Lesezeichen
 

„Die Entdeckung der Unendlichkeit“

Eddie Redmayne hat den britischen Filmpreis BAFTA für seine Rolle im Film „Die Entdeckung der Unendlichkeit“ bekommen. Er spielt den weltberühmten Physiker Stephen Hawking. Der Film zeigt die ersten Jahre Hawkings an der Universität Cambridge. Er zeigt auch die ersten Anzeichen von ALS, einer unheilbaren Nervenerkrankung, durch die Hawking erst einen Rollstuhl braucht, dann auch einen Sprachcomputer nutzt, um zu kommunizieren. Aber auch von Hawkings Familie handelt der Film, nicht zuletzt von seiner Frau Jane. Ihre Autobiografie war Grundlage für den Film.

In ihren Memoiren Die Liebe hat elf Dimensionen: Mein Leben mit Stephen Hawking beschreibt sie, wie sie ihn Anfang der sechziger Jahre an der Uni kennenlernt, als beide noch Studenten waren. Kurz darauf wird bei Hawking ALS festgestellt. Hawking habe nur noch zwei Jahre zu leben, sagen ihm die Ärzte.

Gespräche und Recherche zu ALS

Redmayne spielt die Rolle von Stephen Hawking großartig. Der BAFTA ist absolut verdient – obwohl ich eigentlich lieber behinderte Schauspieler in der Rolle von behinderten Menschen sehe. Aber ALS verläuft nun einmal fortschreitend, was es schwierig macht, die Rolle mit einem behinderten Schauspieler zu besetzen. Möglich wäre es dank Maskenbildnern dennoch.

Die Kritiker fanden vor allem überzeugend, wie glaubwürdig Redmayne die Krankheit ALS zeigte. Dafür hatte er sich mit Menschen, die ALS haben, getroffen und umfangreich recherchiert. Ich fand seine Darstellung manchmal ein wenig überzeichnet, aber nie massiv störend. Dennoch sah man mit geübten Augen an einigen Stellen, dass ein nicht behinderter Schauspieler eben schauspielert.

Was mir an dem Film hingegen gut gefallen hat, war die Darstellung von Behinderung, ohne ins Schmierige abzurutschen und Mitleidseffekte mitzunehmen. Im Gegenteil, der Film zeigt so pragmatische Dinge wie die Organisation der Assistenz, die mangelnde Barrierefreiheit der Uni. Sogar das Thema Sexualität kommt zur Sprache, denn das Umfeld der Familie Hawking war sichtlich überrascht, dass dieser trotz starker Behinderung drei Kinder zeugen konnte.

Nur einmal kitschig

Nur eine Szene gefiel mir nicht: Als Hawking sich vorstellt, dass er aufstehen kann und einer Zuhörerin in der ersten Reihe den Stift aufhebt, der ihr heruntergefallen ist. Das war mir zu kitschig und unnötig.

In den britischen Medien wurde nicht zuletzt das Thema Sexualität und Behinderung diskutiert. So hat Hawking nicht nur wichtige Pionierarbeit im Bereich der Physik geleistet, sondern indirekt offensichtlich auch in diesem Bereich. Ich musste etwas schmunzeln, als ich den ein oder anderen Kommentar gelesen habe. Die pure Information, dass jemand wie Hawking nicht enthaltsam lebt oder leben muss, scheint für so manchen Filmkritiker neu gewesen zu sein.

Ich fand einen anderen Aspekt viel interessanter: Hawkings Frau hat ihre Karriere aufgegeben, um sich um ihren Mann zu kümmern. Das wurde damals wohl als selbstverständlich angesehen. Er hingegen machte eine steile Karriere, weil er einfach so gut war, dass seine Genialität die Behinderung überlagerte. Er kämpfte mit den Stufen an der ehrwürdigen Uni, tat sich zunehmend schwerer damit, Vorträge zu halten und dennoch zählte am Ende eines: sein Können.

Als Hawking gar nicht mehr sprechen kann, hilft ihm ein Sprachcomputer, zu kommunizieren und Vorträge zu halten. Er schreibt einen Bestseller mit dem Computer und seiner Eingabesoftware. Das fand ich eine der wichtigsten Botschaften des Films: Wer kommunizieren kann, kann die Welt verändern. Dafür muss man unter Umständen die Möglichkeiten schaffen, aber am Ende geht es eben doch. Der Film zeigt, was mit Behinderung möglich ist und bejammert nicht, was angeblich nicht geht.

 

Nichtbehinderte Schauspieler – ziemlich schlechte Rollstuhlfahrer

Sonntag. 20.15 Uhr. ARD. Es läuft Tatort. Die Tochter des Kommissars ist gelähmt und es dauert nicht lange bis ich augenrollend vor dem Fernseher sitze. Es ist einfach zu offensichtlich, dass die Frau, die da spielt, gelähmt zu sein, es eben nicht ist. Sie bewegt ihre Beine unnatürlich oder auch unnatürlich nicht. Und vor allem fährt sie Rollstuhl wie der erste Mensch. Das liegt auch daran, dass sie in einem Rollstuhl sitzt, der für sie viel zu groß ist.

Ich erkenne nichtbehinderte Schauspieler, die behinderte Menschen spielen, so gut wie immer. Das ist auch bei den angehenden Sozialpädagogen und Freiwilliges-Soziales-Jahr-Absolvierern so, die einen Nachmittag im Rollstuhl durch die Stadt fahren, um mal zu sehen „wie das so ist im Rollstuhl“. Die sitzen auch immer in viel zu großen Rollstühlen, können kaum damit umgehen und man wartet förmlich jede Sekunde darauf, dass sie aufspringen und den Rollstuhl eine Bordsteinkante hochheben, weil sie sonst nicht drüber kämen. So wirken auf mich die meisten nichtbehinderten Schauspieler auch, die im Film Rollstuhlfahrer spielen. Es gibt nur einige wenige Ausnahmen, bei denen das nicht so ist. Patrick Bach in „Anna“ fand ich beispielsweise großartig.

