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Debattenkultur: Wenn Randgruppen nicht mehr am Rand stehen

 

„Randgruppen-Artikel“ steht über dem Text. Das ist, zugegeben, keine sehr originelle Überschrift, aber der Text selbst hat es in sich. Er stammt aus der Abizeitung der Liebfrauenschule im hessischen Bensheim aus dem Jahr 1996. Der ironische Text macht die Leser darauf aufmerksam, dass sich im Abiturjahrgang der katholischen Mädchenschule nicht weniger als 41 Randgruppen befunden hätten – und das bei einer Jahrgangsgröße von etwas mehr als 90 Abiturientinnen.

Moralapostel und Sommersprossige

Er zählt Randgruppen auf wie Moralapostel, Sommersprossige, Rothaarige, Menschen mit penetranter Lache und viele mehr. Der Text ist lustig, wenn man die Beschriebenen und die Geschichten hinter den Beschreibungen kennt. Geschrieben haben ihn meine beiden Schulfreundinnen Sally und Silvia und ich. Zwei ausländische und eine behinderte Abiturientin erklären den Rest des Jahrgangs und sich selbst zu einer Randgruppe und stellen damit das ganze Konzept auf den Kopf. Der Text ist kein journalistisches Meisterwerk – wir waren 19 – aber er hat dennoch eine Botschaft: Anders sein ist toll. Irgendwie ist fast jede in unserem Jahrgang anders. Deshalb ist das Randgruppen-Konzept überholt. Und deshalb machen ausgerechnet wir uns darüber lustig.

Als ich den Beitrag zur Debattenkultur Ein Volk der Beleidigten auf ZEIT ONLINE las, fiel mir der Text wieder ein. Simon Urban, Autor und Werbetexter, befürchtet nämlich, dass die Debattenkultur beschädigt wird, weil sich viele Menschen zu schnell beleidigt fühlen. Als ein Beispiel führt er einen Werbespot der Werbeagentur Jung von Matt für den Fremdsprachendienst Arenalingua an. Die Botschaft des Spots: Untertitel zerstören Filme. Lernt Englisch! Aktivisten wie Raul Krauthausen und Julia Probst hatten den Spot kritisiert. Denn Gehörlose brauchen Untertitel.

Simon Urban schreibt jedoch, Gehörlose seien mit dem Spot gar nicht gemeint gewesen. Außerdem: „Sämtliche Randgruppen melden dann noch mehr Ansprüche an, neue Randgruppen erfinden sich. Jeder will mal. (…) Die Bundesrepublik wird zur Mimosen-Zuchtstation. Und das politisch-korrekte Element noch bestimmender, als es ohnehin schon ist. Die Maßstäbe dafür, wer wirklich beleidigt wurde, wer sich glaubhaft beleidigt fühlen darf, verschwimmen endgültig.“

Randgruppen außer Rand und Band

20 Jahre nach dem Erscheinen meiner Abizeitung gibt es das Konzept von Randgruppen also immer noch. Und immer noch sind auch behinderte Menschen damit gemeint. Aber der Zusammenhang ist interessant: Leute stören sich daran, dass Randgruppen gar nicht mehr so am Rand stehen, sondern einfach sagen, wenn sie etwas stört. Es hört ihnen sogar jemand zu, wenn sie beispielsweise die Kampagne von Jung von Matt kritisieren. Internet und sozialen Medien sei Dank. Julia Probst und Raul Krauthausen haben gemeinsam allein auf Twitter mehr als 65.000 Follower. Kann es nicht einfach sein, dass sich die sogenannten Randgruppen einfach nicht mehr an den Rand drängen lassen? Weil sie zum Beispiel einen besseren Zugang zu Bildung haben als noch vor 20 Jahren. Weil Kommunikationsprofis wie Raul Krauthausen eben beides sein können: Kommunikationsprofi und behindert. Ist das nicht eigentlich etwas Positives?

Jahrzehntelang hat die Gesellschaft de facto von behinderten Menschen nichts anderes mitbekommen als Wum und Wendelin und die Aktion Sorgenkind. Mir ist schon klar, dass sie sich erst daran gewöhnen muss, dass das, was medial, politisch und in anderen Bereichen stattfindet nun auch von behinderten Menschen kritisch beäugt und kommentiert wird. Und nicht nur das: Mitglieder dieser Gruppe melden sich zu Wort, wenn sie meinen, diskriminiert, übergangen oder vergessen zu werden. In der Vergangenheit redete die Mehrheit. Die sogenannten Randgruppen waren stumm und wurden nicht gefragt.

Gewinn für die Debattenkultur

„Liberale Normalität“ wie Simon Urban es nennt, bedeutet nicht, dass die Mehrheit redet und die Minderheiten stumm nicken müssen, sondern dass möglichst viele Menschen an Diskussionen beteiligt werden und sich zu Wort melden können, wenn ihnen etwas nicht passt. Genau dafür braucht man aber beispielsweise Untertitel. Wie sollen gehörlose Menschen denn sonst wissen, über was im Fernsehen, im Kino, bei YouTube geredet wird? Genau deshalb reagieren gehörlose Menschen wie Julia Probst so allergisch darauf, wenn man sich über Untertitel lustig macht.

Niemand hindert die Werber daran, trotz der Kritik weiterhin so zu werben, behinderte Menschen nicht zu beachten oder sich über sie lustig zu machen, sie also weiterhin als Randgruppe zu behandeln. Aber eine Sache hat sich geändert: Auch in den ehemaligen Randgruppen gibt es immer mehr gebildete, politisch denkende, sprachgewandte und kommunikationsstarke Menschen. Man muss damit rechnen, dass sie sich zu Wort melden. Das ist ein Gewinn für die Debattenkultur, keine Gefahr!