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Oh mein Gott, Sie Arme!

 

Wenn man als Rollstuhlfahrerin fliegt, ist das jedes Mal immer ein kleines Abenteuer. Ich fliege dennoch sehr viel und sehr gerne. Daher kenne ich die Abläufe. Mich bringt so schnell nichts aus der Ruhe. Ich schule selbst Personal in der Luftfahrtbranche, ich kenne alle Kürzel und kenne den Checkin-Vorgang vorwärts und rückwärts. Und vergisst mal jemand auch meinen Rollstuhl mit einem Anhänger zu versehen, erinnere ich auch gerne daran. Sie gehören zur Kategorie „Beliebter Fluggast“ sagte neulich eine Checkin-Mitarbeiterin zu mir und ja, ich gebe mir Mühe, mir selbst und allen, die mit meinem Flug betraut sind, das Leben so einfach wie möglich zu machen.

Ich buche mir zum Beispiel immer einen Fensterplatz. Das hat einen guten Grund. Denn behinderte Fluggäste werden (wenn nicht irgendjemand irgendwas verbockt) immer zuerst in den Flieger gebracht. Das erleichtert das Boarden mit dem Bordrollstuhl enorm, denn es steht keiner im Gang herum beispielsweise.

Wenn ich also einen Gangplatz habe, kommt beim Einsteigen niemand mehr an mir vorbei, der auf den Mittelplatz oder Fensterplatz muss, denn ich kann ja nicht aufstehen. Aber zum Fenster durchrücken kann ich. Nicht alle behinderten Passagiere können das, aber bei mir geht das.

Gang statt Fenster

Heute habe ich beim Checkin nicht gut genug aufgepasst. Ich hatte eine sehr unsichere Mitarbeiterin am Checkin, die mehrmals zu ihrer Chefin lief und jeden einzelnen Schritt mit ihr absprach. Sie hatte absolut keine Routine, behinderte Fluggäste einzuchecken. Als sie mir endlich die Bordkarte gab, war ich froh, einen Platz weit vorne zu haben. Das erleichtert mir und den Assistenten von Flughafen den Einsteigevorgang. Man muss mit dem Rollstuhl nicht durch den ganzen Flieger, was angesichts der Gangbreite eh schon schwierig genug ist.

Erst später bemerkte ich, dass sie mir einen Gangplatz statt einen Fensterplatz gegeben hatte. Auch das ist manchmal gar nicht so tragisch, denn manchmal blocken Fluggesellschaften auch schon mal die ganze Reihe, wenn die Maschine nicht ausgebucht ist und sie wissen, dass ein Fluggast, der nicht gehen kann, mitfliegt.

Lautstarke Mitleidbekundung

Ich machte die Flugbegleiterin nach dem Einsteigen darauf aufmerksam, dass ich einen Gangplatz hatte und nicht aufstehen könne und auch sie ging davon aus, dass jemand mitgedacht hatte und die Reihe geblockt hatte. Die Maschine war nicht ausgebucht. Aber keine zwei Minuten später erschien ein Pärchen, das offensichtlich die beiden Sitze neben mir hatte.

Ich sagte der Frau, dass ich nicht aufstehen könne, da ich Rollstuhlfahrerin bin und wollte ihr eigentlich anbieten, zum Fenster durchzurücken, um ihr den Gangplatz zu überlassen. Aber soweit kam ich gar nicht. Als ich das Wort „Rollstuhlfahrerin“ ausgesprochen hatte, rief sie für die Situation bei weitem zu laut und für alle umliegenden Sitzreihen unüberhörbar: „Oh mein Gott! Sie Arme!“. Die benachbarten Passagiere neben mir starrten mich auf einmal alle an als hätte ich gerade gesagt, dass ich den Flug vermutlich nicht überleben werde.

Die für alle unüberhörbare Mitleidsbekundung der Frau alarmierte die Flugbegleiterin, die sofort angesprintet kam und ihnen sagte, sie sollten mit ihr nach hinten kommen. Da hätte sie Plätze für sie. So hatte ich die Reihe doch für mich alleine. Überlebt habe ich den Flug natürlich auch. Mit einem Glas Weißwein.