Schauspielerisches Scheitern

Trotzdem scheint es als völlig normal zu gelten, Rollen von behinderten Personen nicht an behinderte Schauspieler zu geben. Selbst wenn sie den ganzen Film durch behindert sind, werden diese Rollen nur selten an behinderte Schauspieler vergeben. In den Fällen, wo jemand während des Films eine Behinderung bekommt, könnte man ja noch argumentieren, dass er damit nicht sein Aussehen verändern kann. Okay, geschenkt. Aber selbst in den anderen Fällen, brechen sich nichtbehinderte Schauspieler einen ab, möglichst behindert zu wirken und scheitern teilweise völlig, um nicht zu sagen, sie machen sich lächerlich.

Früher wurden Frauen auf der Bühne von Männern gespielt, weiße Schauspieler malten sich schwarz an, um schwarze Rollen zu spielen. Beides gilt heute als verpönt und lächerlich. Nur behinderte Menschen müssen ständig zuschauen, wie ihnen nichtbehinderte Schauspieler nicht nur ihre Rollen wegnehmen, sondern auch wie sie teilweise völlig unrealistisch dargestellt werden. Es ist wohl eine der wenigen Gruppen, die sich nicht selber spielen darf.

Lächerlich und klischeehaft

Manchmal muss ich lachen, wie schlecht manche Schauspieler Rollstuhl fahren, manchmal ärgere ich mich über die Klischees, die sie damit verbreiten, die teilweise gar nicht stimmen. Blinde Menschen zum Beispiel wirken in Filmen sehr oft völlig hilflos, wenn sie von Sehenden gespielt werden. Weil Sehende, denen man das Augenlicht nimmt, eben hilflos sind. Blinde Menschen, die daran gewöhnt sind, nichts zu sehen, sind das aber nicht. Sie hatten im Normalfall Mobilitätstraining, in dem man lernt, sich blind zu orientieren und erlernen lebenspraktische Fertigkeiten, wie Kochen zum Beispiel, ohne sehen zu können.

Eine Frage der Qualität

Also warum finden es Filmemacher und Regisseure immer noch in Ordnung, Rollen von behinderten Menschen mit Nichtbehinderten zu besetzen? Ich glaube, weil sie den Wert nicht erkennen, den jemand einem Film bringen kann, der wirklich selber die Behinderung hat. Sie haben Angst, niemanden beim Casting zu finden, der die Rolle spielen kann, ohne es überhaupt zu versuchen. Oder sie befürchten, dass das Filmen länger dauert oder es organisatorische Probleme gibt.

Sie nehmen damit aber in Kauf, dass die Qualität des Filmes leidet. Dass Vorurteile transportiert werden. Und dass eine behinderte Person wirkt wie eine nichtbehinderte Person, die eine behinderte Rolle spielt. Ich sitze dann manchmal im Kino oder vor dem Fernseher und lache über die Fehler der Schauspieler. Es ist manchmal für mich unbegreiflich, wie wenig Ahnung Leute davon haben, Rollstuhl zu fahren oder mit einem Blindenlangstock zu laufen, aber glauben, damit in einer millionenschweren Filmproduktion einfach durchzukommen. Und das vor dem Hintergrund, dass es Schauspieler gibt, die das in ihrem Alltag tun und es deshalb aus im Film könnten. Eine Rolle eines Pferdewirts geht sicher auch nicht an einen Schauspieler, der nicht reiten kann. Warum wird also akzeptiert, dass so viele behinderte Menschen in Filmen einfach nur schlecht dargestellt werden?

 

Aus dem Kino geworfen

Richard Bridger ist aus einem Kino geworfen geworden. Der 31-Jährige hat Duchenne-Muskeldystrophie, eine Muskelerkrankung, die ausschließlich Männer betrifft. Die durchschnittliche Lebenserwartung für Menschen mit Duchenne beträgt 25 Jahre. Bei vielen lässt irgendwann auch die Lungenfunktion nach. Sie brauchen ein Beatmungsgerät. Und genau an diesem Gerät störten sich Kinogäste eines Kinos im englischen Epsom. Sie beschwerten sich über den jungen Mann, der den Actionfilm Taken 3 sehen wollte. Sie mochten das Geräusch des Beatmungsgerätes nicht. Statt die anderen Gäste umzusetzen oder sie darauf hinzuweisen, dass auch behinderte Menschen ein Recht darauf haben, ein Kino zu besuchen, forderten Kinomitarbeiter Richard Bridgers Assistenten auf, zu gehen. Mit ihm selber sprach man erst gar nicht. Erst nach einer Diskussion mit dem Manager des Kinos bekam Richard Bridger sein Eintrittsgeld zurück, nachdem er das Kino verlassen hatte.

Nicht lauter als Popcorn

Bis vor ein paar Jahren sah man Menschen mit einem Beatmungsgerät nur sehr selten in der Öffentlichkeit. Viele Geräte waren nicht transportabel. Das bedeutete, die Menschen konnten das Haus deshalb gar nicht verlassen. Das ist heute anders. Auch Menschen, die beatmet werden, können unter Umständen heute am normalen Leben teilnehmen, ins Kino gehen zum Beispiel. Ich kenne viele Menschen mit Beatmungsgerät, ich sitze oft in Meetings, in denen jemand mit Beatmungsgerät neben mir sitzt.

