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Der vergessene Widerstand: Leipzigs Jugend gegen Hitler

 

Sie kleideten sich unangepasst, hatten ihren eigenen Dresscode, leisteten aktiven Widerstand und wollten selbstbestimmt leben. Bis zu 1.500 Jugendliche standen als Mitglieder der „Leipziger Meuten“ in der Zeit des Nationalsozialismus in Opposition zur Hitlerjugend und dem Regime. Ihre Geschichte ist bisher nahezu unbekannt. Der Leipziger Historiker Sascha Lange im Gespräch über die Jugendcliquen aus seiner Heimatstadt.

Herr Lange, Sie haben Ihre Doktorarbeit über die „Leipziger Meuten“ geschrieben und nun ein populärwissenschaftliches Buch zum Thema verfasst. In welcher Zeit bewegen wir uns, wenn wir über die „Meuten“ sprechen?

Belegbar tauchten die ersten Gruppen um 1936/37 in der Öffentlichkeit auf. Wir sprechen von einer Zeit, in der bereits fast 100 Prozent der Gymnasiasten in der Stadt Mitglied der Hitlerjugend waren, während zur selben Zeit an den Berufsschulen nahezu die Hälfte nicht in der NS-Nachwuchsorganisation aktiv war. Die Pflicht zur Mitgliedschaft in der HJ gab es zwar erst ab 1939, doch der Druck durch die Schulen war schon lange vorher ernorm groß, verringerte sich jedoch mit Eintritt in die Lehre.

Aus welchen Gesellschafts- und Altersschichten setzten sich die „Meuten“ zusammen?

Es handelte sich bei den knapp 1.500 Jungen und Mädchen, die sich auf etwa zwanzig bekannte Meuten im Stadtgebiet verteilten, hauptsächlich um Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren. Zum überwiegenden Teil kamen sie aus den Arbeitervierteln und waren durch sozialdemokratische oder kommunistische Elternhäuser geprägt. Viele waren vor 1933 in entsprechenden Jugendorganisationen oder der Bündischen Jugend aktiv.

Wie kann man sich den Alltag dieser „Meuten“ vorstellen?

Die Straße war schon seit den 1920ern das verlängerte Wohnzimmer für viele Jugendliche, daher unterscheidet sich der Alltag im wesentlichen kaum von Teenagern anderer Generationen. Man traf sich mit Freunden auf öffentlichen Plätzen und hing zusammen rum. Die Gespräche kreisten um den Alltag und um typische Teenagerprobleme. Am Wochenende oder in den Ferien organisierte man Fahrten in die Natur.

Gab es ähnlich wie heute subkulturelle Codes oder Kleidung, die eine Zugehörigkeit zu den Meuten demonstrierten?

Kleidung war ein wichtiges Thema. Man wollte sich äußerlich abgrenzen und zeigen, dass man nicht zur Hitlerjugend gehört. Vor allem die Jungs trugen kurze Lederhosen, karrierte Hemden und bunte Halstücher – einige trugen auch rote Halstücher, um ihre linke Gesinnung nach außen zu tragen. Besonders wichtig waren Abzeichen. Manche Meuten trugen Totenkopfabzeichen, manche auch Eheringe, ohne dass sie verheiratet waren.

Wie waren die Meuten hinsichtlich des Geschlechts zusammengesetzt?

Grundsätzlich waren die Meuten männlich geprägt, aber in einigen waren auch junge Frauen aktiv. Die Aktenlage ist schwierig, da die Gestapo die Mädchen zu sexuellen Objekten degradierte. Durch Recherchen und Zeitzeugengespräche ist jedoch klar, dass sie nicht nur schmückendes Beiwerk, sondern fester und gleichberechtigter Bestandteil in ihren Meuten waren.

Kam es zu Konflikten zwischen den verschiedenen Meuten?

