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Eine Frage von Prioritäten

Die Trauerhalle von Walldorf wird barrierefrei. Was daran interessant ist, ist nicht so sehr die Tatsache, dass umgebaut wird, sondern die Vorgeschichte. Bereits im Sommer hatte die Fraktion DKP/Die Linke einen Antrag im Stadtparlament gestellt, den Haupteingang der Trauerhalle umzubauen, damit künftig auch Rollstuhlfahrer und gehbehinderte Menschen stufenlos zu den Trauerfeiern kommen. Bisher konnten Rollstuhlfahrer nur durch einen Seiteneingang in die Trauerhalle gelangen, durch den auch die Toten geschoben werden. Auch die CDU unterstützte den Antrag.

Seiteneingang für Tote und Rollstuhlfahrer

Aber die rot-grüne Mehrheit im Stadtparlament lehnte den Antrag der Fraktion DKP/Die Linken ab. Man könne Rollstuhlfahrern durchaus zumuten, den gleichen Eingang wie die Toten zu benutzen.

Doch dann hatte jemand in einer Nacht- und Nebelaktion den Haupteingang mit einer Rampe versehen – natürlich nicht den allgemeinen Standards entsprechend und ohne Baugenehmigung auf fremdem Gelände. Was die Politik verhindert hatte, realisierte nun ein offensichtlich handwerklich versierter Bürger.

70 Euro Kosten

Die Frankfurter Neue Presse berichtete, die Installation habe etwa 70 Euro gekostet. Und die Aktion wurde zum Facebook-Hit. Die Berichterstattung der Regionalzeitung wurde hundertfach auf Facebook und Twitter geteilt, weit über die Grenzen von Mörfelden-Walldorf hinaus. Der Tenor war durchaus positiv und kaum jemand brachte Verständnis dafür auf, warum die Stadt dem Bau der Rampe nicht längst zugestimmt hatte.

Das zeigte offensichtlich Wirkung. Der Bürgermeister Heinz-Peter Becker (SPD) sagte mir auf Anfrage, man habe sich nun doch entschlossen, den Eingangsbereich der Trauerhalle innerhalb der kommenden vier bis fünf Wochen barrierefrei umzubauen. Dafür seien eigens Haushaltsmittel umgeschichtet worden. Er betonte, dass die hessische Stadt durchaus Barrierefreiheit im Blick habe. Man habe beispielsweise Bordsteinkanten abgesenkt.

Mehr im Bestand umbauen

Die Geschichte zeigt sehr schön, dass Barrierefreiheit nicht zuletzt eine Frage von Prioritäten ist. Diese haben sich offensichtlich verschoben, nachdem mit der Guerilla-Rampe öffentlich Druck erzeugt wurde und sich ziemlich viele Menschen dafür aussprachen, die Rampe zu behalten oder eine neue, baurechtlich einwandfreie Lösung zu finden.

Es gibt leider in Deutschland wenig Bestrebungen im Bestand umzubauen. Das Beispiel aber zeigt, dass es durchaus machbar ist. Und oft muss es nicht einmal viel kosten, man muss es einfach machen. Aber es zeigt auch: Die Politik braucht manchmal den öffentlichen Druck, um genau diese Prioritäten zu setzen.

 

Das Tattoo eines Vaters geht um die Welt

Alistair Campbell lebt in Neuseeland. Seine Tochter Charlotte ist gehörlos und hat gerade ihr zweites Cochlear-Implantat (CI) bekommen. Ein CI ist eine elektronische Innenohrprothese. Sie wandelt Schall in elektrische Impulse um, durch die der Hörnerv im Innenohr stimuliert wird, um die Hörfähigkeit zu verbessern. Damit sich die 6-Jährige mit ihren CIs nicht komisch vorkommt, hat ihr Vater sich jetzt etwas besonders einfallen lassen: Er hat sich ein CI auf seinen Kopf tätowieren lassen. Ein Bild seines Tattoos zusammen mit dem „Original“-CI seiner Tochter wurde weltweit tausende Male geteilt.

CI-Tattoo
Bild: Alistair Campbell

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Aus Denkmalschutzgründen

Für die meisten Menschen ist es völlig normal, dann zur Toilette zu gehen, wenn sie müssen. Für Rollstuhlfahrer hingegen ist es leider völlig normal, nicht immer zur Toilette gehen zu können, wenn sie eigentlich müssten. Es gibt zu wenig barrierefreie Toiletten.