Ich habe mir sogar mal mit dem Hollywoodschauspieler Christopher Reeve einen Rollstuhlplatz geteilt in einem Theater, in dem es nur einen Rollstuhlplatz gab – er sollte einen Preis bekommen, ich sollte darüber berichten. Der Superman-Darsteller war seit einem Reitunfall hoch querschnittgelähmt und wurde mit einem Beatmungsgerät beatmet. Und dann kam es zu der etwas bizarren Situation, dass es für uns beide eigentlich nicht genug Platz in dem Theater gab. Aber natürlich wollte man keinen von uns wieder wegschicken und so saßen wir notgedrungen recht eng nebeneinander. Ich weiß also, wie sich Beatmungsgeräte anhören. Sie machen keine Geräusche, die bei einem Actionthriller wirklich störend wären. Nicht einmal bei einem Stummfilm, schätze ich. Man kann gut darüber hinweghören, wenn man das Gerät bei den Umgebungsgeräuschen überhaupt hört. Das sieht auch der Vater des Rollstuhlfahrers in Epsom so: „Das Gerät macht nicht mehr Lärm als wenn neben einem jemand Popcorn isst“, sagte er dem britischen Fernsehsender ITV. Daran stört sich im Kino sonst auch niemand.

Es geht nicht nur um Rampen

Der Fall zeigt ganz deutlich: Inklusion bedeutet nicht nur Rampen und Fahrstühle zu bauen. Es geht auch bis zu einem gewissen Maße darum, behinderungsbedingte Dinge, die man nicht ändern kann, hinzunehmen. Dazu gehört meines Erachtens auch, das Beatmungsgerät eines Gastes im Kino zu ertragen oder sich im Zweifelsfall umzusetzen. Die Lösung ist sicher nicht, einen Kinogast mit Beatmungsgerät des Kinos zu verweisen und zu sagen, er darf nur zu Vorstellungen kommen, die schlecht besucht sind, so wie es das Kino getan hat.

Die Kinokette, zu der das Kino gehört, hat sich unterdessen für das Verhalten ihrer Mitarbeiter entschuldigt. Richard Bridger sei jederzeit willkommen und könne den Film jetzt als Wiedergutmachung kostenlos sehen. Damit kommt das Kino übrigens recht preiswert davon. In ähnlichen Fällen werden in Großbritannien auch schon mal hohe vierstellige Schadenersatzzahlungen fällig, wenn dem Unternehmen Diskriminierung eines Kunden wegen seiner Behinderung nachgewiesen werden kann.

 

Die Sache mit der Fragerei

Es gibt wohl kaum eine Frage in meinem Leben, die ich so häufig beantwortet habe, wie die Frage „Warum sitzen Sie denn im Rollstuhl?“. Diese Frage kommt auch manchmal in Form von „Hatten Sie einen Unfall?“, „Sitzen Sie schon immer im Rollstuhl?“ oder auch „Was ist denn mit Ihnen?“ daher. Ich werde das in allen möglichen und unmöglichen Lebenssituationen gefragt: In der Fußgängerzone, beim Bäcker, im Wartezimmer, im Bewerbungsgespräch, beim Essen in der Kantine, vor Flughafentoiletten.

Die Antwort auf die Frage ist eigentlich schnell erklärt und geht laienhaft so (die Mediziner mögen mir das verzeihen): „Ich bin querschnittgelähmt. Ich habe eine Spritze bekommen, die ich nicht gebraucht hätte und der Arzt hat Arterie und Vene verwechselt. Das Medikament hat deshalb die Nerven im Rückenmark zersetzt.“ In der Mehrheit der Fälle beantworte ich die Frage ohne mit der Wimper zu zucken. Aber es gibt Ausnahmen.

Auf das „Wie“ kommt es an

Es war der erste kulturelle Unterschied, der mir auffiel, als ich nach Großbritannien zog. Im Gegensatz zu Deutschland und Österreich, fragen die Briten diese Frage so gut wie nie. Nicht einmal Freunde. Die warten ab, bis ich von mir aus erzähle, warum ich Rollstuhlfahrerin bin. Ich will nicht sagen, dass ich die Fragerei vermisse, aber spätestens wenn in der U-Bahn wieder jemand fragt, weiß ich, ich bin wieder in Deutschland. Die Briten empfinden die Frage als distanz- und respektlos.

Ich habe keine Probleme damit, die Frage zu beantworten. Für mich ist die Antwort darauf weit weniger spektakulär als für die Menschen, die sie mir stellen. Aber manchmal beantworte ich sie dennoch nicht. Dann nämlich, wenn ich das Gefühl habe, jemand fragt respektlos. Mit respektlos meine ich zum Beispiel das Hinterherplärren in Fußgängerzonen oder das Rufen durch den ganzen Linienbus.

Gerne ist der Frage in diesen Fällen dann die Silbe „Ey“ vorangestellt und man duzt mich. Alles schon erlebt. Und auch beantworte ich die Frage nur noch ungerne, wenn sich die fragende Person nicht wenigstens zwei Minuten lang mit mir über das Wetter unterhalten oder sonst irgendeinen Bezug zu mir hergestellt hat.

Ich finde, das hat einfach mit Respekt zu tun. Ich bin von Natur aus ein neugieriger Mensch. Das ist einer der Gründe, warum ich Journalistin geworden bin. Aber selbst ich kann meine Neugierde zügeln, wenn ich auf der Straße jemanden sehe, dessen körperliches Merkmal ich mir nicht erklären kann. Ich muss nicht unbedingt wissen, wie alt der Mann ist, der so viele Falten im Gesicht hat und ich muss auch nicht jede Hauterkrankung kennen. Jedenfalls dann nicht, wenn die Gefahr besteht, dass ich dem Menschen zu nahe trete, wenn ich ihn darauf anspreche, und das möchte ich nicht.

