Lesezeichen
 

Programmdekade Akzeptanz statt Themenwoche Toleranz

Die ARD ruft zur Toleranz auf. Das hat sie auch bitter nötig, denn wer die Beiträge zur ARD-Themenwoche ansieht, braucht diese auch, zumindest wenn er zu einer der Gruppen gehört, für deren Toleranz die ARD werben möchte. Meine Toleranz stieß schon an Grenzen, da hatte die Themenwoche noch gar nicht angefangen. Auf Großplakaten fragte die ARD, ob ein Rollstuhlfahrer Außenseiter oder Freund ist? Woher soll ich das wissen? Ich kenne den Mann ja nicht. Aber darauf kommt es wohl nicht an, es geht ja um das Merkmal „Rollstuhlfahrer“. Die anderen Gruppen trifft es nicht weniger hart. Da wird gefragt, ob Homosexualität normal oder nicht normal ist, um mal nur ein Beispiel zu nennen.

Akzeptanz statt Toleranz

So eine Kampagne wäre vielleicht in den 50er Jahren willkommen gewesen, nachdem man gerade aufgehört hatte, diese Menschen aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit umzubringen, aber 2014 auf Großplakaten Fragen zu stellen, die eigentlich keine mehr sind, sendet ein merkwürdiges Signal und gibt den Ewiggestrigen das Gefühl, dass diese Fragen durchaus noch in Ordnung sind.

Dabei geht es bei dem Umgang mit behinderten Menschen nicht um Toleranz, sondern um Akzeptanz. Ich möchte nicht irgendwo geduldet werden, ich möchte willkommen sein. Es muss normal sein, dazuzugehören. Genau das bedeutet auch Inklusion. Die Gesellschaft ist längst weiter als die ARD sie darstellt. Es gibt ein – wenn auch im Vergleich zu anderen Ländern schwaches – Antidiskriminierungsgesetz. So etwas wie das Flensburger Urteil, bei dem Gäste auf Preisnachlass bei einer Reise klagten, weil sie mit behinderten Menschen im gleichen Speisesaal essen mussten, wurde damals schon scharf kritisiert und wäre heute wohl anders ausgefallen. Die Gesellschaft hat sich weiter entwickelt.

Dass die ARD auch mit dem Begriff Inklusion Probleme hat, zeigte sich in einem Tagesthemen-Beitrag zur Themenwoche. Er zeigte eine Sehbehindertenschule, die zwei sehende Mädchen in einer Klasse hat, und schon ist es Inklusion. Nein, ist es nicht. Es ist Toleranz. Die sehenden Mädchen werden dort geduldet, aber das ist nicht das Ziel. Das Ziel ist Inklusion. Gleiche Bildungschancen für alle – unabhängig davon, ob sie gut oder schlecht sehen können. Thema verfehlt.

Überschwemmung

Indem die ARD eine ganze Woche lang die Zuschauer mit Themen über Minderheiten überschwemmt, macht sie vor allem eines deutlich: Wie wenig die Themen sonst in ihren Programmen vorkommen. Warum braucht man eine Themenwoche, wenn man diese Themen doch das ganze Jahr über ins Programm nehmen könnte? Aber bitte nicht in der Tonlage der Themenwoche – von oben herab an der Oberfläche kratzend – sondern auf Augenhöhe. Mehr Akzeptanz statt Toleranz.

Warum muss ein Beitrag über die Abweisung einer Rollstuhlfahrerin durch Türsteher einer Diskothek in einer Themenwoche laufen? Gehört das nicht das ganze Jahr über, dann, wenn es passiert, in das Regionalprogramm? Und zwar nicht nur in einem empörenden Tonfall, sondern vernünftig journalistisch aufgearbeitet: Was sagt der Diskothekenbesitzer? Was sagt das örtliche Gewerbeaufsichtsamt? Wie schätzt ein Jurist die Lage ein? Warum ist die Disko nicht barrierefrei? Warum hat das Bauamt dann eine Genehmigung erteilt? Wo gibt es Gesetzeslücken?

Um solche und andere Beiträge machen zu können, braucht man aber Redakteure, die sich mit der Thematik auskennen, die nicht Toleranz mit Inklusion verwechseln, die kompetent Interviews zur UN-Behindertenrechtskonvention führen können. Die wissen, wo die Gesetzeslücken sind, wo es Regelungsbedarf gibt und wo die berichtenswerten Projekte zu finden sind.

Raus aus der Nische

Und die Themen gehören in die Mainstream-Programme und nicht in irgendwelche Sondersendungen, Nischenprogramme und Themenwochen. Sie gehören in Politiksendungen, in Verbraucherprogramme, Dokumentationen. Die ARD braucht keine Themenwoche Toleranz, sondern eine Programmdekade Akzeptanz.

 

Der lange Weg zur Inklusion

Der Weg zu Inklusion und voller gesellschaftlicher Teilhabe behinderter Menschen ist noch weit. Für die Gruppe der Menschen mit geistiger Behinderung ist der Weg aber wohl noch weiter als für die meisten anderen Gruppen. Das zeigt eine aktuelle repräsentative Umfrage der Bundesvereinigung Lebenshilfe.

Nur eingeschränkte Teilhabe möglich?

Die deutsche Bevölkerung ist überwiegend der Auffassung, dass Menschen mit einer geistigen Behinderung nur eingeschränkt am gesellschaftlichen Leben teilhaben können. Bei der Freizeitgestaltung (Sport, kulturelle Aktivitäten) meinen immerhin 19 Prozent der Befragten, dass dies uneingeschränkt möglich sei. Die große Mehrheit (62 Prozent) glaubt jedoch, geistig Behinderte nur eingeschränkt teilnehmen können. 14 Prozent halten es für kaum oder gar nicht möglich, dass Menschen mit geistiger Behinderung ihre Freizeit selbstständig gestalten.

Ganz ähnlich sieht es bei der Frage nach selbstständigem Wohnen, dem Besuch einer regulären Schule, eigenständigen Urlaubsreisen oder der Teilnahme am regulären Arbeitsleben aus. In diesen Bereichen halten jeweils nur vier bis neun Prozent der Bevölkerung es für möglich, dass Menschen mit geistiger Behinderung am gesellschaftlichen Leben uneingeschränkt dabei sein können. 61 bis 75 Prozent sehen eine eingeschränkte Partizipationsmöglichkeit. Dass Menschen mit geistiger Behinderung von vornherein ausgeschlossen sind, glauben je nach Bereich lediglich zwischen 18 und 28 Prozent.

