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Ohne die Wirtschaft keine Inklusion

 

Ich bin in Hessen und Rheinland-Pfalz aufgewachsen, habe danach viele Jahre in Hamburg gelebt, trotzdem ist Berlin mein Lieblingsbundesland. Das hat unter anderem damit zu tun, dass ich Berlin im Vergleich zu anderen Bundesländern als relativ barrierefrei empfinde, vor allem was die Anzahl der barrierefreien Toiletten in öffentlichen Einrichtungen und Restaurants angeht.

Ab 50 Quadratmetern ist eine Behindertentoilette Pflicht

Berlin hat allerdings schon lange eine recht gute Gesetzgebung. Ein Beispiel: Ab einer Schankraumfläche von 50 Quadratmetern muss mindestens eine Toilettenanlage für behinderte Gäste benutzbar sein. Das macht sich in der Stadt bemerkbar: Berlin hat im Vergleich zu anderen Bundesländern relativ viele Restaurants, wo auch ich zur Toilette gehen kann. Das Verwaltungsgericht in Berlin hat diese Regelung aber gerade für bestehende Restaurants, die vor 2002 gebaut wurden und übernommen wurden, gekippt (Urteil der 4. Kammer vom 22. Januar 2016 (VG 4 K 169.15)). Sie stünde mit dem Bundesrecht nicht in Einklang. Allerdings hat das Gericht wegen der grundsätzlichen Bedeutung die Berufung zum Oberverwaltungsgericht zugelassen.

Gleichzeitig hat der Bundesrat am Freitag über den Gesetzentwurf zur Weiterentwicklung des Behindertengleichstellungsrechts der Bundesregierung beraten. Hierzu empfiehlt der federführende Ausschuss für Arbeit, Integration und Sozialpolitik des Länderparlaments, Barrierefreiheit auch für private Anbieter von öffentlichen Angeboten festzuschreiben. Bislang hat sich mit dem Behindertengleichstellungsgesetz lediglich der Bund zur Barrierefreiheit verpflichtet.

Nicht nur der Bund ist gefragt

Inklusion und Teilhabe wird ohne die Privatwirtschaft aber nicht funktionieren. Wir gehen in Supermärkte, Cafés, Restaurants, Kaufhäuser, fliegen in den Urlaub und gehen ins Kino. Außerdem schaffen private Unternehmen Arbeitsplätze, die auch behinderte Menschen brauchen und gut ausfüllen können. Es ist also nicht realistisch zu glauben, ein Behindertengleichstellungsgesetz sei ausreichend, wenn es nur den Staat in die Pflicht nimmt.

Wer wirklich möchte, dass behinderte Menschen endlich in der Mitte der Gesellschaft ankommen, der darf sich nicht davor fürchten, privaten Unternehmen Auflagen zu machen. Ausgerechnet Länder wie Großbritannien und die USA schaffen das, obwohl sie nicht gerade als wirtschaftsfeindlich bekannt sind. Aber die Politik in Deutschland traut sich immer noch nicht, Privatunternehmen zur Barrierefreiheit zu verpflichten.

Verhältnismäßigkeit

Wichtig dabei: Verhältnismäßigkeit. Es geht nicht darum, dem kleinen Eckkiosk am Ende der Straße einen 100.000 Euro teuren Lift vorzuschreiben, aber für große Banken sollte das kein Problem sein. Im sehr bankenfreundlichen Großbritannien gab es dazu vor ein paar Jahren ein interessantes Urteil. Die Royal Bank of Scotland wurde dazu verurteilt, in eine ihrer Filialen einen Lift einzubauen. Geklagt hatte ein 17-jähriger Rollstuhlfahrer, der seine Schecks nicht einzahlen konnte, weil seine örtliche Filiale nicht barrierefrei war. Ein klassischer Fall von David gegen Goliath. Die Bank hat haushoch verloren. Das Gericht befand, die Bank hätte sich den Umbau durchaus leisten können. Es sei daher verhältnismäßig, von ihr zu verlangen, einen Lift einzubauen.

Dass das Verwaltungsgericht in Berlin die Berliner Regelung gekippt hat, weil sie mit dem Bundesrecht nicht übereinstimmt, zeigt wie wichtig es wäre, auch im privaten Bereich bundeseinheitliche Regelungen zur Barrierefreiheit zu schaffen. Und da meine ich bewusst nicht nur Neubauten. Deutschland muss anfangen umzubauen und nachzurüsten, sonst reden wir in 100 Jahren noch darüber, wie wenig barrierefrei Deutschland ist.