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Berliner Verfassungsschutz jetzt auch mit Reißwolf-Affäre

 

Das Schreddern von Akten zu Neonazis ist schon der zweite Berliner Skandal in der NSU-Aufklärung. Die vernichteten Ordner enthielten Daten zur Rechtsrockszene, aus der auch der umstrittene V-Mann der Berliner Polizei stammte. Innensenator Henkel muss nun viele Fragen beantworten.

Von den Tagesspiegel-Autoren Hannes Heine und Christian Tretbar

Das Schreddern von Verfassungsschutzakten hat einen neuen Skandal rund um die Neonazi-Terrorzelle NSU provoziert. Die Opposition im Abgeordnetenhaus hat eine Sondersitzung des Verfassungsschutzausschusses gefordert, der Freitag tagen wird. In der Kritik stehen Innensenator Frank Henkel (CDU) und Verfassungsschutzchefin Claudia Schmid. Wie berichtet waren noch im Juni 2012 auf dem Höhepunkt der Debatte um den Umgang mit Akten zum Rechtsextremismus 57 derartige Ordner vernichtet worden, als die übliche Zehn-Jahres-Aufbewahrungsfrist erreicht war.

Darunter befanden sich Daten zur Musikgruppe „Landser“, in deren Umfeld sich Helfer des NSU bewegten – so auch der V-Mann der Berliner Polizei, dessen Tätigkeit im September zum Skandal wurde, nachdem Henkel sie verschwiegen hatte. Besonders brisant ist, dass der Landesarchivar 32 der Ordner als historisch wertvoll eingestuft und deren Aufbewahrung gefordert hatte. Hinzu kommt, dass beim Entheften der Ordner zum Schreddern im Geheimschutzraum des Senats der zuständige Referatsleiter des Verfassungsschutzes half, also jener Mann, der direkt unter Behördenchefin Schmid für Rechtsextremismus verantwortlich ist. Der Spitzenbeamte ist derzeit krankgeschrieben.

„Für diese Panne beim Verfassungsschutz kann ich nur um Entschuldigung bitten“, sagte Henkel am Mittwoch. „Es ist nicht vermittelbar, wie in einer derart sensiblen Phase so etwas passieren konnte.“ Schmid sagte, dass der Fehler „nie hätte passieren dürfen“.

Doch auch die interne Reaktion des Innensenators auf die Vorgänge setzt die Landesregierung weiter unter Druck, ähnlich wie im September, als eher beiläufig bekannt wurde, dass die Polizei elf Jahre lang einen V-Mann führte, der Hinweise auf die NSU-Terroristen gegeben hatte: Schmid hatte im September angewiesen, noch mal alle Akten auf NSU-Bezug zu prüfen, auch die schon an das Landesarchiv übergebenen. Dabei – also fast zufällig – wurde bekannt, dass Akten fälschlicherweise vernichtet wurden. Die Verfassungsschützerin Schmid informierte Henkel am 15. Oktober, der Senator schaltete daraufhin Oberstaatsanwalt Dirk Feuerberg ein, der als Sonderermittler die Pannen in der NSU-Affäre aufklären soll. Das Parlament aber informierte Henkel nicht. Grüne, Linke und Piraten fragen, warum sie erst am Dienstag davon erfuhren. „Der Senator hatte nach der V-Mann-Affäre Aufklärung angekündigt, passiert ist wenig“, sagte die Abgeordnete Clara Herrmann (Grüne). Die Linke hat für Freitag 35 Fragen an Henkel vorbereitet, etwa warum nicht schon früher sämtliche Akten durchforstet wurden.

Mögliche Vergehen der Verfassungsschützer ergeben sich dadurch, dass sie Weisungen des Landesarchivars ignoriert haben, obwohl dieser gesetzlich ermächtigt ist, Akten zur Aufbewahrung anzufordern. Außerdem hat die Innenverwaltung, der Polizei und Verfassungsschutz unterstehen, womöglich Beschlüsse des NSU-Untersuchungsausschusses des Bundestages ignoriert: Im März hatte der Ausschuss beschlossen, alle Akten zu Neonazis auf Hinweise zu den Terroristen zu sichten. „Danach hätte jedem klar sein müssen, dass Akten – gerade zur Rechtsrockszene – nicht geschreddert werden dürfen“, sagte der Innenexperte der Grünen, Benedikt Lux.

Der Chef des NSU-Untersuchungsausschusses, Sebastian Edathy (SPD), sagte dem Tagesspiegel: „Das muss dringend aufgeklärt werden. Jetzt liegt es auch an den Kollegen im Berliner Abgeordnetenhaus, in diesem Fall Licht ins Dunkel zu bringen.“ Zurückhaltender sagte SPD-Obfrau Eva Högl, man solle abwarten, wie bedeutsam die vernichteten Akten waren. FDP-Obmann Hartfrid Wolff sagte: „Der Vorfall zeigt, dass es dringend in allen Ländern ein Aktenvernichtungsmoratorium im Zusammenhang mit dem NSU und dessen Umfeld geben muss.“ Vom Verfassungsschutz hieß es, man versuche, die geschredderten Akten zu rekonstruieren.