Kaum Kontakt

Nur jeder fünfte Befragte (22 Prozent) gab an, überhaupt Kontakt mit Menschen mit geistiger Behinderung zu haben, sei es in der eigenen Familie, dem Verwandten- oder Bekanntenkreis. Obwohl die UN-Behindertenrechtskonvention bereits vor fünf Jahren von Deutschland ratifiziert wurde, ist sie als Auslöser für die Inklusionsdebatte weitgehend unbekannt. Nur 22 Prozent der Bevölkerung haben von der UN-Konvention überhaupt gehört.

Die UN-Behindertenrechtskonvention ist ein Men­schen­recht­sübereinkom­men, das neben der Bekräf­ti­gung all­ge­meiner Men­schen­rechte auch für behin­derte Men­schen eine Vielzahl auf die Lebenssi­t­u­a­tion behin­derter Men­schen angepasste Bestimmungen enthält.

Das Bild in der Gesellschaft: Hilfsbedürftig

Auch das Bild von Menschen mit geistiger Behinderung scheint sich nur langsam zu wandeln. Aus Sicht der Befragten sind Menschen mit geistiger Behinderung in erster Linie „hilfsbedürftig“ (88 Prozent). An zweiter Stelle folgt mit 57 Prozent der Begriff „lebensfroh“, knapp dahinter liegen „ausgegrenzt“ und „Mitleid“ mit jeweils 56 Prozent. Jeder zweite Bürger hat Berührungsängste. Nur wenige Befragte glauben, dass Menschen mit geistiger Behinderung „selbstständig“ oder „gut integriert“ (jeweils 18 Prozent) sind. Personen, die in ihrem Umfeld Menschen mit einer geistigen Behinderung kennen, nennen diese positiven Begriffe allerdings häufiger.

Das Bild stimmt nicht (mehr)

Dass Menschen mit geistiger Behinderung in erster Linie hilfsbedürftig seien, decke sich nur noch sehr bedingt mit der Wirklichkeit, die die Lebenshilfe wahrnehme, sagte deren Vorsitzende Ulla Schmidt. Immer mehr Menschen mit Behinderungen nehmen ihre Interessen unterdessen selbstbewusst in die eigene Hand, sagte sie.

Was mir bei der Umfrage vor allem auffällt, ist der extrem defizitorientierte Blick. Wenn wir weiter davon ausgehen, dass Inklusion behinderter Menschen nicht oder nur eingeschränkt möglich sein wird, statt zu überlegen, wie es gehen könnte, wird der Weg noch länger werden. Wer von Anfang glaubt, es wird sowieso nicht funktionieren, wird natürlich scheitern. Und gegen das falsche Bild hilft vor allem eines: Kontakt mit den Menschen selber. Wenn nur jeder Fünfte überhaupt Kontakt mit Menschen mit einer geistigen Behinderung hat, dann ist auch klar, woher die Berührungsängste kommen. Was man nicht kennt, verunsichert. Wenn behinderte Menschen mehr am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können, dann wird auch diese Angst weniger. Es ist noch ein langer Weg. Deshalb wäre es gut, wenn man mal ein bisschen an Geschwindigkeit zulegen würde.

 

Mit Knopflochkamera für die BBC durch London

Die BBC hat am Montag einen Film über die Barrieren gezeigt, auf die behinderte Menschen in ihrem Alltag stoßen. Ich habe an diesem Film maßgeblich mitgewirkt und fast zwei Wochen lang meinen Alltag gefilmt.

Ich hatte 2013 schon mal mit versteckter Kamera für die BBC gedreht, allerdings nur einen Tag lang. Dabei ging es vor allem um die Barrierefreiheit von öffentlichen Verkehrsmitteln und darum, wie nachhaltig sich die Paralympics in der Stadt bemerkbar machen (oder eben auch nicht). Entstanden ist dieser Film.

Diesmal war alles es etwas anders. Die Kamera war noch kleiner als die, die ich 2013 hatte. Sie war so groß wie ein kleiner Knopf und an einer Tasche befestigt. Man sagte mir gleich am Anfang, sie sei sehr teuer, aber nicht versichert. So war ich in den ersten Tagen völlig nervös, weil ich ständig Angst hatte, die Kamera zu verlieren. Die war zwar gut festgemacht, aber mit einem Wert von 25.000 Euro an der Tasche wird man einfach nervös. Nur nicht im Café die Tasche klauen lassen, nicht am „Knopf“ hängenbleiben, ist die Kamera jetzt an oder aus? Ein entspanntes Leben habe ich diese zwei Wochen lang nicht gehabt.

Gestrandet auf der Dachterrasse

Es war zudem wie verhext: Wann immer ich die Kamera eingeschaltet hatte, lief irgendwas völlig daneben. Noch nie stand ich binnen zwei Wochen vor so vielen defekten Fahrstühlen. Einmal blieb ich um 23 Uhr auf einer Dachterrasse über den Dächern Londons hängen, weil der Lift, mit dem ich hinaufgekommen war, einfach nicht mehr hinunterfahren wollte. Aber das Konzerthaus, auf dessen Dach ich mich befand, um den Geburtstag einer Freundin zu feiern, hatte Gott sei Dank einen Notfalldienst, der auch irgendwann kam und den Fahrstuhl wieder in Gang setzte.

Ich war nicht die einzige, die von der BBC mit einer Kamera ausgestattet wurde. Ein blinder Mann mit einem Blindenführhund bekam ebenfalls eine Kamera, um vor allem das Verhalten von Taxifahrern zu testen. Von 20 Fahrern verweigerten ihm fünf die Mitfahrt, weil sie den Hund nicht mitnehmen wollten. Das ist in Großbritannien illegal.