Man muss die Wahrheit schon vertragen können

Manchmal verläuft die Konversation über die Ursache meiner Querschnittlähmung aber auch völlig schräg. Dann nämlich, wenn ich an Leute gerate, die sich erhoffen, ich erzähle ihnen eine Geschichte, nach der sie anschließend nach Hause gehen können mit dem guten Gefühl, dass ihnen das ja nicht passieren könne. Dafür eignet sich meine Antwort ja nun gar nicht. Schon wenn sie die Worte „Querschnittlähmung, Arzt und Spritze“ gehört haben, sagen sie mir, ich solle aufhören. Das wollten sie dann doch nicht hören. Das sind dann wohl die Leute, die hoffen, ich erzähle ihnen, ich hätte mich mit 3 Promille Alkohol im Blut mit dem Auto um einen Baum gewickelt oder ich hätte beim Bungeespringen mein Seil vergessen.

Erst zu fragen, dann aber die Antwort nicht auszuhalten, finde ich allerdings auch nicht gerade respektvoll, passt aber zu der nicht wenig verbreiteten Annahme, dass man von Behinderung in jedem Fall ein Leben lang verschont bleibt. In dem Moment realisieren die Menschen dann, dass ich unbewusst an diesem Weltbild rüttele. Wer also neugierig genug ist zu fragen, muss am Ende die Wahrheit schon vertragen können.

Im Geschäftsleben

Ja, vielleicht bin ich da eigen, aber ich möchte nicht gerne an der Hotelrezeption oder beim Check-In am Flughafen die Ursache meiner Behinderung diskutieren. Andere Kunden werden auch nicht nach ihrem Privatleben oder ihrem Gesundheitszustand befragt. Etwas anderes ist es, wenn ich nach meinem Hilfebedarf gefragt werde. Kein Problem. Das empfinde ich sogar als zuvorkommend, wenn jemand fragt, wie er mir am besten helfen kann. Dafür muss er aber nicht wissen, warum ich im Rollstuhl sitze. Servicemitarbeiter, die solche privaten Fragen stellen, empfinde ich zumindest als nicht sehr professionell.

Kinder dürfen alles

Ganz anders sieht die Sache bei Kindern aus. Die fragen oft sehr direkt und das finde ich gut. Denn sie fragen nie respektlos, sondern wirklich aus Interesse. Die halten auch die Wahrheit aus. Und wenn die Fragen nach der Ursache und warum meine Beine nicht so wie ihre funktionieren abgehakt sind, interessieren sie sich sowieso mehr für die technischen Möglichkeiten des Rollstuhls. Man braucht Kindern deshalb auch nicht den Mund zu verbieten, wie das manche Eltern immer noch tun. Denn vielleicht werden sie so zu den respektlosen Erwachsenen, die dann völlig übergriffig fragen, was sie als Kinder nie fragen durften.

 

Prothese als Kunst

Ihre Prothese ist mal ein Metallstachel, mal ist sie mit vielen Glitzersteinen verziert, mal leuchtet sie und Motten schwirren um das künstliche Bein herum. Dann sitzt Viktoria Modesta ganz ohne Prothese nackt auf dem Bett und man sieht ihr amputiertes Bein. Fast könnte man meinen, ein Video von Lady Gaga zu sehen. Der Stil von Viktoria Modesta ist ähnlich und doch unterscheidet sie vor allem eines: Sie hat eine Prothese und feiert diese als Kunstobjekt in ihrem Video.

Viktoria Modesta macht gerade als Sängerin und Modell eine steile Karriere. Sie war bei der Abschlusszeremonie der Paralympics in London zu sehen und jetzt ist ist sie mit ihrem neuen Musik-Video für den Song Prototype in den Medien, das auch in der Pause zur britischen Castingshow X-Factor zu sehen war. Die Zugriffszahlen auf das Video liegen im zweistelligen Millionenbereich beim Fernsehsender Channel4, der das Video produziert hat. Auch bei YouTube haben unterdessen fast vier Millionen Menschen das Video gesehen.

Amputation als Befreiungsschlag

Vor sechs Jahren ließ sich die Künstlerin ihr Bein abnehmen, nachdem sie durch einen Geburtsfehler immer wieder Probleme mit dem Bein hatte und viele Operationen über sich ergehen lassen musste sowie große Teile ihrer Kindheit in Krankenhäusern verbrachte. Es hat lange gedauert, bis sie einen Arzt fand, der bereit war, ihr das Bein abzunehmen, aber seitdem hat sich ihr Leben schlagartig verändert.

Der Fernsehsender Channel4 startet jetzt mit ihr die Kampagne „Born Risky“, eine Kampagne, die körperliche Unterschiede als etwas Positives feiert. Seit den Paralympics 2012 ist der britische Sender Channel4 zu einem der innovativsten Sender weltweit geworden, wenn es um das Thema Behinderung geht.

Die Sendung The Last Leg ist beispielsweise seit den Paralympics eine der beliebtesten Sendungen des Senders. Gesendet zur besten Sendezeit am Freitagabend und moderiert von Adam Hills, einem australischen Comedian, der eine Beinprothese trägt. Auch einer seiner beiden Co-Moderatoren, Alex Brooker, hat eine Behinderung und trägt eine Prothese.

Das Bild von Behinderung verändern

Viktoria Modesta will mit ihren Auftritten und ihrem Video vor allem das Bild behinderter Menschen in den Medien und im Alltag verändern.

Forget what you know about disability (Vergiss, was Du über Behinderung weißt) steht am Anfang ihres Videos und das ist wohl auch ihr Anliegen. Sie will, den Blick auf das Thema verändern und Vorurteile aufbrechen.

Deutsche Fernsehmacher schauen sich viel bei britischen Sendern ab. Es wäre zu wünschen, dass das auch bei solchen Projekten der Fall wäre. Channel4 will das Bild behinderter Menschen in den Medien aktiv verändern. Es wäre sehr zu begrüßen, wenn sich das andere Sender weltweit abschauen würden. Es wird gerade sehr in, Behinderung nicht mehr defizitbetont zu betrachten und das ist wirklich begrüßenswert, denn das verändert langfristig auch die Art, wie Fernsehmacher mit dem Thema umgehen. Wer modernes Fernsehen machen will, muss weg von defizitorientierten Tränendrüsensendungen und hin zu Modesta und anderen Stars, die ein positives Bild behinderter Menschen vermitteln.