Als ich nach Großbritannien zog, wurde ich öfter gefragt, was für mich der größte Unterschied zwischen dem Leben in Großbritannien und Deutschland sei. Da musste ich nicht lange nachdenken: Ich konnte endlich dann zur Toilette gehen, wenn ich wollte. Großbritannien hat strenge Antidiskriminierungsbestimmungen, die wiederum direkten Einfluss auf Bauvorschriften haben. Wo eine barrierefreie Toilette zumutbar und machbar ist, muss es eine geben. Punkt. So weit ist Deutschland noch lange nicht. Weiter„Aus Denkmalschutzgründen“

 

Durch die Parkhaustoilette zu Ann Sophie

Als Rollstuhlfahrerin und als Journalistin gehe ich zu sehr vielen Veranstaltungen und Terminen. Dabei lerne ich die bekanntesten Orte der Welt manchmal von einer ganz anderen Seite kennen. Gestern musste ich wieder über solch eine Situation schmunzeln, denn ich kann mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass ich die einzige Journalistin bin, deren Weg zur deutschen Eurovision-Song-Contest-Starterin Ann Sophie in Wien durch eine Parkhaustoilette führte. Also fast zumindest.

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Behinderte Models bei der New York Fashion Week

Models im Rollstuhl, ein männliches Model mit Prothese und eine Schauspielerin mit Downsyndrom – sie alle waren in dieser Woche auf den Laufstegen der New York Fashion Week zu sehen. Die Designerin Carrie Hammer hatte der Schauspielerin Jamie Brewer ein Kleid auf den Leib geschneidert. Die 30-Jährige spielt in der amerikanischen Serie American Horror Story mit und hat das Downsyndrom. Brewer ist das erste Model mit Downsyndrom, das bei der New York Fashion Week auftrat. Sie möchte gern ein Vorbild sein: „Junge Mädchen und sogar junge Frauen sehen mich und sagen: Hey, wenn die das kann, kann ich das auch.“ Sie kommuniziert mit ihren Fans auf Twitter, 80.000 Follower hat sie inzwischen, und twitterte auch hinter den Kulissen der Fashion Week.

Viel Beifall

Auch das italienische Label FTL Moda setzte in diesem Jahr auf behinderte Models und schickte Models im Rollstuhl, mit Gehhilfen und Beinprothesen auf den Laufsteg und erntete viel Applaus. „Letztendlich sind Prothesen oder ein Rollstuhl auch nur Accessoires“, sagte einer Produzenten der Show. Und so präsentierten die behinderten Models stolz die neuesten Fashion-Kreationen des Labels – als sei es nie anders gewesen.

Model im Rollstuhl
© Selcuk Acar / Getty Images

Der 25-jährige Brite Jack Eyers beschritt als erstes männliches Model den Laufsteg der New York Fashion Week mit einer Prothese. Eyers wurde mit einer Fehbildung seines rechten Beins geboren und ließ es sich im Alter von 16 Jahren amputieren. Seitdem läuft er mit einer Prothese. Er engagiert sich bei „Models of Diversity“, einer Agentur, die sich für mehr Vielfalt auf den Laufstegen der Welt einsetzt.

Alles nur Show?

Wandelt sich das klassische Schönheitsideal also gerade, wie einige Kommentatoren begeistert feststellten? Oder ist das alles nur eine Alibi-Veranstaltung, die zeigen soll, dass die Modeindustrie doch nicht so oberflächlich ist, wie alle denken, aber es de facto doch ist? Ist das eine Aktion, die zeigen soll, „Seht her, wir haben mehr als weiße Magermodels mit perfektem Körper im Programm“? Werden körperliche Besonderheiten nun en vogue?

Model im Rollstuhl
© Selcuk Acar / Getty Images

Sicherlich setzen solche Aktionen Zeichen. Vor 10 oder 15 Jahren hätte man kein behindertes Model bei einer Fashion-Show gesehen. Es war einfach undenkbar. Die Modeindustrie ist kein Hort besonderer Vielfalt. Beispielsweise sind rund 80 Prozent der Models auf den Laufstegen weiß. Vor zehn Jahren waren es aber noch 90 Prozent. Es ändert sich etwas, aber nur sehr langsam.