Bankgeschäfte auf der Straße

Sinn des Filmes ist, die ganz „normalen“ Barrieren zu zeigen, auf die Rollstuhlfahrer und blinde Menschen immer noch stoßen und die es eigentlich längst nicht mehr geben sollte: zum Beispiel Coffeeshops mit Stufen vor der Tür oder, wenn sie keine Stufen haben, mit Stehtischen, an denen ein Rollstuhlfahrer nicht sitzen kann; eine Postfiliale mit Stufe, aber ohne Rampe, deren Filialleiter freundlich anbietet, die Bankgeschäfte doch gleich auf der Straße abzuwickeln; eine Drogerie, die einen Fahrstuhl zur Apotheke hat, mir aber sagt, ich könne den Lift nicht nutzen, weil sie ihn nicht gewartet hätten; Mitarbeiter von Zugunternehmen, die „vergessen“, einen aus dem Zug zu holen, obwohl man sich vorher angemeldet hat. Man hätte einen zwei Stunden langen Film aus den Vorfällen machen können.

Alle oben erwähnten Beispiele sind in Großbritannien übrigens rechtswidrig. Seit 1995 müssen alle Einrichtungen, Geschäfte, Banken und so weiter „angemessene Vorkehrungen“ treffen, um behinderten Menschen einen gleichwertigen Service wie nicht behinderten Menschen anzubieten. Dazu gehören zum Beispiel portable Rampen, die ein oder zwei Stufen überbrücken helfen. Treffen die Einrichtungen und Geschäfte diese Vorkehrungen nicht, machen sie sich schadensersatzpflichtig. Zwar sind die Summen, die für Diskriminierung gezahlt werden, im Königreich noch nicht ganz so hoch wie in den USA, aber dennoch sorgen sie dafür, dass ziemlich viel getan wird.

Fairerweise muss man sagen, dass sich viele Unternehmen daran halten und genau diese Vorkehrungen getroffen haben. Oft ist das keine Frage des Geldes – eine portable Rampe kostet etwa 100 Euro – sondern des Willens. Auch die erwähnte Drogeriekette kann sich die Wartung ihrer Lifts sicher leisten. Aber man muss es eben machen. Und was für einen kleinen Laden an der Ecke zu teuer ist, ist dann auch nicht mehr „angemessen“ im Sinne des Gesetzes.

Die schlimmste Situation während des Filmens für mich war, als ich von einem Typen in einer U-Bahnstation belästigt wurde, der vorgab, mir doch nur helfen zu wollen, um mich später mit Gegenständen zu bewerfen. Bis zum Schluss wurde diskutiert, ob diese Szene im Film bleiben sollte. Erst mit Ausstrahlung sah ich, dass sie nicht gezeigt wurde. Eigentlich handelt der Film ja auch von Barrieren und nicht von kriminellen Übergriffen.

Gewöhnungssache

Interessant für mich war, das Material hinterher anzuschauen, denn ich habe viele Situationen teilweise gar nicht so krass wahrgenommen, wie sie aber de facto waren. Das wurde mir erst klar, als ich die Aufzeichnungen sah. Etwa respektlose Restaurantmanager und Angestellte, die mir sagen, ich solle doch draußen essen, da gebe es niedrige Tische. Doof dabei war nur, dass es in Strömen regnete.

In der Situation selber fielen mir die teilweise unverschämten Reaktionen gar nicht mehr auf. Ich war nur noch auf Problemlösung aus, was im Alltag wohl auch wirklich besser ist, als sich auch noch über das Benehmen aufzuregen. Aber an der Reaktion des BBC-Teams, wenn ich neues Material überspielte, merkte ich schon, was ich als normalen Alltag empfand, war für nicht behinderte Zuschauer, die diese Situationen nicht so kennen, total schockierend. Ich bin das einfach gewöhnt.

Ich war am Ende froh, die Kamera wieder zurückgeben zu können. Dennoch finde ich es wichtig, dass es solche und ähnliche Fernsehprojekte gibt. Was geändert werden muss, um behinderten Menschen die Teilhabe am normalen Leben zu ermöglichen, wird vielen erst bewusst, wenn sie die Probleme mal gesehen haben – und sei es im Fernsehen. Das ist viel effektiver, als irgendwelche Promis in Rollstühle zu setzen.

 

Die Angst vor dem Druck

Leere Rollstuehle mit Plakaten

„Wenn ich deine Behinderung hätte, hätte ich mich schon umgebracht“, „Ich könnte nicht so leben wie du“ – ganz egal, wie es formuliert wird, aber die Erfahrung, dass der Wert des eigenen Lebens von anderen infrage gestellt wird, machen viele behinderte Menschen. Oft lassen sich solche Reaktionen mit Unwissenheit darüber erklären, was auch mit einer Behinderung möglich ist. Manchmal liegt es auch einfach an einem sehr oberflächlichen Weltbild oder es schwingt die Angst mit, im Falle eines Falles alleine dazustehen und nicht genug Hilfe zu bekommen.

Lebenswert verteidigen

Was immer die Motive für diese Aussagen sind, wohl kaum eine andere gesellschaftliche Gruppe muss so oft erklären, dass ihr Leben doch lebenswert ist, wie behinderte Menschen. Auch wenn die Aussagen manchmal bewundernd gemeint sind oder eigentlich Empathie ausdrücken sollen, in der Mehrheit der Fälle wirken solche Aussagen eher bedrohlich als positiv.

Demonstration

Gerade gab es vor dem britischen Parlament eine Demonstration von Menschen mit Behinderungen, die sich gegen eine Änderung des Gesetzes zur Sterbehilfe einsetzen. Auch behinderte Mitglieder des Oberhauses setzen sich gegen die Gesetzesinitiative ein. In Österreich kämpft der behinderte Parlamentsabgeordnete Franz-Joseph Huainigg dafür, dass aktive Sterbehilfe dauerhaft verboten bleibt. Er ist Rollstuhlfahrer, auf Assistenz angewiesen und braucht ein Beatmungsgerät. Auch viele österreichische Behindertenverbände lehnen die aktive Sterbehilfe ab. In Deutschland hat der Tod Udo Reiters die Debatte um aktive Sterbehilfe und assistierten Suizid weiter angeheizt.

Auch in den USA gibt es eine Bewegung von behinderten Menschen, die gegen die aktive Sterbehilfe, wie sie im Staat Oregon praktiziert wird und die jetzt Vorbild für europäische Länder werden soll, eintritt. Not Dead Yet („Noch nicht tot“) ist ein Zusammenschluss von behinderten Menschen, die dagegen kämpfen, dass ihr Leben als lebensunwert betrachtet und Sterbehilfe als Ausweg angeboten wird.

