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Sündenbock behinderte Kunden

 

Wenn man Rollstuhlfahrerin ist, kann man sich über mangelnde Aufmerksamkeit nicht beschweren. Man geht ja nicht einfach so in der Masse unter. Man gewöhnt sich irgendwann daran, aber ein besonderes Erlebnis ist es dann doch jedes Mal, wenn einem per Lautsprecherdurchsage eine gewisse Aufmerksamkeit zuteilwird, weil man für das, was gerade schief läuft, verantwortlich gemacht wird.

Vergangenen Sonntag ist mir das wieder passiert. Ich saß am Gate, wartete auf den Abflug nach London. Aber die Assistenz kam nicht. Nein, es überraschte mich nicht wirklich, denn zu Weihnachten oder zum Ferienstart oder auch schon mal ganz ohne Grund kommt die Assistenz an Flughäfen einfach nicht oder zumindest viel zu spät, weil sie im Zweifelsfall unterbesetzt sind. Das ist umso ärgerlicher, weil behinderte Passagiere eigentlich als Erste einsteigen. Auch das hat einen Grund, denn mit dem Bordrollstuhl braucht man Platz und auch ein bisschen Ruhe und es ist insgesamt nicht hilfreich, wenn die Passagiere schon sitzen oder gar im Gang rumstehen.

Zehn Minuten verspätet

Aber die Assistenz kam erst mal nicht und so begann das Boarding verspätet. Der Rest der Passagiere bekam das teilweise mit, das Bodenpersonal telefonierte unüberhörbar und sprach mehrfach mit mir. So weit, so normal. Bis alle eingestiegen waren, war die Maschine rund zehn Minuten verspätet. Wir saßen endlich alle. Dann kam die Durchsage des Piloten: Er bedauere die Verspätung, aber das Boarden habe heute ungewöhnlich lange gedauert. Warum, könne er sich auch nicht erklären, das sei aber schon sehr ärgerlich. Meine Sitznachbarn nickten mir daraufhin freundlich zu. Ich kann von Glück sagen, dass niemand sagte: „Ja, wegen Ihnen sind wir jetzt zu spät.“ Besonders toll ist auch, sich solch eine Durchsage gleich in zwei Sprachen anhören zu dürfen – erst auf Deutsch und dann auf Englisch. Natürlich kann ich nichts dafür, dass die Abläufe an Flughäfen nicht so sind, wie sie sein sollten, aber mir ist natürlich dennoch klar, dass für den einen Großteil der Passagiere die Rollstuhlfahrerin auf Platz 6A – nämlich ich – den Flug aufgehalten hat.

Verspätungsgrund: zwei Rollstuhlfahrer

Nun muss man dem Piloten zugutehalten, dass er nicht wusste, warum das Boarden so lange dauerte und er mir sicher nicht ein unangenehmes Gefühl vermitteln wollte, aber angenehm ist das dennoch nicht. Was aber Bloggerin Laura Gehlhaar mit der Bahn erlebt hat, toppt das bei Weitem. Sie stieg gemeinsam mit einer anderen Rollstuhlfahrerin in einen ICE ein, der völlig überfüllt war. Es war halt Weihnachten. Auch dort dauerte das Einsteigen etwas länger, weil viele Menschen einsteigen wollten. Und als sie an ihrem Platz angekommen war, hörte sie die Durchsage des Schaffners: „Sehr geehrte Fahrgäste, der Zug fährt mit elf Minuten Verspätung los. Wir mussten erst zwei Rollstuhlfahrer einladen.“

Sie hatte also die Verspätung nicht einmal verursacht, jedenfalls nicht mehr als alle anderen Passagiere auch, die in den Zug einsteigen wollten, wurde aber erst mal zum Sündenbock für alle anderen Hunderten von Reisenden in dem Zug gemacht. Zu gütig von dem Schaffner, nicht gleich noch ihre Sitzplatznummer durchzugeben, damit sich die anderen Passagiere bei ihr direkt beschweren können.

Die Bahn kann die Aufregung über das Verhalten ihres Schaffners indes nicht so ganz verstehen. Auf Twitter reagierte man so:

Vielleicht sollte man der Bahn mal erklären, dass man nicht einzelne Kunden über die Lautsprecheranlage an den Bahnpranger stellt, schon gar nicht solche, die die Verspätung nicht einmal verursacht haben. Auch die Nutzung eines Hublifts dauert keine elf Minuten, sondern vielleicht zwei. Aber ist doch egal, Hauptsache, der Schaffner hat zwei Sündenböcke gefunden.

Die Behinderung eines Kunden als Ausrede für die eigenen Unzulänglichkeiten zu benutzen, ist nicht nur unverschämt. Es ist auch diskriminierend. Selbst wenn die beiden Rollstuhlfahrer den Zug aufgehalten hätten: Auch sie haben ein Recht, in einen Zug zu steigen. Ohne an einen Pranger gestellt zu werden. Man könnte zumindest mal eine Sekunde darüber nachdenken, wie sich die Kunden fühlen, die solch eine negative Aufmerksamkeit bekommen.