Die Begeisterung beim Publikum war allerdings auch deshalb so groß, weil sie solche Models bei der New York Fashion Week nicht erwartet hatten. Von Normalität oder Inklusion kann also keine Rede sein, denn dann wäre es normal, dass auch behinderte Models Mode präsentieren. Eher spielen die Modelabels mit dem Showeffekt: Man muss anders sein, um aufzufallen. Wenn das die Mode alleine nicht leistet, müssen besondere Trägerinnen her. Dazu eignen sich behinderte Models natürlich perfekt.

 

Das Prinzip Gartenstuhl

Es gibt nichts, was ich besser kann als improvisieren und Lösungen finden. „Geht nicht, gibts nicht“, hat meine Oma immer gesagt und so überlege ich mir immer, wie etwas doch gehen könnte statt zu verzweifeln, wenn es etwas nicht so klappt, wie ich mir das vorgestellt habe. Mein Hotelzimmer ist gerade so ein Fall.

Das Hotel hat ein vorbildlich barrierefreies Zimmer. Einziger Haken: Es ist ein Raucherzimmer. Wie man als Hotel ein barrierefreies Zimmer ausgerechnet als Raucherzimmer auslegen kann, wenn man nur eines hat, wird mir immer ein Rätsel bleiben, aber es ist so. Ein barrierefreies Nichtraucherzimmer gibt es nicht.

Rauchende Nachbarn

Als ich ankam, sagte man mir, es sei seit drei Monaten nicht mehr bewohnt gewesen, man habe gut gelüftet und tatsächlich, in der ersten Nacht roch es auch kaum nach Rauch in dem Zimmer – bis die Nachbarn einzogen, die offensichtlich Raucher sind. Und so zog deren Qualm über die Klimaanlage schön erst ins Bad und dann ins Zimmer selbst.

Also fragte ich an der Rezeption, ob ich mal ihre nicht barrierefreien Zimmer ansehen könne. Wenn das Bad groß genug ist, komme ich oft auch so zurecht. Man sagte mir, man habe sogar freie Appartements. Ich könne eines zum gleichen Preis haben. Diese sind größer als die regulären Zimmer. Und ja, das Zimmer war in der Tat völlig in Ordnung für mich. Ich kam sogar ins Bad. Das einzige Problem: Es gab keine Griffe an der Toilette, was für mich als Rollstuhlfahrerin das Umsteigen schwieriger macht. Aber das war ich bereit zu akzeptieren, um dafür nicht eingeräuchert zu werden.

Kein Duschstuhl

Das zweite Problem war schwerwiegender: Es gab keinen Duschstuhl. Der Duschstuhl im barrierefreien Zimmer war fest montiert. Ich kann ja nicht stehen. Also brauche ich einen Stuhl in der Dusche. Den eigenen Rollstuhl mit in die Dusche zu nehmen, ist nicht so toll. Die Sitzbespannung wird nass, trocknet schlecht und für den Rollstuhl insgesamt ist das auch nicht gerade lebensverlängernd.

Nun stehe ich nicht zum ersten Mal vor diesem Problem. Ich fragte also das Hotelpersonal, ob sie mir einen Hocker oder einen wetterfesten Gartenstuhl besorgen könnten. Die meisten Hotels haben irgendwelche Grünflächen. Und für diese gibt es meistens auch Stühle, die wetterfest sind und denen eine Dusche nichts ausmacht. Man sah sich etwas ratlos an, aber dann gingen zwei Mitarbeiter auf die Suche in den Kellerräumen des Hotels. Und tatsächlich, man fand einen Stuhl. Zwar nicht sehr bequem aber dennoch für die Zwecke ausreichend. Ich legte ein Handtuch darüber und schon hatte ich eine für mich nutzbare Dusche.

Lösung Gartenstuhl

Nur die Rezeptionistin hatte Bedenken. Ob ich sicher sei, dass das nicht gefährlich ist. Deshalb gebe es ja barrierefreie Zimmer. Ich musste etwas schmunzeln. Wenn sie wüsste, wie die Zimmer ihrer Konkurrenz teilweise aussehen. Da ist eine Gartenstuhllösung schon fast elegant.

