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Queen Kong schläft nicht

 

Durch die Geschichte von Frauen in der alternativen Musik führt die Kompilation „Girl Monster“. Selbst nach dem soundsovielten Hörmarathon durch die drei CDs möchte man ausrufen: Bitte mehr davon!

No Women No Cry Vol. 2

Im dritten Stück auf CD 3 springen sie uns an, Godzilla, King Kong und Konsorten. The Creatures lassen zu hämmernden Metallorgien und kreischenden Gitarren die Monster von der Kette. The Creatures? Wer waren die nochmal? Ach ja, gegründet im Jahr 1981 als Nebenprojekt von Siouxsie und Budgie, weil die Sängerin und der Drummer der legendären Siouxsie and the Banshees mehr Freiraum für ausgeflippte Ideen suchten. Godzilla erschien im Jahr 2003 als eine späte letzte Single. Das Image von Härte, Wildheit und verruchtem Sado-Maso hatte sich allmählich abgenutzt, kurz darauf lösten sich The Creatures auf.

Ein typisches Beispiel der Spurensuche auf Girl Monster. Alex Murray-Leslie vom deutsch-amerikanischen Projekt Chicks on Speed hat bei der Auswahl wahre Wunder vollbracht, ihre Geschichte der Frauen in der alternativen Musik ist beispiellos: 60 Stücke auf 3 CDs. Mit einem Riesenaufgebot an Underground-Musikerinnen, unbekannten Talenten, vergessenen Heldinnen und Vertreterinnen der jüngsten Avantgarde geht es vorwärts, rückwärts und quer durch die letzten 30 Jahre – vor allem quer zum männlich dominierten Popgeschäft.

Queen Kong schläft nicht: Von Punk über Rrrriot-Rock bis zu modernem Elektropop, bratzendem Laptop-Funk und Frickelelektronik mit oder ohne Gesang sind das dreieinhalb Stunden monströs gute Musik von den Mädels. Das passt in keine Schublade, nichts klingt nach bloßer Erinnerung. Die kluge Zusammenstellung und Abfolge der Stücke erzeugt eine aufregende Grundspannung, als hätten das grummelnde Geschrammel der Girl-Bands aus den Achtzigern und der fein pochende Elektrohouse oder die sparsamen Acid-Bässe aus den Alleinunterhalterrhythmusgeräten von heute schon immer einen gemeinsamen Herzschlag gehabt.

Wo waren sie nur hingeraten in unseren Köpfen, Pionierinnen weiblicher Alternativkultur wie die Slits? Auf CD 2 gemahnt eine seltene Live-Version von ihrem Typical Girl aus dem Jahr 1980 daran, dass es den funky Groove der Selbstbehauptung, wie ihn die Latex-Punk-Gören Peaches, Angie Reed oder Mignon aktuell praktizieren, ohne sie nicht gegeben hätte. Und was für einen herrlich linksradikalen Hirndurchpuster schufen doch Delta 5 aus Leeds im Dezember 1979 mit ihrer ersten Single Mind Your Own Business, da wirkt der leichtfüßige Euro-Disco-Feger Sexy von den zwei sehr jungen, sehr flotten Schwedinnen Cat5 beinahe konzeptionell.

Auch ganz zarte Töne sind aus dem Spätwerk des Punk erwachsen, Ana Da Silva von den Raincoats zeigte es vor zwei Jahren mit ihren Keyboard-Balladen auf dem Soloalbum The Lighthouse. Ihr Beitrag Full Moon ist wie 39 weitere Stücke eine Exklusivversion für die Girl Monster-Sammlung. Slits-Sängerin Ari Up, deren Mutter dereinst mit John Lydon von den Sex Pistols verheiratet war, bestreitet nach längerer Familienpause seit einigen Jahren erfolgreich ihre Solokarriere im Dub-Reggae. Auch Tina Weymouth von den Talking Heads und Cosey Fanni Tutti von Throbbing Gristle begegnen einem auf Girl Monster mit Beispielen ihrer Soloerfolge wieder.

Als Musikerinnenmanifest der späten neunziger Jahre steht Hot Topic von den Amerikanerinnen Le Tigre ganz obenan, daneben packt Planningtorock ihren psychedelischen Plastikpop aus. Alice Daquet alias Sir Alice aus Frankreich variiert ihn im Stück Super Hero zwischen Klangforschung, absurder Kunst, dem Label Tigersushi und der Nouvelle Vague. Ebenfalls mit dem französischen Akzent der leichten Muse spendet Francoise Cactus vom Berliner Duo Stereo Total eine ergreifend tiefgründige Neudeutung des New-York-Dolls-Klassikers You Can‘t Put Your Arms Around A Memory, während die scheue österreichische Elektronikmusikern Susanne Brokesch mit einer Prise Hardcore und Halluzinationen David Bowies Heroes umgarnt. Die Berliner Elektronikgöttinnen Barbara Morgenstern und Gudrun Gut dürfen nicht fehlen, letztere umgeben vom doppelten Ruhm als Mitbegründerin der legendären Gruppe Malaria!. Weniger bekannt, aber spektakulär in ihren beigefarbenen russischen Sekretärinnenuniformen treten Client mit britischem Prog-Pop an. Am wildesten treiben es die kanadischen Lady Rocker Lesbians On Ecstasy und Kids On TV, was bei ihnen der entfesselte, zum Abtanzen peitschende Ungehorsam ist, verpacken Robots in Disguise aus England in fetzigen Glam-Punk.

Die Chicks On Speed rocken seit 1994 von München aus mit Trash-Kunst so glamourös wie kämpferisch auf Modenschauen und in Clubkellern. Auf ihrem eigenen Label Chicks On Speed Records toben nun die Girl Monster. Wie ein überdimensionales Pamphlet präsentiert sich auch die der Kompilation beigefügte achtseitige, gefaltete Zeitung künstlerisch konträr. Im Einzelnen auf die Musikauswahl bezogen wenig informativ, vermitteln die englischsprachigen Wortbeiträge jedoch eindringlich den Herzschlag der Sache, um die es geht: die fehlende oder einseitige Außenwahrnehmung von ganzen Generationen von Musikerinnen und ihre gesellschaftspolitische Brisanz. Eine Fortsetzung dieser Sammlung ist geplant, und selbst nach dem soundso vielten Hörmarathon nonstop durch alle 3 Monster-CDs möchte man sofort ausrufen: Bitte mehr davon!

„Girl Monster“ ist als 3-CD-Box erschienen bei Chicks On Speed Records

Hören Sie hier
„Super Hero“ von Sir Alice,
„Break Dance Hunx (Market Value Mix)“ von Kids On TV,
„Get Rid“ von Robots In Disguise
„Mind Your Own Business“ von Delta 5,
„Sheets“ von Electric Indigo & Dorit Chrysler,
„Sedation“ von Lesbians On Ecstasy und
„Heroes“ von Susanne Brokesch

Lesen Sie hier: Die Platten des Jahres 2006 – Eine Nachschau auf 100 Tonträger

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