Lesezeichen
‹ Alle Einträge

Mit Prothesen und Rollstühlen – behinderte Flüchtlinge auf dem Weg nach Deutschland

 

Ein Flüchtling schiebt am 06.09.2015 bei der Ankunft am Hauptbahnhof in München (Bayern) einen älteren Mann, der im Rollstuhl sitzt, über den Bahnsteig zu einem anderen Zug. Foto: Andreas Gebert/dpa +++(c) dpa - Bildfunk+++
Ankunft am Hauptbahnhof in München: Ein Flüchtling schiebt einen älteren Mann im Rollstuhl zu einem anderen Zug. Foto: Andreas Gebert/dpa

Ich gebe zu, ich war ein wenig überrumpelt, als mich der Mann plötzlich umarmte. Er ist einer von Tausenden Flüchtlingen, die gestern in Wien ankamen. Die meisten von ihnen reisen nach Deutschland weiter. Er gehört zu den vielen behinderten Menschen, die sich auf den beschwerlichen Weg nach Europa begeben haben – mit Prothesen und Rollstühlen haben sie lange Märsche hinter sich. Viele haben im Krieg Gliedmaßen verloren.

Behinderte Menschen auf der Flucht

Der Mann, der mich so urplötzlich umarmte, war stark geh- und sprachbehindert. Wenn ich ihn richtig verstanden habe, kam er aus dem Libanon. Er zeigte, wie unendlich froh er war, in Europa zu sein. Er war auch froh, einen anderen offensichtlich behinderten Menschen zu treffen. Er wollte mich gar nicht mehr loslassen. Und so ließ ich mich umarmen und wünschte ihm noch eine gute Weiterreise. Das war sicher eines der schönsten Erlebnisse gestern am Hauptbahnhof, das ich so schnell nicht vergessen werde.

Ich habe fast den ganzen Tag am Wiener Hauptbahnhof verbracht und hatte, ehrlich gesagt, mit mehr behinderten Menschen gerechnet. Denn über Twitter und die Medien hatten sich Bilder von Menschen mit Behinderungen auf dem „Marsch der Hoffnung“ verbreitet. Ich sah einen Mann, der die Prothese eines anderen Flüchtlings trug, der mit Gehhilfen auf dem Weg nach Österreich war. Es gab Bilder von Flüchtlingen im Rollstuhl, die von anderen Flüchtlingen über Stock und Stein geschoben wurden.

Ich traf am Hauptbahnhof einen Arabisch-Dolmetscher im Rollstuhl, der bislang auch recht wenige behinderte Flüchtlinge gesehen hatte. Eine andere Dolmetscherin erklärte mir, sie sei an der ungarisch-österreichischen Grenze im Einsatz gewesen und einige behinderte Menschen seien dort versorgt und nicht, wie die anderen, sofort in Zügen und Bussen nach Wien weitergeschickt worden. Viele seien zu erschöpft gewesen.

Als ich mich noch mit dem Dolmetscher unterhielt, passierte etwas Lustiges: Eine Physiotherapeutin kam ganz aufgeregt zu uns geeilt, weil sie glaubte, wir seien zwei rollstuhlfahrende Flüchtlinge. Auch sie hielt offensichtlich Ausschau nach den behinderten Flüchtlingen. Aber wir konnten sie dann schnell beruhigen, dass es uns gutgehe und wir lediglich ein Dolmetscher und eine Journalistin seien.

Unvorstellbare Strapazen

Es ist kaum vorstellbar, was Menschen durchgemacht haben, die auf Prothesen oder im Rollstuhl oder mit anderen Behinderungen Tausende Kilometer hinter sich gebracht haben.

Wenn mir schon eine kopfsteingepflasterte deutsche Fußgängerzone Probleme bereitet, wie muss es erst sein, wochenlang im Rollstuhl über grüne Wiesen und Bahngleise vorwärts zu kommen? Auch die Flüchtlingslager sind längst nicht alle barrierefrei. Es gibt zum Beispiel nicht überall Sanitäranlagen für Rollstuhlfahrer. Insgesamt ist die Flüchtlingssituation für Menschen mit Behinderungen noch um ein vielfaches schwieriger als für nichtbehinderte Menschen. Länger als 12 Stunden zu sitzen beispielsweise, ist für viele Rollstuhlfahrer eine Qual.

Auch die Versorgung von Wunden oder Inkontinenz ist auf der Flucht ein großes Problem. Ich habe großen Respekt vor jedem behinderten Flüchtling, der es überhaupt nach Europa schafft. Viele von ihnen werden hier Rollstühle und andere Hilfsmittel benötigen sowie eine gute medizinische Versorgung.

In der UN-Behindertenrechtskonvention heißt es:

Artikel 11 Gefahrensituationen und humanitäre Notlagen

Die Vertragsstaaten ergreifen im Einklang mit ihren Verpflichtungen nach dem Völkerrecht, einschließlich des humanitären Völkerrechts und der internationalen Menschenrechtsnormen, alle erforderlichen Maßnahmen, um in Gefahrensituationen, einschließlich bewaffneter Konflikte, humanitärer Notlagen und Naturkatastrophen, den Schutz und die Sicherheit von Menschen mit Behinderungen zu gewährleisten.

Die Länder, die sich um eine gute Versorgung von behinderten Flüchtlingen bemühen, handeln im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention. Sie wird so zu einer Verpflichtung, die mit Leben gefüllt wird, statt nur ein gedruckter Text ist, den viele Länder unterzeichnet haben. Nicht nur von der Politik, sondern von allen Menschen, die derzeit an Bahnhöfen und in Flüchtlingsunterkünften Hilfe – auch für behinderte Flüchtlinge – leisten.