 

Barrierefreie Weihnachten

Es ist Weihnachten. Für viele behinderte Menschen kann es durchaus eine Herausforderung sein, Weihnachten möglichst barrierefrei zu verbringen. Das geht schon bei den Örtlichkeiten los und hört bei Kommunikationsbarrieren nicht auf. Aber natürlich ist es möglich, auch mit behinderten Angehörigen und Freunden ein schönes Weihnachtsfest zu feiern, an dem jeder Spaß hat, wenn man ein paar Punkte beachtet.

Auf den Ort kommt es an

Ich kann schon gar nicht mehr zählen, wie oft mir jemand sagte, Weihnachten sei nicht so toll gewesen, denn man habe an einem nicht sehr barrierefreien Ort gefeiert, er oder sie habe sich dadurch kaum alleine bewegen können, kam nicht oder nur sehr schwer zur Toilette, musste getragen werden oder was auch immer. Ja, die deutsche Durchschnittswohnung ist vielleicht nicht gerade das Musterbeispiel an Barrierefreiheit, aber oft gibt es ja Optionen. Man muss sie nur nutzen.

Feiert man bei Onkel Paul, der keine Stufen vor der Tür hat oder bei Tante Elfriede, die im 4. Stock ohne Fahrstuhl wohnt? „Aber wir haben doch schon immer bei Tante Elfriede gefeiert“ ist dann vielleicht nicht so das beste Argument, wenn man weiß, dass Neffe Thomas nicht mehr laufen kann oder die Oma die Treppen nicht mehr so gut hinaufkommt. Schließlich sollen sich an Weihnachten ja alle wohlfühlen und dazu trägt eben meist schon die Wahl des Ortes bei, an dem Weihnachten gefeiert werden soll.

Inklusiv feiern

Es sollte vor allem an Weihnachten eigentlich selbstverständlich sein, aber ich erwähne es aus gutem Grund dennoch: Weihnachten ist ein Fest für alle. Wenn die Mehrheit der Familie irgendwas zusammen macht und einer sitzt in der Ecke und starrt die Wand an, ist irgendwas schief gelaufen. Wenn das daran liegt, dass die Person sich aufgrund einer Behinderung ausgeschlossen fühlt, ist das nicht schön.

Um das zu verhindern, sollte man sich unter Umständen vorher gut überlegen, was man an dem Tag macht. Wenn nicht alle teilnehmen können, welche Alternativen gibt es? Wie haben dennoch alle einen schönen Tag?

Untertitel / Audiodeskription einschalten

Ein gemeinsamer Fernsehabend ist etwas feines, aber nur, wenn alle daran teilhaben können. Ist jemand schwerhörig oder gehörlos, sind Untertitel im Fernsehen hilfreich und mehr als eine nette Geste, diese einzuschalten ohne dass die Person darum bitten muss, wenn er oder sie sonst auch immer Fernsehen mit Untertitel schaut. Der britische Blogger Charlie Swinbourne hat weitere Tipps für ein barrierefreies Weihnachten für gehörlose Menschen zusammen gestellt.

Was für gehörlose und schwerhörige Menschen die Untertitel sind, ist für blinde und sehbehinderte Menschen die Audiodeskription (AD). Läuft der Film mit AD sollte man diese einschalten, wenn jemand, der blind ist, mitschaut.

Mit Bedacht schenken

Es gibt kaum eine bessere Kneipenunterhaltung als die über unnütze Geschenke, die man als behinderter Mensch bekommen hat. Vor kurzem erzählte mir jemand, ihr Opa habe, wie jedes Jahr, von einer Verwandten schwarze Socken geschenkt bekommen. Ein Klassiker also. Dagegen ist ja nicht zu sagen, wenn man nicht weiß, dass der Opa im vergangenen Jahr aufgrund von Diabetes beide Füße abgenommen bekommen hat und nein, nicht mit Prothesen versorgt ist.

Wer also nicht im Fettnapf baden möchte, denkt vielleicht lieber einmal mehr darüber nach, ob ein Geschenk sinnvoll ist für jemanden, der behindert ist, oder nicht.

Das Gleiche gilt für das Schenken von Hilfsmitteln. Was Angehörige für jemanden als total hilfreich erachten, muss es nicht wirklich sein. Im Zweifelsfall sucht sich die Person das Hilfsmittel am besten selber aus. Dann ist zwar unter Umständen die Überraschung dahin, aber man investiert nicht Unsummen von Geld in ein Hilfsmittel, das dann doch nur in der Ecke steht. Am Ende ist es immer die Entscheidung des behinderten Menschen selber, was er nutzt und was nicht.

Deshalb ist grundsätzlich beim Schenken von Hilfsmitteln Vorsicht geboten. Nicht alle werden es mögen, wenn sie ohne Absprache Hilfsmittel zu Weihnachten bekommen. Manche könnten das als etwas bevormundend auffassen, andere empfinden Hilfsmittel gar nicht als Geschenk. Also, es ist Fingerspitzengefühl gefragt.

Ich wünsche allen Leserinnen und Lesern dieses Blogs schöne und barrierefreie Weihnachten!

 

Liliput in Cloppenburg

Wir befinden uns im Jahre 2014. Ganz Deutschland redet von Inklusion, von gleichberechtigter Teilhabe und Rechten von behinderten Menschen. Ganz Deutschland? Nein! In Cloppenburg findet man es offensichtlich immer noch in Ordnung, kleinwüchsige Menschen als Attraktion vorzuführen. Die örtliche Disko kündigte für den 6. Dezember „7 echte Liliputaner“ als Attraktion auf ihrer Party „Schneewittchen und die 7 Zwerge“ an.