Gartenstuhl

Selbst in als barrierefrei ausgewiesenen Zimmern kommt es vor, dass man den Duschstuhl einfach vergessen hat. Und so versicherte ich ihr, dass ich vermutlich tausende Nächte meines Lebens in Hotels verbracht habe und gewohnt bin, auf Gartenstühle und andere provisorische Lösungen auszuweichen. Das hat sie dann doch überzeugt und ich durfte mit meinem Gartenstuhl dort weiter wohnen. Ganz rauchfrei.

Inklusion funktioniert übrigens auch in vielen anderen Bereichen ganz genauso wie meine Gartenstuhllösung. Man muss einfach schauen, wie etwas dennoch funktionieren kann statt nichts zu tun und mit den Schultern zu zucken – das Prinzip Gartenstuhl funktioniert öfter als man glaubt.

 

Prothese als Kunst

Ihre Prothese ist mal ein Metallstachel, mal ist sie mit vielen Glitzersteinen verziert, mal leuchtet sie und Motten schwirren um das künstliche Bein herum. Dann sitzt Viktoria Modesta ganz ohne Prothese nackt auf dem Bett und man sieht ihr amputiertes Bein. Fast könnte man meinen, ein Video von Lady Gaga zu sehen. Der Stil von Viktoria Modesta ist ähnlich und doch unterscheidet sie vor allem eines: Sie hat eine Prothese und feiert diese als Kunstobjekt in ihrem Video.

Viktoria Modesta macht gerade als Sängerin und Modell eine steile Karriere. Sie war bei der Abschlusszeremonie der Paralympics in London zu sehen und jetzt ist ist sie mit ihrem neuen Musik-Video für den Song Prototype in den Medien, das auch in der Pause zur britischen Castingshow X-Factor zu sehen war. Die Zugriffszahlen auf das Video liegen im zweistelligen Millionenbereich beim Fernsehsender Channel4, der das Video produziert hat. Auch bei YouTube haben unterdessen fast vier Millionen Menschen das Video gesehen.

Amputation als Befreiungsschlag

Vor sechs Jahren ließ sich die Künstlerin ihr Bein abnehmen, nachdem sie durch einen Geburtsfehler immer wieder Probleme mit dem Bein hatte und viele Operationen über sich ergehen lassen musste sowie große Teile ihrer Kindheit in Krankenhäusern verbrachte. Es hat lange gedauert, bis sie einen Arzt fand, der bereit war, ihr das Bein abzunehmen, aber seitdem hat sich ihr Leben schlagartig verändert.

Der Fernsehsender Channel4 startet jetzt mit ihr die Kampagne „Born Risky“, eine Kampagne, die körperliche Unterschiede als etwas Positives feiert. Seit den Paralympics 2012 ist der britische Sender Channel4 zu einem der innovativsten Sender weltweit geworden, wenn es um das Thema Behinderung geht.

Die Sendung The Last Leg ist beispielsweise seit den Paralympics eine der beliebtesten Sendungen des Senders. Gesendet zur besten Sendezeit am Freitagabend und moderiert von Adam Hills, einem australischen Comedian, der eine Beinprothese trägt. Auch einer seiner beiden Co-Moderatoren, Alex Brooker, hat eine Behinderung und trägt eine Prothese.

Das Bild von Behinderung verändern

Viktoria Modesta will mit ihren Auftritten und ihrem Video vor allem das Bild behinderter Menschen in den Medien und im Alltag verändern.

Forget what you know about disability (Vergiss, was Du über Behinderung weißt) steht am Anfang ihres Videos und das ist wohl auch ihr Anliegen. Sie will, den Blick auf das Thema verändern und Vorurteile aufbrechen.

Deutsche Fernsehmacher schauen sich viel bei britischen Sendern ab. Es wäre zu wünschen, dass das auch bei solchen Projekten der Fall wäre. Channel4 will das Bild behinderter Menschen in den Medien aktiv verändern. Es wäre sehr zu begrüßen, wenn sich das andere Sender weltweit abschauen würden. Es wird gerade sehr in, Behinderung nicht mehr defizitbetont zu betrachten und das ist wirklich begrüßenswert, denn das verändert langfristig auch die Art, wie Fernsehmacher mit dem Thema umgehen. Wer modernes Fernsehen machen will, muss weg von defizitorientierten Tränendrüsensendungen und hin zu Modesta und anderen Stars, die ein positives Bild behinderter Menschen vermitteln.