Der Tod als Sparmaßnahme?

Während in Deutschland die Kritiker gegen die Legalisierung von aktiver Sterbehilfe in erster Linie von kirchlicher Seite und der Hospizbewegung kommen, wird in Großbritannien der Kampf gegen das Gesetz vor allem von behinderten Menschen angeführt – und das sehr lautstark. Sie haben Angst, dass alte und behinderte Menschen künftig gezwungen oder zumindest stark unter Druck gesetzt werden könnten, sich für den schnellen Tod statt für teure Assistenz- und Medizinleistungen zu entscheiden. Assistierter Suizid als Sparmaßnahme.

Nicht wenige behinderte Menschen haben irgendwann in ihrem Leben selber einmal die Prognose bekommen, dass sie den Unfall oder die Erkrankung nicht überleben werden und sicher bald sterben werden, leben aber entgegen der Prognose weiterhin.

Deshalb misstrauen sie den Prognosen der Medizin und sehen sie nicht als verlässlichen Partner beim Umgang mit dem Sterben an. Zudem befürchten sie, dass Angehörige Druck machen könnten, wenn durch die hohen Pflegekosten das Erbe in Gefahr ist oder die Familie anderweitig belastet wird. Viele haben Angst vor einem Dammbruch.

Viele haben Angst vor dem Druck

Die britische Behindertenorganisation Scope hat mehr als tausend behinderte Menschen zu ihrer Meinung zur aktiven Sterbehilfe befragen lassen. 64 Prozent gaben an, sie seien besorgt über den Schritt, assistierte Selbsttötung zu legalisieren. Bei jungen Befragten lag die Quote sogar noch höher. 62 Prozent befürchten, es könnte Druck auf behinderte Menschen ausgeübt werden, ihr Leben frühzeitig zu beenden.

Sehr interessant sind auch die Ergebnisse zur gesellschaftlichen Akzeptanz von behinderten Menschen. Zwei Drittel der Befragten gab an, dass sie glauben, dass behinderte Menschen oft als Belastung für die Gesellschaft angesehen werden. Drei von fünf Befragten hatten den Eindruck, dass das Leben behinderter Menschen oft nicht so wertgeschätzt wird wie das nicht behinderter Menschen. Die Lebensqualität von Menschen mit Behinderungen werde infrage gestellt, sagten 66 Prozent der Befragten.

So ist es nicht verwunderlich, dass viele behinderte Menschen die aktive Sterbehilfe nicht als Wahlmöglichkeit ansehen, sondern als Damoklesschwert, das über ihnen hängt oder wie der österreichische Abgeordnete Franz-Joseph Huainigg es zusammenfasste: „Jede Euthanasie-Gesetzgebung baut Druck auf behinderte Menschen auf.“

 

Gold für Inklusion

Behinderte Leichtathleten können künftig an Wettkämpfen von nicht behinderten Sportlern teilnehmen. Prima, wurde auch Zeit. Der Deutsche Leichtathletik-Verband hat das jetzt beschlossen, allerdings wird es keine gemeinsame Wertung von behinderten und nicht behinderten Sportlern mehr geben. Auslöser war die Diskussion um den Leichtathleten Markus Rehm, der mit einer Prothese beim Weitsprung bei den Deutschen Meisterschaften startete – und gewann. Der Verband hat jetzt entschieden, Rehm darf seinen Titel behalten, weil es derzeit nicht nachweisbar sei, dass er durch die Prothese einen Vorteil habe. So lange das wissenschaftlich aber nicht geklärt sei, würden behinderte und nicht behinderte Sportler in Deutschland nicht mehr gemeinsam gewertet.

Seit sich Oscar Pistorius einen Platz bei den Olympischen Spielen in London erkämpft hatte und wenige Wochen später bei den Paralympics startete, muss man sich die grundsätzliche Frage stellen, warum der Sport von nicht behinderten Menschen und der Behindertensport so stark von einander getrennt sind. Insofern ist es ein gutes Zeichen, dass der DLV nun einen Schritt hin zu Inklusion macht.

Ich halte das für einen guten Kompromiss, so lange die Wissenschaft nicht mehr Erkenntnisse darüber hat, ob Prothesen beim Laufen oder beim Weitsprung einen Vorteil darstellen. Wenn die Ergebnisse allerdings vorliegen, spricht nichts dagegen, wieder gemeinsam werten zu lassen. Denn ein bisschen schwingt bei der Debatte schon mit, dass man einfach nicht glauben kann, dass jemand mit einer Behinderung die gleichen Leistungen erbringen kann wie jemand ohne Behinderung – ein beliebtes Vorurteil übrigens, nicht nur im Sport.

Zwei Spiele statt Inklusion

Schon bei Olympia in London konnte mir niemand wirklich schlüssig erklären, warum es  Olympische Spiele und Paralympics geben muss:. Warum kann man nicht ein Rollstuhlbaskettballspiel ansetzen, gefolgt von einem Basketballspiel von nicht behinderten Spielern? Warum lässt man nicht nur auf nationaler sondern künftig auch auf internationaler Ebene behinderte und nicht behinderte Leichtathleten miteinander starten, die dann aber getrennt gewertet werden? Das würde es behinderten Sportlern leichter machen, Sponsoren zu finden, denn plötzlich gibt es nur noch „die Spiele“ oder „die Weltmeisterschaft“ und keine getrennten Veranstaltungen mehr.

Bevor ich die Paralympics 2012 in London selbst erlebt hatte, empfand ich sie als eine ziemlich klischeemässige Behindertenveranstaltung. Dann habe ich aber Tage in Stadien und anderen Sportstätten verbracht. Das hat meine Sicht zwar verändert. Aber warum sollen es zwei Spiele sein? Nach ausverkauften Spielstätten in London vor begeistertem Publikum ist klar, dass die Zuschauer bei einem Rollstuhlbasketballspiel genauso mitgehen können, als wenn Leute auf zwei Beinen übers Spielfeld rennen.

Aufmerksamkeitsgewinn oder Verlust?