Nun könnte man sich ohnehin darüber wundern, wieso die Veranstalter glaubten, mit Fabel- und Märchenfiguren und der Zurschaustellung von Menschen mit einer Körpergröße von unter 1,50 Meter mehr Besucher anzulocken. Aber vielleicht ist das ein ernstzunehmendes Signal dafür, dass die Inklusion doch nicht so weit ist, wie man das von einer zivilisierten Gesellschaft annehmen könnte – zumindest nicht in Cloppenburg.

Kleinwüchsigen-Verband empört

Der Protest ließ nicht lange auf sich warten. Immerhin ein Zeichen dafür, dass sich die Gesellschaft seit dem Buch Gullivers Reisen, aus dem der Begriff Liliputaner stammt, doch weiterentwickelt hat. Der Bundesverband Kleinwüchsige Menschen und ihre Familien zeigte sich empört und verurteilte die Zurschaustellungen von kleinwüchsigen Menschen in der Diskothek: „Die online lesbare Veranstaltungsbeschreibung kündigt an, dass am 06.12.2014 „(…) 7 echte Liliputaner (…)“ auf der Party „Schneewittchen und die 7 Zwerge“ seien. Diese Darstellung ist verächtlich, ablehnend und stellt den kleinwüchsigen Menschen nicht als Mitglied unserer Gesellschaft dar. Vielmehr werden hier Menschen mit Fabelwesen aus dem Buch Gullivers Reisen gleichgestellt und zur reißerischen Akquise von Diskobesuchern missbraucht. Dies ist in jeder Hinsicht menschenverachtend. Menschen als Liliputaner zu bezeichnen, sie zur Belustigung zu missbrauchen und zum Gespött anderer zu machen, gehört untersagt. Wir sehen darin eine massive Missachtung der Menschenwürde.“

Das saß. Die Diskothek änderte ihre Veranstaltungsankündigung um. Aus den Liliputanern wurden Zwerge, womit die Veranstalter zweifelsohne bewiesen, dass sie rein gar nichts verstanden hatten. Als ob der Begriff Zwerge irgendwie besser als Liliputaner wäre. Menschen waren die kleinwüchsigen Darsteller damit ja immer noch nicht und zur Schau gestellt wurden sie dennoch. Und so verteilte sich die Veranstaltungsankündigung weiter im Internet. Allerdings nicht, weil alle unbedingt die „7 Zwerge von Cloppenburg“ sehen wollten, sondern weil man vereint die Hände über dem Kopf zusammenschlug.

Peinlich

Und irgendwie war der Diskothek das Ganze dann hinterher doch ein bisschen peinlich. Ja, die 174 Partyfotos hat man natürlich dennoch auf Facebook veröffentlicht, aber dort konnte man auch lesen, man habe die Schneewittchen-Party über eine Veranstaltungsagentur gebucht, die dort in deren Programm angeboten wurde.

Weiter heißt es: „Diese Veranstaltung/Party wird unter anderem mit kleinwüchsigen Menschen durchgeführt, welche auch ebenfalls im Text der Veranstaltung beworben wurden. Dies rief bei einigen Gästen und Besuchern Unverständnis und Empörung auf, dies war von uns nicht beabsichtigt. Wir entschuldigen uns hiermit offiziell bei denjenigen, denen dies missfallen hat. Wir wollten nie jemanden diskriminieren oder „zur Show“ stellen!“

Und die Moral von der Geschicht: Menschenunwürdige Darstellungen gehen auch in Diskotheken nicht. Denn offensichtlich haben sich auch Gäste über das Programm beschwert. Die Zeiten, in denen kleinwüchsige Menschen und Menschen, die einfach anders aussehen als der Durchschnitt, ausgestellt wurden, sind Gott sei Dank vorbei. Und wer jetzt sagt, die kleinwüchsigen Darsteller machen doch mit, sollte sich mal fragen, warum das so ist.

 

Goodbye, Stella Young

Am Wochenende starb Stella Young. Sie wurde nur 32 Jahre alt. Stella war eine australische Journalistin und Aktivistin. Bekannt wurde sie nicht zuletzt als Comedian. Sie war ein Vorbild für viele behinderte Menschen auf der ganzen Welt.

Stella hatte Osteogenesis Imperfecta, umgangssprachlich Glasknochen genannt, und saß deshalb im E-Rollstuhl. Sie starb am Samstag völlig unerwartet und schmerzlos, teilte ihre Familie mit. Die Reaktionen, vor allem im englischsprachigen Internet auf ihren Tod waren überwältigend. Stella Young war am Sonntag, als ihr Tod bekannt wurde, einer der meist genutzten Begriffe auf Twitter.

Ich habe Stella während der Paralympics in London gesehen, als sie mit den Abnormally Funny People auftrat. Sie war eine hervorragende Künstlerin und Aktivistin, die das Publikum gleichzeitig zum Lachen bringen konnte und ihnen zudem ein anderes – oder wie sie es nannte – „wahres“ Bild vom Leben mit Behinderung zu vermitteln.

Behinderung nicht als Defizit sehen

Stella setzte sich vor allem dafür ein, Behinderung zu normalisieren und nicht mehr als Defizit zu betrachten. „Mit 17 habe ich endlich die Wahrheit erfahren“, sagte sie oft. Da habe ihr jemand vom sozialen Modell von Behinderung erzählt. „Ich habe gelernt, dass nicht ich falsch für diese Welt bin, sondern dass die Welt falsch für mich ist“, sagte sie. Sie sprach von da an von „behinderten Menschen“ und nicht mehr von „Menschen mit Behinderungen“, denn sie wollte nicht, dass man die Behinderung irgendwo hinten verstecken muss. Stella Young wollte klar machen, dass behinderte Menschen behindert werden und Behinderung nicht in erster Linie ein körperlicher Zustand ist. Dafür nutze sie ihre zahlreichen Medienauftritte, ihr Comedyprogramm und Vorträge. Den bekanntesten Vortrag hielt sie bei TEDx in Sydney.

