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Sexy Wummern

Jeden Morgen vor dem Musizieren machen die Musiker von !!! gemeinsame Kung-Fu-Übungen in Unterhosen. Soviel Beweglichkeit zahlt sich aus, ihr neues Album „Myth Takes“ fegt lockeren Fußes über die Tanzflächen.

Aus einer dunklen Ecke der Tanzhalle wankt einer hinüber zum DJ-Pult. Er fragt, was da gerade läuft. Der DJ sagt spuckend so etwas wie „tschik tschik tschik“. „Hä?“ Der DJ schreit zurück: „Ausrufezeichen, Ausrufezeichen, Ausrufezeichen“, malt diese mit dem Finger in die Luft. Er wünscht sich ein Schild mit drei Ausrufezeichen, das könnte er dann hochhalten. Wahrscheinlich verstünde das aber auch niemand.

!!!, welch ein Name. Um in Suchmaschinen etwas über die Band zu finden, muss man chk chk chk eingeben, so wird das meistens ausgesprochen. Weiß man das, dann erfährt man, dass die Gruppe aus Kalifornien kommt und gerade ihr drittes Album Myth Takes veröffentlicht hat. Man darf sie auch pow pow pow oder bam bam bam nennen, Hauptsache dreimal dasselbe einsilbige Wort. Viel weiter unten liest man, dass das aus dem Film Die Götter müssen verrückt sein kommt, dort wurden rhythmische Laute von Ureinwohnern in der Kalahari-Wüste mit „!!!“ übersetzt.

Früher verfingen sie sich oft in langen Stücken. Auf Myth Takes dominieren klare Strukturen mit Strophe und Refrain, es klingt geordneter, gezügelter. Keine „shit, scheiße, merde“-Gesänge mehr, dafür soulige Frauenstimmen und Rhythmen, die durch den Hintern galoppieren. Rockende Gitarren und Schlagzeuge verschmelzen mit wummernden Clubgeräuschen. Und das so sexy, man muss dazu tanzen. Schon ihr letztes Album Louden Up Now war so clubtauglich, dass der Techno-DJ Sven Väth es zu einer seiner liebsten Platten kürte.

Hier geht es um Rhythmen, erzeugt mit Hilfe elektronischer und gedroschener Schlagzeuge. Drumherum Bläser, selbstversunkene Gitarren, Klanggewirr und Glocken, Punk, Rock und Funk. Das alles nie zu sauber. Die Stücke bauen sich auf, explodieren im Klanggewirr und werden dann plötzlich runtergebrochen. Als wäre der Tänzer gestolpert und würde nun auf der Tanzfläche sitzen. Dann steht er wieder auf und tanzt umso ekstatischer weiter. Gucken ja jetzt sowieso alle.

Geschichten gibt es wenige über die Band. Weder verbreiten die Musiker eine spektakuläre Version ihres Kennenlernens, noch Mythen über Drogenexzesse oder Hotelverwüstungen. Allein die Entstehungsgeschichte von Myth Takes wird wohldosiert der Öffentlichkeit preisgegeben. Für die Aufnahmen hatten die acht Musiker sich gemeinsam ein Haus gemietet, jeden Morgen vor dem Musizieren absolvierten sie gemeinsam Kung Fu-Übungen in Unterhosen. Folglich gibt es auch lustige Werbefotos zur Platte.

Auch auf der Bühne seien !!! großartig. Bei solchen Gelegenheiten werde getanzt, wie sonst nur in der Technodisko, heißt es. Im April kann man das selbst überprüfen, da ist die Band zu vier Konzerten in Deutschland.

„Myth Takes“ von !!! ist als CD und Doppel-LP erschienen bei Warp/Rough Trade

Hören Sie hier „Heart Of Hearts“

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Harmoniesüchtig

Pat Metheny trifft das Brad Mehldau Trio: eine Erzählung aus perlenden Tönen in einer Filmmusik ohne Film

Ein Klang wie Sonnenstrahlen, die aus einer Wolke brechen. Wie eine Kaskade hauchzarter Tröpfchen, die sich aus dem feuchten Nebel eines Wasserfalls materialisieren. Eine Harfengitarre lässt die Töne über ihre 42 Saiten perlen; Pat Metheny hat dieses Instrument entworfen und sammelt dessen Klänge in der Komposition The Sound Of Water.
Auf dem aktuellen Album Quartet trifft Metheny auf das Trio Brad Mehldaus. Die Aufnahmen entstanden im Dezember 2005, ein Teil ist bereits im vergangenen Jahr als Duo-Album erschienen. Metheny/Mehldau war 2006 das erfolgreichste Jazzalbum bei iTunes. Jetzt sind auch die zu viert eingespielten Stücke zu hören.