Oft sind es vor allem die behinderten Sportler, die Angst haben, dass sie untergehen, wenn ihre Wettkämpfe nicht mehr in getrennten Meisterschaften oder bei den Paralympics ausgetragen werden. Sie haben Angst, dass sich niemand mehr für sie interessiert, wenn sie um die Aufmerksamkeit und Popularität mit nicht behinderten Sportlern kämpfen müssen.

Meines Erachtens tun sie das aber jetzt schon und verlieren im Kampf um die Aufmerksamkeit, weil sie mit den getrennten Veranstaltungen schlechtere Chancen haben. Nicht alle Fernsehanstalten räumen den Paralympics die Aufmerksamkeit ein, die sie eigentlich verdient hätten.

Gerade der Sport hat große Möglichkeiten, Vorbild für andere Gesellschaftsbereiche zu sein, wenn es um Inklusion geht. Deshalb: Die Debatte in der Leichtathletik kann nur der Anfang sein. Es ist Zeit, sie auch in anderen Sportarten zu führen und die Paralympics in die Olympischen Spiele zu integrieren.

 

Rollstuhl reparieren beim Friseur

Ich war heute beim Friseur. Mein Rollstuhl wurde dort repariert. Ja, ernsthaft. Als ich vor der Tür aus dem Auto stieg, fiel der Kopf einer Schraube an meinem Rollstuhl einfach ab. Der Rest der Schraube steckte noch im Rollstuhl. Es ist eine Schraube, die mein Rückenteil des Rollstuhls festhält. Ohne die fährt es sich schlecht bis gar nicht.

Die modernen Rollstühle wiegen kaum noch etwas, es gibt kaum noch Teile daran, alles ist festverschweißt oder in einem Stück gegossen. Das macht sie leicht und wendig. Mein Rollstuhl hat vielleicht alles in allem nicht einmal zehn Schrauben und Nieten. Geht eine davon kaputt, meist durch Materialermüdung, dann strande ich auch schon mal irgendwo. So wie heute. Ich hatte aber Glück, der Mann meiner Friseurin war da und hat mir den Rest der Schraube rausgeholt und eine neue eingesetzt. Während ich die Haare geschnitten bekam, wurde also mein Rollstuhl repariert.

Mit gebrochenen Schrauben fängt es an

So etwas passiert mir nicht zum ersten Mal. Nach mehr als 30 Jahren als Rollstuhlfahrerin weiß ich, gebrochene Schrauben sind ein ernstes Anzeichen dafür, dass ein neuer Rollstuhl bald fällig ist. Stichwort: Materialermüdung. Meinen vorletzten Rollstuhl fuhr ich sieben Jahre lang bis ich am Ende einen doppelten Achsenbruch hatte, der notdürftig geschweißt werden musste. Ich hing irgendwie an ihm, deshalb wollte ich ihn nicht weggeben, stand aber am Ende fast ohne funktionstüchtigen Rollstuhl da.

Ja, ich gebe zu, ich behandele meinen Rollstuhl nicht sehr pfleglich. Ich springe Stufen hoch und runter (aber nie mehr als eine), er wird in Flugzeuge verladen und das sicher nicht immer mit Samthandschuhen, und ich bin ständig „auf Achse“ und nicht zu Hause, wo mir nur sehr selten eine Schraube bricht.

Gelbe Engel auch für Rollstühle

Mein Highlight bislang war eine gebrochene Schraube auf dem Bürgersteig vor dem Jüdischen Museum in Berlin. Ich konnte keinen Meter mehr fahren, einfach gar nicht mehr und habe in meiner Not dann irgendwann den ADAC angerufen und der nette ADAC-Mann hat mir tatsächlich die Schraube entfernt und eine neue eingesetzt. Das Hauptproblem ist dabei nicht, eine neue Schraube einzusetzen, sondern die Überreste der Alten wieder rauszukriegen. Wieder hinein drehen kann ich selber, aber ausbohren eher nicht so. Man hat ja nicht immer einen Bohrer oder eine Zange dabei. Einen Schraubenschlüssel habe ich unterdessen so gut wie immer dabei.

Ich saß schon an den komischsten Orten und habe zugesehen, wie ein netter Mensch mir den Rollstuhl reparierte. Auf Bürgersteigen, in Hotellobbys oder jetzt eben beim Friseur. Wichtigste Regel: Seufzen, cool bleiben und dann nach einer Lösung suchen. Es wird sich schon eine finden. War bislang immer so und die Rate handwerklich begabter und hilfsbereiter Menschen ist definitiv höher als man so denkt.

So lernt man auch schon mal den Hausmeisterdienst von Hotels, Bahnhöfen oder Restaurants kennen. Und ich kann eines sagen: Guter Service und Hilfsbereitschaft zeigt sich in solchen Situationen mehr als irgendwann anders und derjenige kann sich meiner Dankbarkeit auf ewig sicher sein.

Dies ist schon das zweite Schraubenproblem diese Woche. Erst gestern verweigerten die Schrauben meines Fußbretts ihren Dienst und dieses fiel einfach in der U-Bahn nach unten. Ich konnte sie gestern festziehen, aber sie sind definitiv ausgeleiert. Ich glaube die Tage dieses Rollstuhls sind echt gezählt, wenn ich nicht wieder einen Achsenbruch haben möchte.

 

Inklusion nicht nach 21 Uhr

Am Sonntag kam ich an einem Schild vorbei, auf dem darauf hingewiesen wurde, dass man zwischen ein Uhr und fünf Uhr nachts die Treppe nehmen solle. Der Fahrstuhl würde in dieser Zeit abgestellt. Es war bei Weitem noch nicht ein Uhr, sodass ich noch aus dem Gebäude herauskam. Aber ich bin immer wieder fasziniert, wer sich so etwas ausdenkt.

Eine Ausnahme? Von wegen. Fahrstühle, die nachts abgestellt werden, kommen immer mal wieder vor. Auch in Bereichen, die auch nachts genutzt werden. Was mich daran fast noch mehr ärgert als der Umstand, dass ich dann dort nicht mehr hinein- oder herauskomme, ist die Einstellung, die sich dahinter verbirgt: Menschen mit Mobilitätseinschränkungen haben spät nachts zu Hause zu bleiben, deshalb kann man den Fahrstuhl ja abschalten.