 

Blaue Mützen für Barrierefreiheit im Internet

Köpfe mit blauen Mützen
Bild: BIZEPS

Am 30. November ist der Tag der blauen Mützen. Es ist Blue Beanie Day. Leute auf der ganzen Welt ändern dann ihre Profilfotos und laden Fotos hoch, die sie mit blauen Mützen zeigen. Damit wollen sie auf die Wichtigkeit von Webstandards aufmerksam machen. Dass wir beispielsweise eine Webseite betrachten können, egal welchen Browser wir dafür benutzen, ist nämlich kein Zufall, sondern Standards zu verdanken, auf die sich die Internetbranche geeinigt hat, an die sich aber immer noch nicht alle halten.

So legt das World Wide Web Consortium (W3C) Standards fest, wie Webseiten technisch zu gestalten sind, damit sie mit unterschiedlichsten Browsern, aber zum Beispiel auch mit verschiedenen Eingabegeräten zu benutzen sind. Für behinderte Menschen sind dabei insbesondere die Web Content Accessibility Guidelines (WCAG) von Bedeutung. Denn, nur wenn Webdesigner sicherstellen, dass sie die WCAG anwenden, können viele behinderte Menschen das Web ohne Einschränkung nutzen, beispielsweise mit Sprachausgaben, die blinden Menschen den Bildschirminhalt vorlesen, ohne eine Maus oder mit speziellen Eingabegeräten wie einer Kopfmaus.

Warum blaue Mützen?

Autor und Webdesigner Jeffrey Zeldman hat vor Jahren ein Buch über Webstandards geschrieben und sich dabei mit einer blauen Mütze für das Cover abbilden lassen. Dieses Buchcover inspirierte die Erfinder des Blue Beanie Day dazu, sich immer am 30. November eines jeden Jahres eine blaue Mütze aufzusetzen, sich zu fotografieren und so auf Webstandards aufmerksam zu machen.

Jeder Webseitenbetreiber kann etwas tun

Die blaue Mütze ist natürlich nur ein Symbol. Das Web wird nicht automatisch barrierefrei, weil alle plötzlich blaue Mützen tragen. Aber natürlich können Webseitenbetreiber auch konkret etwas tun: Man kann zum Beispiel mal probieren, über die eigene Webseite zu navigieren, ohne eine Maus zu benutzen. Blinde Menschen nutzen keine Maus, um zu navigieren, sondern bewegen sich beispielsweise mit der Tastatur durch die Seite.

Man kann auch einen Schnelltest machen, wie barrierefrei die eigene Seite ist. Oder man kann sich bei der W3C ganz allgemein über Webstandards informieren.

Braucht man wirklich die Grafiken mit Buchstaben und Zahlen, die man kaum lesen kann, aber eintippen muss, um an ein Webangebot zu kommen, die vielleicht auf der Seite eingebunden sind, sogenannte Captchas? Gibt es nicht eine alternative Lösung? Und wenn sie notwendig sind, kann man sie lösen, ohne sehen zu können? Man kann aber vielleicht auch das nächste Video, das man auf YouTube hochlädt, einfach mal untertiteln, damit auch gehörlose Nutzer etwas davon haben. Es gibt viele kleine Sachen, die man an einer Webseite verbessern kann, die aber einen großen Unterschied für behinderte Nutzer bedeuten können.

 

Rollstuhl ist nicht gleich Rollstuhl

Derzeit findet in Düsseldorf die Rehacare statt. Das ist die größte Hilfsmittelmesse der Welt. Sie ist so etwas wie der Genfer Automobilsalon für Rollstühle. Okay, nicht so ganz so schick und es gibt auch noch viele andere Hilfsmittel zu sehen, aber auch bei Rollstühlen gibt es Hersteller und Modelle wie bei Autos eben.

Ich erinnere mich noch genau daran, wie ich meinen ersten Rollstuhl bekam. Ich war etwa sechs Jahre alt und fand Rollstühle immer toll. Ich bekam einen der ersten bunten Kinderrollstühle, die es überhaupt gab. Vorher hab es furchtbare Geräte, die vor allem für Kinder völlig ungeeignet waren, was dazu führte, dass Kinder, die nicht gehen konnten, ewig in Kinderwagen durch die Welt geschoben wurden statt sie selber zu entdecken.

