 in der JVA Waldheim eine Haftstrafe. Drei Jahre und drei Monate musste er für seine Beteiligung an einer Körperverletzung und der Geiselnahme einer Frau aus dem Umfeld der KAL verbüßen. Der 32-jährige Marcus E. war erst zehn Tage vor dem Zusammentreffen mit Kamal K. nach knapp zehn Jahren Haft in Freiheit entlassen worden. Er hatte wegen Vergewaltigung in drei Fällen, gefährlicher Körperverletzung in fünf Fällen und Körperverletzung in zwei Fällen – das Opfer war dabei immer ein Mithäftling in der Jugendhaftanstalt Gotha – und wegen weiterer Gewaltdelikte eine Gesamtfreiheitsstrafe von achteinhalb Jahren verbüßt. Während seiner Haftzeit in der thüringischen Jugendstrafanstalt Ichtershausen wurde er von der neonazistischen Hilfsgemeinschaft für nationale Gefangene (HNG) in einer monatlichen „Gefangenenliste“ sogenannter „nationaler Gefangener“ genannt, die um „Briefkontakte“ zu Gleichgesinnten bitten. Nach dem Tod von Kamal fanden die Sicherheitsbehörden in den Wohnungen beider Tatverdächtiger neonazistisches Propagandamaterial.

Angst vor rechter Gewalt

„Gibt es ein Problem?“, soll Kamal K. gefragt haben, als er sah, dass E. und K. auf seinen Freund einredeten, der etwas abseits auf einer Bank saß. Kamal und seine Freundin hatten sich lauthals über den Verlauf des Abends gestritten. Daraufhin soll einer der beiden Männer gesagt haben: „Nein, aber jetzt hast Du ein Problem“. Dann sollen Marcus E. und Daniel K. mit Pfefferspray und Messer auf Kamal K. losgegangen sein und seinen Freund bedroht haben. Die Anklage für E. lautet auf Totschlag, bei einer Verurteilung droht ihm Sicherungsverwahrung. Daniel K. hingegen wird nur gefährliche Körperverletzung vorgeworfen. Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass er seinem Begleiter lediglich das Pfefferspray übergeben hat, bevor der Ältere dann zustach. Die Familie von Kamal K. hat inzwischen Mühe daran zu glauben, dass vor Gericht die Wahrheit zu Tage kommt. „Schließlich haben einige Medien am Anfang sogar behauptet, es habe sich um einen Streit im Türsteher-Milieu gehandelt“, sagt Ali K. Auch dass Daniel K., Sohn eines sächsischen Polizisten, trotz einschlägiger Vorstrafen und laufender Bewährung vier Tage vor Weihnachten nach nur sechs Wochen aus der Untersuchungshaft entlassen wurde und über seinen Verteidiger verbreiten lässt, er sei schon seit 2008 aus der Neonaziszene ausgestiegen, vertieft das Misstrauen der Familie.

Lediglich 26.968 Ausländer leben in Leipzig, der zweitgrößten Stadt in Sachsen mit rund einer halben Million Einwohner. Der gewaltsame Tod von Kamal K. hat besonders unter migrantischen Jugendlichen für erhebliche Unruhe gesorgt. Ältere Einwanderer erinnern die Umstände des Falls an die Ermordung eines syrischen Gemüseverkäufers in der Leipziger Südvorstadt in den 1990er Jahren, der von zwei Naziskins erstochen wurde. Rein statistisch ereignete sich in Sachsen in 2010 alle drei bis vier Tage eine politisch rechts motivierte Gewalttat. Sachsens seit 2009 amtierender Ausländerbeauftragter Martin Gillo (CDU) nahm an Kamal K.’s Beerdigung teil. Er habe damit „ein Zeichen setzen wollen, dass wir mit der Familie mittrauern und ihr Schicksal uns nicht gleichgültig ist“.  Sein älterer Bruder kann den Tod von Kamal bis heute noch nicht fassen: „Kamal dachte wirklich, er gehöre einfach dazu.“

Von Heike Kleffner