Vor Jahren bin ich mal in einer Stuttgarter U-Bahn-Station gestrandet, weil jemand noch vor Abfahrt des letzten Zuges den Fahrstuhl der Station ausgeschaltet hatte. Der herbeigerufene Sicherheitsdienst erklärte mir dann auch gleich im entrüsteten, fast schon tadelnden Tonfall, dass Rollstuhlfahrer so spät normalerweise nicht unterwegs seien. Inklusion bitte nicht nach 21 Uhr.

Noch nie auf einem Konzert

Die Organisation Mencap hat jetzt in London ein Konzert veranstaltet, um darauf aufmerksam zu machen, dass auch behinderte Menschen ein Recht darauf haben, nach 21 Uhr am sozialen Leben teilzunehmen. Oft sind es nicht nur bauliche Probleme, die das verhindern, sondern auch organisatorische. Ist noch jemand da, um jemanden, der auf Assistenz angewiesen ist, mitten in der Nacht ins Bett zu bringen? Wer hilft einem Menschen mit Lernschwierigkeiten, mitten in der Nacht nach Hause zu kommen? Eine der beiden Moderatorinnen des Konzerts – eine junge Frau, die selbst eine Lernbehinderung hat – war zuvor noch nie auf einem Konzert. Was für nicht behinderte 18-Jährige normal ist, war für die Moderatorin eine einmalige Ausnahme.

Gerade wenn Menschen in Einrichtungen leben und nicht selbstbestimmt in der eigenen Wohnung wohnen, müssen sie sich oft an den Ablauf der Einrichtung anpassen. Konzert- und Kinobesuche nur nach Anmeldung, wenn überhaupt. Inklusion sieht anders aus.

Die späte Buchung verrät die Identität

Wer als behinderter Mensch nach 21 Uhr unterwegs ist, bekommt auch schon mal gesagt, wie ungewöhnlich das sei. Ich bin ständig nach 21 Uhr unterwegs. Wenn ich mir spät ein Taxi bestelle, um nach Hause zu fahren, ist es mir mehrfach passiert, dass ein Fahrer kam, den ich schon kannte. Das ist in einer Millionenstadt wie London mit 20.000 Taxis wirklich sehr ungewöhnlich. „Ich habe gleich gewusst, dass Sie es sind, als ich die Buchung sah. Ist ja schon spät, da fahren nur noch Sie mit der Taxicard. Ich wollte eigentlich nach Hause fahren, aber ihr Zuhause liegt ja auf meinem Weg“, kriege ich dann manchmal zu hören. Eine Taxicard ist ein System, das in London die Fahrdienste ersetzt und mit dem Rollstuhlfahrer und blinde Menschen preiswert Taxi fahren können. Natürlich wissen die Fahrer eigentlich nicht, wer die Fahrt gebucht hat, bevor sie sie annehmen. Aber sie sehen, dass es eine Taxicard-Buchung ist.

Es ist spät, da bucht eine Rollstuhlfahrerin im Südosten Londons: Allein über diese Angaben wissen die Fahrer also schon, dass ich das sein muss. Und weil sie mich kennen und wissen, wo ich wohne und das auf ihrem Weg liegt, nehmen sie die Fahrt an. Nun könnte ich mich über meinen Taxi-VIP-Status in London freuen. Tue ich aber nicht, denn es zeigt nur, dass der Weg zur Inklusion noch weit ist.

Nicht zum Nulltarif

Es muss triftige Gründe dafür geben, warum so wenige behinderte Menschen spät abends unterwegs sind. Genau diese Gründe sind es, die die Inklusion behindern, und ich ahne, welches der wichtigste ist: fehlende Assistenz. Ist diese nicht gegeben, kann man sein Leben nicht selbst bestimmen. Ein weiteres Problem sind Strukturen, die einem sagen, wann man zu Hause zu sein hat, sowie die Einstellung, behinderte Menschen hätten abends und nachts zu Hause zu sein, und dass es auch keinen Grund gebe, das zu ändern.

Die Lösung für dieses Problem lautet in vielen Fällen persönliche Assistenz statt Heim oder Pflegedienst. Wenn mehr behinderte Menschen selbst bestimmen könnten, was sie mit ihrem Leben machen und wann sie es tun, würde das Fahrstuhl-Ausschalten aufhören und auch nach 21 Uhr könnte man auf viel mehr Menschen mit Behinderungen treffen. Ja, das alles kostet Geld, aber Inklusion ist nicht zum Nulltarif zu haben. Nicht einmal vor 21 Uhr.

 

Kein Organ für Muhammet

Das Landgericht Gießen hatte heute über Leben und Tod eines zweijährigen Jungen zu entscheiden. Der türkische Junge Muhammet war im März nach Deutschland gekommen, um an der Uniklinik Gießen ein Spenderherz zu bekommen. Doch kurz vor der Abreise erlitt der Junge einen Herzstillstand und hat seitdem eine Hirnschädigung. Kann ein Kind mit dieser Schädigung ein Transplantationsorgan bekommen? Die Ärzte der Uniklinik sagen Nein und dieser Auffassung schloss sich heute auch das Landgericht an.

Diskriminierung?

Der Anwalt der Familie, Oliver Tolmein, spricht von Diskriminierung aufgrund der Behinderung des Jungen. Die Begründung, ein Kind mit einer Hirnschädigung, könne allein wegen dieser Hirnschädigung kein Herztransplantat erhalten, stellt seiner Meinung nach eine Benachteiligung wegen der Behinderung dar. Diese ist durch Artikel 3 Abs 3 Satz 2 Grundgesetz und durch Artikel 25 UN-Behindertenrechtskonvention untersagt.

Unter Umstände müsse dabei auch geprüft werden, ob die Allgemeinen Grundsätze für die Aufnahme in die Warteliste in der vorliegenden Form gegen das Diskriminierungsverbot für Menschen mit Behinderungen verstoßen und ob sie auf einer rechtlich tragfähigen Grundlage stehen, so Anwalt Tolmein – in der Vergangenheit ist das von Experten und Organisationen mit guten Gründen bezweifelt worden.

Misstrauen

Unter vielen behinderten Menschen gibt es schon lange ein gewisses Misstrauen gegenüber der Medizin und wie sie mit Menschen mit Behinderungen im Ernstfall umgeht. Ich kann gar nicht mehr zählen, wie oft mir Freunde, die eine Behinderung haben, hinter vorgehaltener Hand gesagt haben, dass sie ihren Organspendeausweis vernichtet haben oder sich gar keinen angeschafft haben, weil sie Angst haben, dass bei ihnen die Maschinen schneller abgeschaltet werden als bei einem anderen Menschen, weil ihr Leben als weniger lebenswert eingestuft werden könnte.