Überhaupt nicht! Es herrscht eine starke Solidarität unter den Gruppen. In einer Zeit, in der die Hitlerjugend die einzige legale Jugendgruppe war, stärkte die Gewissheit der Existenz anderer Meuten den Zusammenhalt untereinander. Ein damaliges Meutenmitglied hat mir in einem Gespräch erzählt, dass es nicht ungewöhnlich war, auf der Straße andere Meutenmitglieder zu grüßen, auch wenn man sie nicht persönlich kannte. Man muss klar sagen, die „Leipziger Meuten“ waren keine Erscheinung eines großstädtischen Rowdytums, bei dem es nur darum ging, auf Biegen und Brechen die Hegemonie in einem Wohnviertel zu bekommen. Man hatte das Bewusstsein einer gegnerischen Jugendbewegung

Welche Rolle spielte Politik für die Gruppen?

Gerade bei den Jugendlichen, die aus einem linken Milieu kamen, kreisten Gespräche und Diskussionen um den Bürgerkrieg in Spanien oder den Einmarsch der Deutschen in Österreich. Wenn Angehörige der Hitlerjugend durch diese Straßen oder Kieze zogen, gab es Ärger, die waren für alle Meutenmitglieder die Feinde. Die HJler wurden dann angepöbelt oder es wurde direkt die körperliche Auseinandersetzung gesucht.

Kann man die Meuten als Teil des aktiven Widerstands einordnen?

Man kann nicht rekonstruieren, wieviele der Leipziger Meuten sich aktiv durch geplante Aktionen gewehrt haben. Widerstand ist vor allem von der Meute „Reeperbahn“ aus Lindenau, der Meute „Hundestart“ in Kleinzschocher und der Meute „Lille“ in Reudnitz bekannt. Zu den Aktionen zählten Übergriffe auf Anhänger der HJ und HJ-Heime, damals gab es auch noch viele Schaukästen auf den Straßen, in denen Bekanntmachungen hingen, diese wurden eingeschlagen, wenn dort Propaganda der HJ aushing. Es gab auch Streuzettel, also kleine Papierschnippsel, auf denen mit Kinderstempeln der Spruch „HJ verrecke“ aufgedruckt wurde, um sie anschließend in den Wohngebieten zu verteilen. Viele dieser Aktionen wurden von Jugendlichen aus dem sozialdemokratischen oder kommunistischen Milieu durchgeführt. Aber es gab auch Widerstand von jungen Menschen, die sich eher zu den Bündischen Gruppen der 20er Jahre hingezogen gefühlt haben. Von diesen wissen wir, dass sie Solidaritätsaktionen für verhaftete Meutenmitglieder aus anderen Meuten gemacht haben, die sie überhaupt nicht persönlich kannten.

Wann sahen sich die Meuten Repressionen durch Gestapo und anderen NS-Behörden ausgesetzt?

Ab 1937 beschäftigte sich die Gestapo mit den Meuten, doch erst im Verlauf des Jahres 1938 wurde den Nationalsozialisten durch zunehmende Verhöre bewusst, dass es in den Gruppen auch um Politik ging. Ihre Verfolgung setzte dann verstärkt ein. Der Plan der NS-Justiz war, durch abschreckende Urteile gegen wenige die Masse zu verunsichern und zum Rückzug zu bewegen. Im Oktober 1938 gab es zwei Hochverratsprozesse vor dem Volksgerichtshof hier in Leipzig, mit Verurteilungen zu 5 bis 8 Jahren Zuchthaus. Einige der Angeklagten endeten letztlich auch im Konzentrationslager. Die angedachte Abschreckung unter den Leipziger Meuten trat danach jedoch nicht ein. Deswegen ging man dann ab Anfang 1939 dazu über, möglichst viele Ermittlungsverfahren einzuleiten und viele Jugendliche zu verurteilen. Es gab dann noch weitere Hochverratsprozesse mit langen Haftstrafen und es wurde durch das Leipziger Jugendamt ein Jugendschulungslager eingerichtet, wo man annahm, man könne diese politisch „unzuverlässigen“ Jugendlichen analog einem KZ für Erwachsene auf unbestimmte Zeit inhaftieren und sie durch harte körperliche Arbeit und weltanschauliche Schulungen zu überzeugten Nationalsozialisten formen. Diese Maßnahmen wurden dann 1939 massiv angewandt, was dazu führte, dass ein Großteil der Leipziger Meuten aus der Öffentlichkeit verschwand. Aber auch nach 1940 haben in Leipzig noch Meuten existiert, wenn auch in einem kleineren Rahmen.