Inspirationsporno

In diesem legendären TEDx-Talk sprach sie darüber, wie behinderte Menschen als Inspiration missbraucht werden, nicht zuletzt auf Social-Media-Kanälen. Sie kritisierte zum Beispiel viel geteilte Sprüche wie „The only disability in life is a bad attitude“ (Die einzige Behinderung im Leben ist eine schlechte Einstellung).

„Inspirationsporno“ nannte Stella diese Bilder. „Wir objektivieren die Gruppe behinderter Menschen zum Nutzen der Gruppe nichtbehinderter Menschen.“ Stella fragte in ihrem TEDx-Talk: „Ist es wirklich fair, Menschen als Inspiration zu benutzen, nur weil sie ihren Körper so nutzen wie sie ihn nutzen können?“, fragte Stella. Und zudem seien die Sprüche auch nicht wahr: „Noch nie haben sich Stufen in eine Rampe verwandelt, nur weil ich sie freundlich angelächelt habe.“ Die Behinderung – in dem Fall die Stufen – bleiben, auch wenn sie ihre Einstellung dazu ändere. Sie lebte das soziale Modell von Behinderung überall – Barrieren in der Umwelt waren für sie die Behinderung, nicht ihre Diagnose oder ihr Körper.

Stella Young hat uns behinderten Menschen viel hinterlassen. Sie wollte, dass behinderte Menschen sich selbst als normalen Teil der Gesellschaft sehen und so gesehen werden und sie irgendwann nichts Besonderes mehr sind. Kein Inspirationsporno mehr und kein Mitleid. Stattdessen wollte sie gleiche Rechte und setzte sich sehr für eine bessere Teilhabe behinderter Menschen in Australien und auf der ganzen Welt ein. Wenige Wochen vor ihrem überraschenden Tod hat der Sydney Morning Herald einen Brief von ihr an ihr 80-jähriges Selbst veröffentlicht. Sie ist leider keine 80 geworden, trotzdem enthält der Brief tolle Botschaften, auch was ihren Tod angeht.

Stella ist nicht mehr da, aber ihre Botschaften leben weiter. Wenn das nächste Mal der „Behinderung ist nur eine falsche Einstellung“-Spruch in der Timeline auftaucht, ihn einfach nicht mehr zu teilen, wäre schon ein Anfang.

 

Inklusion nicht nach 21 Uhr

Am Sonntag kam ich an einem Schild vorbei, auf dem darauf hingewiesen wurde, dass man zwischen ein Uhr und fünf Uhr nachts die Treppe nehmen solle. Der Fahrstuhl würde in dieser Zeit abgestellt. Es war bei Weitem noch nicht ein Uhr, sodass ich noch aus dem Gebäude herauskam. Aber ich bin immer wieder fasziniert, wer sich so etwas ausdenkt.

Eine Ausnahme? Von wegen. Fahrstühle, die nachts abgestellt werden, kommen immer mal wieder vor. Auch in Bereichen, die auch nachts genutzt werden. Was mich daran fast noch mehr ärgert als der Umstand, dass ich dann dort nicht mehr hinein- oder herauskomme, ist die Einstellung, die sich dahinter verbirgt: Menschen mit Mobilitätseinschränkungen haben spät nachts zu Hause zu bleiben, deshalb kann man den Fahrstuhl ja abschalten.

Vor Jahren bin ich mal in einer Stuttgarter U-Bahn-Station gestrandet, weil jemand noch vor Abfahrt des letzten Zuges den Fahrstuhl der Station ausgeschaltet hatte. Der herbeigerufene Sicherheitsdienst erklärte mir dann auch gleich im entrüsteten, fast schon tadelnden Tonfall, dass Rollstuhlfahrer so spät normalerweise nicht unterwegs seien. Inklusion bitte nicht nach 21 Uhr.

Noch nie auf einem Konzert

Die Organisation Mencap hat jetzt in London ein Konzert veranstaltet, um darauf aufmerksam zu machen, dass auch behinderte Menschen ein Recht darauf haben, nach 21 Uhr am sozialen Leben teilzunehmen. Oft sind es nicht nur bauliche Probleme, die das verhindern, sondern auch organisatorische. Ist noch jemand da, um jemanden, der auf Assistenz angewiesen ist, mitten in der Nacht ins Bett zu bringen? Wer hilft einem Menschen mit Lernschwierigkeiten, mitten in der Nacht nach Hause zu kommen? Eine der beiden Moderatorinnen des Konzerts – eine junge Frau, die selbst eine Lernbehinderung hat – war zuvor noch nie auf einem Konzert. Was für nicht behinderte 18-Jährige normal ist, war für die Moderatorin eine einmalige Ausnahme.

Gerade wenn Menschen in Einrichtungen leben und nicht selbstbestimmt in der eigenen Wohnung wohnen, müssen sie sich oft an den Ablauf der Einrichtung anpassen. Konzert- und Kinobesuche nur nach Anmeldung, wenn überhaupt. Inklusion sieht anders aus.

Die späte Buchung verrät die Identität

Wer als behinderter Mensch nach 21 Uhr unterwegs ist, bekommt auch schon mal gesagt, wie ungewöhnlich das sei. Ich bin ständig nach 21 Uhr unterwegs. Wenn ich mir spät ein Taxi bestelle, um nach Hause zu fahren, ist es mir mehrfach passiert, dass ein Fahrer kam, den ich schon kannte. Das ist in einer Millionenstadt wie London mit 20.000 Taxis wirklich sehr ungewöhnlich. „Ich habe gleich gewusst, dass Sie es sind, als ich die Buchung sah. Ist ja schon spät, da fahren nur noch Sie mit der Taxicard. Ich wollte eigentlich nach Hause fahren, aber ihr Zuhause liegt ja auf meinem Weg“, kriege ich dann manchmal zu hören. Eine Taxicard ist ein System, das in London die Fahrdienste ersetzt und mit dem Rollstuhlfahrer und blinde Menschen preiswert Taxi fahren können. Natürlich wissen die Fahrer eigentlich nicht, wer die Fahrt gebucht hat, bevor sie sie annehmen. Aber sie sehen, dass es eine Taxicard-Buchung ist.