Ich kenne zudem zwei Fälle in meinem Umfeld, bei denen der behinderte Patient selbst sowie Eltern eines behinderten Kindes einen Vermerk in der Krankenakte fanden, dass der Patient im Ernstfall nicht zu reanimieren sei – und das obwohl niemals jemand mit ihnen darüber gesprochen hatte, wie sie bzw. das Kind denn in solch einem Fall behandelt werden soll.

Umgekehrt befürchten einige, dass es für sie viel schwieriger sein könnte, auf die Transplantationsliste zu kommen. Vor allem Menschen mit schweren Behinderungen, die auf Rund-um-die-Uhr-Assistenz angewiesen sind, befürchten, im Falle eines Falles leer auszugehen. Dass das nicht ganz unbegründet sein könnte, zeigt jetzt der Fall des kleinen Muhammet.

Gesetzgeber gefragt

Anwalt Oliver Tolmein ist, anders als das Gericht, nicht davon überzeugt, dass keine Diskriminierung vorliegt. Er will notfalls bis vor das Bundesverfassungsgericht ziehen, um durchzusetzen, dass auch ein so schwer behindertes Kind wie Muhammet ein Spenderorgan erhalten kann.

Bei solchen Fällen ist auch der Gesetzgeber gefragt, der es seiner Meinung nach versäumt hat, eine Vielzahl von wichtigen Fragen des Transplantationsrechts zu regeln, darunter auch, ob auch sehr eingeschränkte behinderte Menschen ein Anrecht auf ein Spenderorgan haben. Der Organspendebereitschaft von Menschen mit Behinderungen hat der Fall schon jetzt sicherlich geschadet.

 

Oscar Pistorius – Behinderung als Verteidigungsstrategie

Fünf Jahre Gefängnis lautet nun also das Urteil gegen Oscar Pistorius. Der Paralympics-Sprinter muss wegen fahrlässiger Tötung seiner Freundin ins Gefängnis. Voraussichtlich muss er davon knapp ein Jahr im Gefängnis verbringen, den Rest der Strafe könnte in Hausarrest umgewandelt und später ein Teil erlassen werden.

Ich habe den Prozess gegen Pistorius mit Interesse verfolgt. Er war eines der Gesichter der Olympischen und Paralympischen Spiele in London 2012, ich habe ihn dort im Stadion laufen sehen und auch im Vorfeld der Spiele war Pistorius sehr präsent. „Don’t look at the legs, look at the records“ (Schau nicht auf die Beine, schau auf die Rekorde) – mit diesem Werbespruch warben die Paralympics auf Großplakaten und Anzeigen für den Ticketverkauf in Großbritannien. Darauf war der sprintende Oscar Pistorius zu sehen.

Bitte jetzt doch beachten

Daran musste ich denken als ich die letzte Verteidigungsstrategie von Pistorius’ Verteidiger hörte. Zwei Jahre später wollte Pistorius genau das Gegenteil von dem, was er sonst immer in Interviews gesagt hat. Man sollte seine amputierten Beine nun doch beachten. Plötzlich sollten sie der Grund sein, warum er seine Freundin getötet hat, warum er überhaupt in diese Lage kam, warum er glaubte, sich bewaffnen zu müssen, warum es ihm nicht zumutbar sei, eine Gefängnisstrafe abzusitzen.

Pistorius wollte immer als nicht behindert wahrgenommen werden. „Ich bin nicht behindert, ich bin nur anders“, sagte Pistorius mal. Der gleiche Oscar Pistorius, der immer so viel Wert darauf legte, normal und angeblich nicht behindert zu sein, der sich mit nicht behinderten Sportlern gemessen hat, führte dann plötzlich seine Behinderung an, um ein milderes Urteil zu bekommen.

Es gibt sicher Situationen, in denen man vor Gericht die Behinderung eines Angeklagten berücksichtigen muss, beispielsweise wenn der Angeklagte behinderungsbedingt nicht verstanden hat, was er anrichtet. Das heißt aber im Umkehrschluss nicht, dass eine Behinderung automatisch mildernde Umstände bringen sollte. Es ist gut, dass die Richterin bei Pistorius das auch so gesehen hat. Solange gewährleistet ist, dass Pistorius im Gefängnis beispielsweise seine Prothesen nutzen kann und die Unterstützung bekommt, die er benötigt, sollte er die gleiche Strafe bekommen wie jeder nicht behinderte Angeklagte auch.

Behinderte Menschen als Opfer

Umgekehrt muss ich aber sagen, dass mich die Zahl von Tötungsdelikten und anderen Straftaten in den vergangenen Jahren beunruhigt, bei denen Menschen mit Behinderungen die Opfer sind, aber die Täter genau deshalb mildernde Umstände geltend machen und oft auch gewährt bekommen.

Das betrifft vor allem Verwandte, die ihre behinderten Angehörigen umbringen. Gerade wurde in London die Mordanklage gegen eine Mutter fallen gelassen, die ihre drei kleinen Kinder umgebracht hat. Die Kinder hatten alle eine Muskelerkrankung. Die Mutter hätte das Leiden der Kinder beenden wollen, hieß es.

Leid als Motiv

Nun habe ich zufällig einige Freunde mit genau der Form der Muskelerkrankung, die auch die drei Kinder hatten – spinale Muskelathrophie (SMA) Typ 2. Es wird sehr schnell von Leid gesprochen, wenn es um Behinderungen geht. In diesem Fall sah sich die Mutter dazu berufen, dieses vermeintliche Leiden ihrer Kinder zu beenden. Keinem meiner Freunde, die SMA haben, würde ich ein leidvolles Leben bescheinigen. Sie leben alle mit Assistenz ein selbstbestimmtes Leben im Rollstuhl. Es ist für mich ein unfassbarer Gedanke, dass jemand ihr Leben beenden könnte, weil er oder sie sich berufen fühlt, ein Leiden zu beenden.