Bekannt ist der Widerstand von jungen Menschen aus Zusammenhängen wie den „Edelweißpiraten“ oder der „Weißen Rose“. Sind die Leipziger Gruppen ein lokales Phänomen gewesen?

Die Leipziger Meuten waren nicht einmalig in Deutschland, gleichwohl waren sie eine der größten Gruppen innerhalb der oppositionellen Jugendbewegung. Solche Cliquen gab es aber überall, allerdings steckt die Forschung darüber noch in den Kinderschuhen. Generell gab es Jugendopposition während der Zeit des Nationalsozialismus auch in anderen Ländern, etwa in Frankreich während der deutschen Besatzung.

Wieso haben die „Leipziger Meuten“ bisher kaum Beachtung gefunden, hatte nicht vor allem die DDR ein Interesse, Widerstandsgruppen aus dem Osten in ihre Geschichtsschreibung einfließen zu lassen?

Geschichtswissenschaftlern sind die Leipziger Meuten seit den 1970er Jahren ein Begriff, aber in der breiten Öffentlichkeit sind sie bis heute nahezu unbekannt. In der DDR waren sie nicht Teil der Erinnerungskultur, da der Widerstand von deutschen jenseits der KPD nicht in das Bild des von KPD-Kadern geführten Widerstands passte. Diese Jugendlichen dienten in den Augen der DDR-Offiziellen auch nicht als Vorbilder, da sie nicht heldenhaft für irgendwelche kommunistischen Organisationen Zeitungen in Briefkästen gesteckt haben und dafür ins Zuchthaus mussten. Natürlich kann man diesen Widerstand nicht schmälern, aber erst in den 1980ern wurde der Widerstandsbegriff in der DDR verbreitert. Trotz dessen erschien dann nur eine Diplomarbeit über die Meuten.

Wie könnten die Meuten Ihrer Meinung nach Ausdruck in der Erinnerungskultur finden?

Es macht keinen Sinn, für die Leipziger Meuten irgendwo ein Denkmal zu setzen oder eine Straße nach ihnen zu benennen. Es macht nur Sinn, diese Geschichte lebendig zu halten. Und das ist auch der Gedanke meines Buches. Es ist keine tiefgreifende wissenschaftliche Analyse, ich wollte ein populärwissenschaftliches Buch haben, mit dem man selbst auf Spurensuche gehen kann. Und wenn dann Jugendliche vielleicht darüber diskutieren, mit Blick auf Ortschaften wie Limbach-Oberfrohna, wo Jugendliche mit einer extrem rechten Hegemonie konfrontiert sind und in einer permanenten Verteidigungssituation sind und wo sie scheinbar nicht der Rechtsstaat beschützt, sondern wo sie sich selber beschützen müssen, ob es nicht Parallelen gibt. Die Jugendlichen müssen sich behaupten, selber aktiv werden, es geht in solchen Gemeinden für nicht-rechte Jugendliche manchmal um Leib und Leben und kann man sie deshalb als Extremisten bezeichnen? Das ist eine rhetorische Frage, die sich alle einmal stellen sollten.

Das Interview führten Maik Baumgärtner und Julien Mechaussie. Das Buch kann hier bestellt werden. Weitere Informationen zum Thema gibt es unter www.leipziger-meuten.de