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Aus Protest ins Heim

 

Der Aktivist und Rollstuhlfahrer Raul Krauthausen ließ sich mehrere Tage in einem Heim mit versteckter Kamera versorgen, um zu zeigen, wie massiv sich sein Leben ändern würde, sollte ihn der Staat ins Heim schicken, statt die Assistenz in den eigenen vier Wänden zu bezahlen. Er und andere behinderte Menschen sowie Rechtsexperten befürchten, dass das selbstbestimmte Leben behinderter Menschen eingeschränkt werden könnte, wenn das geplante Bundesteilhabegesetz verabschiedet wird, das heute im Bundestag behandelt wird.

Denn der Heimplatz ist oft billiger als die Assistenz zu Hause – aber der Preis, den die Betroffenen dann zahlen müssten, wäre hoch, wie Krauthausens Experiment gezeigt hat. Seine Intimsphäre wurde nicht mehr gewahrt, der Kühlschrank abgeschlossen und Ausgang gibt es eigentlich nur einmal im Monat, wie er bei Stern TV erzählte. Mehr gibt der Personalschlüssel einfach nicht her.

Das Ministerium sagte in einer Stellungnahme, es gehe darum, was „angemessen“ sei. Nur, wer entscheidet das? Der lokale Sozialhilfeträger, der ganz klar auf Einsparungen aus ist? Dann gilt „ambulant vor stationär“ nicht mehr. Dann erhöht sich der Druck auf die einzelnen Betroffenen, die wohl dann zunehmend in einem Heim landen werden, das ähnlich sein wird, wie das, in dem sich Raul Krauthausen zu seinem Experiment aufhielt. Adé Selbstbestimmung! Adé Teilhabe! Adé Intimsphäre!

Bundesweit Proteste

Es gab in den vergangenen Monaten bundesweit Proteste gegen das Gesetz. Am Mittwoch protestierte eine Gruppe blinder Menschen an der Spree in Berlin unter dem Motto Blinde gehen baden.

Auch sie befürchten Verschlechterungen mit dem neuen Gesetz. Bei der Bildung zum Beispiel. Denn blinde und sehbehinderte Menschen brauchen Unterstützung durch Vorlesekräfte und Hilfsmittel, wenn sie eine Ausbildung machen, zur Schule gehen oder studieren. Das Bundesteilhabegesetz würde ihnen jedoch Steine in den Weg legen, beispielsweise wenn sie eine weiterführende Schule besuchen, einen zweiten Abschluss erwerben oder nach einer Erblindung den bisherigen Beruf nicht mehr ausüben können und deshalb als Reha-Maßnahme studieren wollen, befürchtet der Blinden- und Sehbehindertenverband.

Zudem fordert der Verband eine bundeseinheitliche gerechte Blindengeldlösung. Das Blindengeld kann durch die sogenannte Blindenhilfe aufgestockt werden. Dafür muss man aber bedürftig, das heißt sozialhilfeberechtigt sein. 
Die Ungerechtigkeit: Für die sonstige Eingliederungshilfe für behinderte Menschen sollen künftig gelockerte Einkommens- und Vermögensgrenzen gelten. Die Blindenhilfe dagegen soll weiterhin nur bei Sozialhilfebedürftigkeit des blinden Menschen und seines Ehepartners gewährt werden. So werden blinde Menschen, die diese Leistung bekommen, schlechter gestellt.

Spargesetz

Und auch wer überhaupt Leistungen bekommt, könnte das neue Gesetz einschränken: Sehbehinderte Menschen mit einem Sehvermögen von bis zu 30 Prozent haben Anspruch auf Eingliederungshilfe, beispielsweise wenn sie teure Hilfsmittel für die Schule oder das Studium benötigen oder Hilfe bei der Hausaufgabenkontrolle ihrer Kinder. Dies soll sich mit dem Bundesteilhabegesetz ändern. Künftig können nur Menschen, die einen komplexen Unterstützungsbedarf in fünf von neun Lebensbereichen haben, Leistungen erhalten. So könnte es passieren, dass sehbehinderte Menschen als „nicht behindert genug“ ausgemustert werden.

Das alles können doch nicht wirklich die Ziele einer modernen Behindertenpolitik sein. Dann ist das einfach nur ein Spargesetz auf Kosten behinderter Menschen. Dann sollte die Bundesregierung aber wenigstens so ehrlich sein, es Bundesbehinderteneinsparungsgesetz zu nennen. Mit Teilhabe hat der Entwurf jedenfalls wenig zu tun.