Ich verstehe, wenn Menschen mit der Pflege ihrer Angehörigen oder Kinder teilweise überfordert sind. Aber das kann niemals ein Grund sein, jemanden gegen seinen Willen zu töten, zumal die Familie wohl auch noch sehr wohlhabend war und Geld in dem Fall nicht das Problem war. Mir macht Angst, dass immer wieder Gerichte und Anklagebehörden Argumenten Berücksichtigung schenken, die mit der Behinderung des Opfers zu tun haben, um dann ein milderes Urteil zu sprechen oder die Anklage fallen zu lassen.

Ich bin dafür, behinderte Menschen als Angeklagte vor Gericht gleich zu behandeln, wenn die Behinderung mit der Tat nichts zu tun hat. „Ich bin behindert, ich kann nicht ins Gefängnis“ hat bei Pistorius nicht funktioniert und das ist auch gut so.

Dass aber immer mal wieder die Behinderung eines Opfers zu niedrigeren oder keinen Strafen für die Täter führt, empfinde ich als behinderter Mensch als ungerecht, wenn nicht sogar als bedrohlich.

 

Inklusion heißt Erwartungen hochschrauben

Wenn über Inklusion diskutiert wird – und ich meine jetzt die gesamtgesellschaftliche Teilhabe, nicht nur die schulische Inklusion – wird viel über Bedingungen geredet. Mehr Barrierefreiheit, mehr Assistenz, mehr Möglichkeiten. Aber Inklusion ist keine Einbahnstraße. Was sich auch ändern muss, ist die Einstellung behinderter Menschen selber.

Wenn es keine Erwartungen gibt oder die Erwartungen derart niedrig sind, dass sie weiter de facto Ausgrenzung bedeuten, wird sich wenig ändern. Menschen mit Behinderungen (und ihre Angehörigen) sind aber unterdessen so daran gewöhnt, dass die Zustände so sind, wie sie sind, das sich viele damit abgefunden haben.

Ausgeschalteter Parkautomat

Nun ist es natürlich in der Tat so, dass man, wenn man als behinderter Mensch am normalen Leben teilnimmt, des öfteren auf Barrieren stößt – beispielsweise baulicher, organisatorischer oder menschlicher Art.

Ich parke öfter auf einem sehr großen Park&Ride-Parkplatz, der tagsüber und spät abends wenig frequentiert ist. Ich schätze, der Parkplatz ist mindestens zwei Fußballfelder groß. Da es sich um einen Privatparkplatz handelt, muss ich trotz Behindertenparkausweis zahlen.

Es gibt etwa 20 Behindertenparkplätze dort, aber leider nur sehr wenige Parkautomaten. Schlauerweise hat man aber einen der Parkautomaten direkt neben die Behindertenparkplätze gestellt. Aber ausgerechnet dieser Automat ist oft ausgeschaltet, obwohl er nagelneu ist. Der andere Automat ist am anderen Ende des riesengroßen Parkplatzes und nur über eine hohe Stufe zu erreichen, die ich alleine nicht hoch komme. Das Büro der Parkplatzverwaltung liegt gegenüber, ist aber ebenfalls für mich nicht erreichbar.

Immer wieder spielt sich dann, wenn das Gerät mal wieder ausgeschaltet ist, eine ähnliche Diskussion ab. Ich rufe über die Gegensprechanlage des Automaten die Parkplatzbesitzer an, die immer erstmal erklären, dass man da gar nichts machen könne und ich jetzt wohl oder übel selbst nach einer Lösung des Problems suchen müsse. Die finde ich auch immer sofort, sie sieht aber nicht so aus, wie sie sich das gedacht haben, denn sie lautet: Ein Parkplatzwächter kommt zu mir und ich bezahle bei ihm. Aber noch nie hat sich einer der Mitarbeiter zu mir bemüht. Die haben einfach keine Lust, ihr Büro zu verlassen. Immer heißt es dann, man lasse mich dann eben so raus fahren ohne zu bezahlen.

Probleme an die Verursacher zur Lösung zurückgeben

Ich will dort nicht kostenlos parken, darum geht es mir nicht. Aber ich habe mir unterdessen angewöhnt, die Lösungen für Probleme, die ich nicht verursacht habe, dem Verursacher zu überlassen und nicht mir aufdrücken zu lassen. Wer seinen Parkautomat an den Behindertenparkplätzen nicht in Schuss hält, muss entweder zu mir kommen oder hat Pech gehabt, was seine Einnahmen angeht. Nur das wird hoffentlich irgendwann dazu führen, dass dieser Automat funktioniert.

Vor zehn Jahren wäre ich vielleicht wirklich noch die zwei Fußballfelder entlang gerollt, hätte so lange gewartet bis irgendjemand auch zahlen möchte, ihn entweder gebeten, mir die Stufe hoch zu helfen oder wenn das nicht geht, ihm mein Geld in die Hand gedrückt und ihn gebeten, für mich zu bezahlen – auch auf die Gefahr hin, dass er mit dem Geld abhaut.

Erwartungen müssen sich ändern

Aber meine Erwartungen, auch an private Unternehmen haben sich geändert, nicht zuletzt deshalb, weil ich in Großbritannien ein starkes Recht in meinem Rücken habe, die solche Behandlung von behinderten Menschen untersagt. Unternehmen sind verpflichtet „angemessene Vorkehrungen“ zu treffen, um Diskriminierung vorzubeugen. Dazu gehört eben auch den zugänglichen Parkautomaten zu warten und wenn er nicht geht, sich aus dem Büro zu bewegen und mir zu helfen. Und wenn sie das nicht wollen, müssen sie mich in der Tat dort kostenfrei wieder rausfahren lassen.

Mit meiner Bereitschaft, zum anderen Automaten zu rollen und auf Hilfe von Fremden zu hoffen, hätte ich nichts verändert. Mit jedem Mal hätte der Parkplatzinhaber weiter sein Geld bekommen und ich eine Menge Zeit und Kraft verloren. Immer wenn ich das Gefühl habe, jemand verursacht Ausgrenzung, Schwierigkeiten und stellt mir Barrieren in den Weg, bitte ich freundlich um Beseitigung und verändertes Verhalten. Nur so ändert sich etwas. Die Teilhabe behinderter Menschen wird sich nur dann verbessern, wenn sie eingefordert wird – nämlich von den behinderten Menschen selber.