Aber um 1980 herum kam Sopur. Die Firma, die unterdessen zu einem amerikanischen Weltkonzern gehört und auch den Namen Sopur als Firmennamen abgelegt hat, baute in einer Industriehalle in Malsch bei Heidelberg meinen ersten Rollstuhl zusammen. Sopur war damals eine so kleine Firma, dass ich beim Zusammenbauen des Rollstuhls zuschauen konnte. Meine Eltern hatten den Rollstuhl direkt dort bestellt. Das geht heute bei kaum noch einem Rollstuhlhersteller. Rollstühle werden heute vor allem über Sanitätshäuser vertrieben.

Für mich war damals das Wichtigste, dass ich mir die Farbe aussuchen konnte – Gelb und Blau standen zur Auswahl. Bei meinem zweiten Modell gab es dann auch schon Rot. Ich entschied mich für Gelb mit einer blauen Rückenbespannung.

Deutscher Erfindergeist

Rollstuhl von Stephan Farfler
Bild: Wikipedia

Rollstühle sind übrigens, sowohl was die modernen Rollstühle als auch was die Geschichte des Rollstuhls angeht, nicht zuletzt Ergebnisse deutscher Erfinder- und Ingenieurskunst. Sopur ist da nur ein Beispiel. Schon 1655 baute sich der Nürnberger Uhrenmacher Stephan Farfler ein dreirädriges Fahrzeug, das er mit Handkurbeln über ein Zahnradgetriebe antrieb. Es war wahrscheinlich der erste Rollstuhl, mit dem man sich selbst fortbewegen konnte.

Wenn man bedenkt, dass noch 1980 ein farbiger Rollstuhl, der auf Kindergröße angepasst wurde, so etwas Besonderes war, wird einem bewusst, welche Entwicklung Rollstühle in den vergangenen 30 Jahren gemacht haben. Heute stehen bei der Rehacare Hunderte Modelle, bei denen man nicht nur fast jede Farbe auswählen kann, sondern deren Zubehör- und Ausstattungskatalog von der Auswahl her dem eines hochpreisigen Auto in nichts nachsteht. Es dauert länger, einen neuen Rollstuhl auszusuchen als ein neues Auto. Ich bin immer ein bisschen neidisch, wenn die ich heutigen Kinderrollstühle sehe.

Kinderrollstuhl

Selbst E-Rollstühle für Kinder gibt es heute, die nicht einmal aussehen wie Rollstühle, sondern eher wie ein Bobby Car nach dem Tuning.

Rahmenfarbe? Bremsen? Seitenteile?

Wer heute einen Rollstuhl kauft muss ziemlich viele Entscheidung treffen: Elektrisch oder manuell? Welche Vorderräder? Welche Rückenbespannung? Welche Bereifung? Welche Seitenteile? Welche Bremsen? Klappbar oder nicht? Welche Griffe oder keine Griffe? Neigung der Hinterräder? Wie stark soll der Rollstuhl eine Tendenz haben, nach hinten zu kippen? Und dann kommt es natürlich auf die persönlichen Maße an: Sitzbreite, Beinlänge, Höhe der Rückenlehne?

Je besser ein Rollstuhl auf die Person, die ihn nutzt, abgestimmt ist, desto besser fährt er sich und desto besser kann man darin sitzen. Ein schlecht angepasster Rollstuhl führt unweigerlich zu Rückenschmerzen und anderen Problemen. Mein Rollstuhl fühlt sich an wie ein Teil von mir. Er ist genau auf meinen Körper zugeschnitten und deshalb hasse ich es auch, irgendwo anders zu sitzen. Mein Rollstuhl ist bequem, er gibt mir Stabilität und er passt einfach. Deshalb muss ich immer schmunzeln wenn Leute mir sagen, ich soll mich doch mal woanders hinsetzen, so ein Rollstuhl sei doch sicher sehr unbequem. Im Gegenteil. Ein gut angepasster Rollstuhl ist für mich bequemer als jedes Sofa. Von anderen Stühlen ganz zu schweigen.