Es ist spät, da bucht eine Rollstuhlfahrerin im Südosten Londons: Allein über diese Angaben wissen die Fahrer also schon, dass ich das sein muss. Und weil sie mich kennen und wissen, wo ich wohne und das auf ihrem Weg liegt, nehmen sie die Fahrt an. Nun könnte ich mich über meinen Taxi-VIP-Status in London freuen. Tue ich aber nicht, denn es zeigt nur, dass der Weg zur Inklusion noch weit ist.

Nicht zum Nulltarif

Es muss triftige Gründe dafür geben, warum so wenige behinderte Menschen spät abends unterwegs sind. Genau diese Gründe sind es, die die Inklusion behindern, und ich ahne, welches der wichtigste ist: fehlende Assistenz. Ist diese nicht gegeben, kann man sein Leben nicht selbst bestimmen. Ein weiteres Problem sind Strukturen, die einem sagen, wann man zu Hause zu sein hat, sowie die Einstellung, behinderte Menschen hätten abends und nachts zu Hause zu sein, und dass es auch keinen Grund gebe, das zu ändern.

Die Lösung für dieses Problem lautet in vielen Fällen persönliche Assistenz statt Heim oder Pflegedienst. Wenn mehr behinderte Menschen selbst bestimmen könnten, was sie mit ihrem Leben machen und wann sie es tun, würde das Fahrstuhl-Ausschalten aufhören und auch nach 21 Uhr könnte man auf viel mehr Menschen mit Behinderungen treffen. Ja, das alles kostet Geld, aber Inklusion ist nicht zum Nulltarif zu haben. Nicht einmal vor 21 Uhr.

 

Im Sitzen zur Stehparty

Ich bin eigentlich ständig auf Stehempfängen und Stehpartys. Das bringt mein Leben irgendwie so mit sich. Die Medien- und Geschäftswelt feiert und netzwerkt im Stehen. Im Gegensatz zu Wolfgang Schäuble meide ich sie nicht, sondern mache sie mir einfach barrierefrei.

Letztes Wochenende war ich auf einer Geburtstagsparty eingeladen. Es gab ein paar Stühle und Tische, aber die meisten Leute standen. Ich habe das gemacht, was ich immer in diesen Situationen tue: Ich schnappte mir die Leute, mit denen ich mich unterhalten wollte und setze mich mit denen irgendwo hin. Und umgekehrt, die Leute, die mich sprechen wollten, holten sich einen Stuhl und setzten sich zu mir.

Ich war noch nie irgendwo, wo es keine Stühle gab – und wenn sie jemand aus einem anderen Raum holen muss. Aber dann frage ich danach.

Hocke oder nicht Hocke?

Die Leute fragen mich oft, ob sie sich zu mir herunterknien oder in die Hocke gehen sollen, wenn sie mich treffen. Das ist natürlich sehr individuell, wie jeder Rollstuhlfahrer das handhabt. Aber meist ziehe ich es vor, zu den Leuten nach oben zu schauen, zumindest bis zu einer Größe von 1,85 Meter. Denn spätestens nach fünf Minuten werden sie unruhig, wenn sie in der Hocke sitzen, weil ihnen die Knie einschlafen. So kann man kein vernünftiges Gespräch führen. Ich bitte die Leute sehr oft, sich einen Stuhl zu besorgen oder mit mir in einen Bereich zu gehen, wo man sitzen kann. Ich saß schon oft umringt von stehenden Leuten in der Mitte eines Raumes und habe mich mit jemandem, der neben mir auf dem Stuhl saß, unterhalten. Mann muss es einfach machen.

Was mich allerdings echt nervt ist, wenn es etwas zu essen gibt und das an Stehtischen. Das ist mir erst vor Kurzem auf einer Konferenz passiert. Zur Abendveranstaltung in einem großen Ballsaal eines Fünf-Sterne-Hotels gab es ein riesiges Buffet – aber leider nur Stehtische. Ich kam in den Saal rein und mir war klar, wenn ich das nicht sofort anspreche, wird das kein schöner Abend für mich werden. Ich hätte auf dem Schoß essen und mein Glas auf den Boden stellen müssen. Alleine. Während die anderen sich an Stehtischen unterhielten.

Also bin ich zu dem Bankettchef hin und fragte ihn, wo ich denn essen solle. Allgemeine Ratlosigkeit machte sich in den Gesichtern breit, aber dann holten mehrere Kellner einen runden niedrigen Tisch. Sogar einen Kerzenständer bekam „mein“ Tisch wie alle anderen Tische auch. Da ich nicht alleine essen wollte, fragte ich noch nach ein paar Stühlen. Auch die wurden gebracht. Und es überraschte mich nicht, dass sich der Tisch schnell füllte. Wer will schon gerne im Stehen essen, wenn er sitzen kann?

Ja, natürlich nervt das manchmal, fragen zu müssen, weil andere Leute nicht mitgedacht haben. Aber andererseits ändert sich ja nie etwas, wenn man als Rollstuhlfahrer einfach wegbleibt. Der Bankettchef des Hotels denkt jetzt vielleicht anders über sein Stehtisch-Konzept als vorher. Und jeder Eventmanager, der für mich Stühle tragen musste, weiß nun, dass eine gute Party nur eine ist, bei der man sich auch mal irgendwo hinsetzen kann.