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Lass mich in deine Welt, Dave!

 

Über die Jahre (9): Im August widmet sich der Tonträger Platten aus vergangenen Tagen. Heute: 1990 überraschten Depeche Mode mit behutsamem Pluckern und sanften Aquarelltönen. Dabei ging es auch auf „Violator“ nur um Sex

Cover Violator

Boris mochte Depeche Mode, ich U2. Er hielt People Are People für einen großartigen Song, ich With Or Without You. Wir verbrachten viel Zeit damit, uns gegenseitig die Platten unserer Lieblingsgruppen vorzuspielen und sie zu diskutieren. Mir waren Depeche Mode zu künstlich, zu banal, ihn störte der Predigergestus von Bono, seine Lieder waren ihm zu aufgesetzt. Ich konnte nicht anders, als Depeche Mode zu hassen. Wir schenkten uns gegenseitig T-Shirts und Poster, Platten und Aufkleber der jeweils ungeliebten Gruppe, um uns zu ärgern. 1990 überreichte ich ihm die grausame U2-Single When Love Comes To Town zum fünfzehnten Geburtstag. Im Gegenzug drückte er mir einige Tage darauf eine Kassette mit einer selbst gemalten Rose in die Hand, Violator von Depeche Mode.

Ich hörte das Album zum ersten Mal auf dem langen Weg in den Südfrankreich-Urlaub. Vorne meine Eltern, auf der Rückbank ich mit meinem Walkman. Ich hörte sie immer und immer wieder, die neun Stücke nahmen mich gefangen. Das anstrengend Epische war verschwunden, der Hall, das Glatte, Fassadenhafte. Violator kam mir rau und düster vor, es traf meine Stimmung. Ich hatte das Gefühl, mitgenommen zu werden. „Let me show you the world in my eyes“ singt Dave Gahan, und ich hatte das Gefühl, wir könnten in der selben Welt leben. Einer Welt voller Verletzlichkeit und Introvertiertheit.

Damals war Techno groß, Violator klang wie das Gegenteil. Die Synthesizer pluckerten zart und behutsam vor einem in sanften Aquarelltönen ausgemalten Hintergrund. Das Schlagzeug klang – einmal abgesehen von dem organischen Stück Personal Jesus – nur angehaucht. Dazwischen tummelten sich unzählige kaum definierbare Geräuschfragmente und Klangskizzen, der Gesang ist zurückhaltend und getragen.

Violator war mein Warum geht es mir so dreckig? Es definierte mein Verhältnis zu meiner Umwelt, legitimierte meine Ängste und Hoffnungen. Die Zeilen wurden zu Schlagworten, Phrasen, in die ich mich zurückziehen konnte. „I’m waiting for the night to fall, when everything is bearable“, ich konnte das so sehr nachvollziehen. All meinen pubertären Weltschmerz fand ich wieder, „There’s a pain, a famine in your heart, an aching to be free“. „Can’t you understand?“ in Blue Dress wurde eine Art Schlachtruf für mich gegen diese Welt, denn genau das war ja das Problem.

Enjoy The Silence wurde ein Hit, mir bedeuteten andere Stücke mehr. Waiting For The Night und Halo, Sweetest Perfection und Blue Dress. Die vielen sexuellen Konnotationen der Stücke sind mir erst später richtig bewusst geworden, heute staune ich darüber, denn viel offensichtlicher kann man nicht immer und immer wieder über das Gleiche singen. Mein Englisch war offenbar glücklicherweise so schlecht, dass es mir die Begeisterung für Violator nicht nehmen konnte. Denn das war ja nun gar nicht mein Thema, ich hatte genug mit mir selbst zu tun. Beinahe zwei Jahre lang blieb Violator meine Lieblingsplatte, auch noch, als Boris mir kurze Zeit darauf von Achtung Baby von U2 vorschwärmte. Ich fand das künstlich und banal.

Bis heute ist Violator das einzige wirklich großartige Album von Depeche Mode. Es klingt wie ein Bericht aus dem tiefen Loch, in das sie nach der Music For The Masses-Tour vom Gipfel der Popularität gefallen waren. Danach kämpften Depeche Mode weiter, vornehmlich gegen die Drogen, die Ideenlosigkeit und die Erwartungen. In der fünfundzwanzigjährigen Bandgeschichte ist Violator leider ein Flackern geblieben. Ein sehr helles immerhin.

„Violator“ von Depeche Mode ist erhältlich bei Mute, kürzlich wurde es gemeinsam mit dem ersten Album „Speak and Spell“ und „Music For The Masses“ in hervorragendem Klang und mit Bonusstücken wiederveröffenlicht

Hören Sie einen Ausschnitt aus „Waiting For The Night“

Sehen Sie hier Bilder vom Konzert der Band am 15.1.2006 in Hamburg

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