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Erschütternd glamourös

 

Über die Jahre (17): „Lexicon Of Love“ von ABC steckt voller Widersprüche. Unter der glitzernden Oberfläche fröhlicher Poplieder liegen Enttäuschung und Schmerz. Für romantische Flausen ist da kein Platz

ABC The Lexicon Of Love

The Lexicon Of Love von ABC war die erste Platte, die ich mir kaufte – für 14 Mark 90 in einem Plattenladen in der Passerelle in Hannover. Diese schmuddelige, unterirdische Ladenmeile unter der Fußgängerzone passte nicht zu dem Glamour und der Romantik, die ich mit der Gruppe verband. Für mich waren ABC die einsamen musikalischen Erben des klassischen Hollywoods. Ich verband die Platte mit alten Screwball-Komödien am Sonntagnachmittag, in denen sich Claudette Colbert und Clark Gable oder Katherine Hepburn und Cary Grant erotisch knisternde Wortgefechte lieferten. Oder in denen Fred Astaire und Ginger Rogers durch bizarre Art-déco-Kulissen wirbelten. Sie stimmten mich beschwingt.

Martin Fry, der Sänger und Texter von ABC, war mein Cole Porter. „If you gave me a pound for all the moments I missed / And I got dancing lessons for all the lips I shoulda kissed / I’d be a millionaire / I’d be a Fred Astaire“, sang er in Valentines Day und brachte das Missverhältnis zwischen Wunsch und Wirklichkeit in meinem jungen Leben auf den Punkt. Ich war voller romantischer Vorstellungen von der Liebe und noch weit davon entfernt, Erfahrungen mit ihr zu machen.

Ich war 14 Jahre alt, mein Englisch schlecht. So entging mir die andere Seite von Frys Texten. Eigentlich versuchte er doch, mir die romantischen Illusionen auszutreiben: „Sentimental powers might help you now / but skip the hearts and flowers / skip the ivory towers / you’ll be disappointed.“

Damals wusste ich nicht, dass die Platte aus der Verarbeitung einer schmerzlichen Trennung Martin Frys entstanden war. Die Frau, die man auf Poison Arrow singen hört, war die Angebetete, die ihn soeben verlassen hatte. Aber muss man Kunstwerke ausschließlich in Bezug auf die Biografie des Künstlers entschlüsseln? Gerade bei ABC macht das wenig Sinn, sie standen ja gerade nicht für solcherlei Authentizität. Das war die Domäne der stumpfen Rocker. Und ABC waren Pop. Groß, glamourös und unwirklich. Sie verwandelten den Schmerz in Disco-Beats, Streichertürme und bunte Bilder. Im Video zu The Look Of Love stellt die Band als Horde ungelenker Ex-Punks mit schiefen Zähnen ein knallbuntes Broadway-Musical nach.

Dass die Platte mich auch heute noch so beeindruckt, liegt an der Wut, die in Martin Frys Stimme schwingt. Wie meine anderen Lieblingssänger zu der Zeit – Edwyn Collins von Orange Juice und Kevin Rowland von Dexy’s Midnight Runners – war er ein pickliger weißer Junge mit begrenztem Stimmumfang. Er versucht wie ein Soulsänger zu singen, das Scheitern macht seinen Gesang so erschütternd.

Auch wenn ich die Texte nur teilweise verstand, das Schwanken dieser Platte zwischen Freude und Schmerz nahm ich wahr, es prägte mich. ABC steckten voller Widersprüche, sie standen für die Hoffnung im Elend, den Konflikt in der Harmonie, das Lachen, dass sich unter den Tränen verbirgt. In diesem Sinne war die Passerelle vielleicht doch der geeignete Ort für den Kauf dieser Platte, die mich auch heute noch – 24 Jahre später – euphorisch stimmt.

„The Lexicon Of Love“ von ABC ist erschienen bei Mercury/Universal

Hören Sie hier einen Ausschnitt aus „Poison Arrow“

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