Metheny erklärt, er habe seine Harfengitarre entwickelt, um zu erforschen, was sie als orchestrierendes Element leisten könne.Gerade im Zusammenspiel mit Brad Mehldau habe es sehr viel Raum für Klangexperimente gegeben. Die Harfengitarre habe sich da ganz natürlich eingefügt.

Auffallend sind die durchgängig sanften und weiträumigen Kompositionen. Metheny hat wie Brad Mehldau großes Interesse an Formen. Beiden sei das Musikschreiben ebenso wichtig wie das Spielen. Er versteht sich und seinen Partner vor allem als klangvolle Geschichtenerzähler.

Die Musik auf Quartet erzählt Geschichten, die wie Filmsequenzen vorbeiziehen. Metheny verehrt Ennio Morricone. Und so passen auf diese Platte auch die Stücke Silent Movie und Marta´s Theme, ein Ausschnitt aus Methenys Filmmusik Passagio Per Il Paradiso.

Leider hat die sonst sehr engagierte Plattenfirma Nonesuch den Plattentitel unglücklich gewählt, denn es gibt bereits ein Metheny-Album gleichen Namens aus dem Jahr 1996. Warum nach dem sehr konzentrierten Duo-Album noch die Quartett-Einspielungen veröffentlicht werden mussten, ist auf Anhieb nicht nachzuvollziehen: Der Bassist Larry Grenadier und der Schlagzeuger Jeff Ballard halten sich streng im Hintergrund. Längere Passagen intensiver Auseinandersetzungen finden sich im Quartett-Kontext nicht; auch schaffen die Hinzugekommenen kein Gegengewicht zur manchmal extremen Harmoniesucht der Melodien. Aber vielleicht wollten die Musiker gerade darauf hinaus. In der ruhigen Schönheit liegt die Kraft, im Klang des Wassers.

Hören Sie hier „The Sound Of Water“

„Quartet“ von Pat Metheny & Brad Mehldau ist erschienen bei Nonesuch

Lesen Sie im Interview, was Pat Metheny über Ennio Morricone, Barack Obama und die Avantgarde des Jazz erzählt.

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Der Luxus-Leider

Als Sänger der britischen Band Suede war Brett Anderson immer ein arroganter Mime. Die Stücke seines ersten Soloalbums spülen die Theaterschminke weg – er singt von echten Gefühlen

Was war Brett Anderson für ein Wichtigtuer zu Beginn seiner Karriere als Sänger der britischen Band Suede. Manchen Auftritt absolvierte er mit dem Rücken zum Publikum. In Interviews berichtete er ausführlich von seinem – Achtung, verrucht! – bisexuellen Lebensstil. Glamrock, David Bowie und Gender-Verwirrung waren die Bausteine seiner Karriere. Die Gefühle, von denen er sang, nahm man ihm nicht ab, alles war Pose. Suede wirkten wie ein gut durchdachtes, blutleeres Planspiel auf der Bühne des Pop. Die Gitarrenakkorde trieften, in den Texten reimte sich „bar“ erwartbar auf „car“. An jeder Ecke lauerte Wehleidigkeit. Die Anhängerschaft war riesig.

Ein Wandel im Auftreten setzte erst ein, als Andersons Stern sank. Auf einer der letzten Tourneen von Suede mussten sie auf Festivals die große Bühne für neue Gitarrenbands aus Amerika räumen. Suede spielten so engagiert wie nie. Zum ersten Mal glaubte man einen Blick hinter die Maske des Brett Anderson erhaschen zu können: Ein angstverzerrter Unterhalter stand da, dem die Zeit davonlief. Crack und Heroin brachten den kreativen Stillstand, im Jahr 2003 verkündeten Suede, auf unabsehbare Zeit nicht mehr gemeinsam aufzutreten. Zwei Jahre darauf nahm Brett Anderson ein Album mit der Band The Tears auf. Die Posen der Anfangsjahre legte er ab, die Gefühle, die er einst nur mimte, schienen nun echt.

Auf seinem ersten Soloalbum gibt sich der Engländer persönlich und ungeschützt. Es steigt herab von der Theaterbühne – in den Orchestergraben. Seine Luxus-Leiden haben Spuren hinterlassen, er singt von Drogen, Reichtum, seelenlosen Liebschaften und der großen, verflossenen Liebe. Viele Torch-Songs sind dabei, Liebeslieder eines unfreiwillig Entliebten. Die große Geste liegt ihm immer noch am Herzen. Streichergirlanden umranken die Lieder. Das Piano und dezente Gitarrenlinien schaffen Intimität. Das Album mutet trotz gelegentlicher orchestraler Opulenz spartanisch an.

Das Stück Scorpio Rising ist eine Referenz an den gleichnamigen Film von Kenneth Anger. Die Zeilen „There’s anger in their skin / (…) They move with murder in their veins” klingen wie ein spätes Echo auf die Halbstarken-Bilder, die Anger 1963 mit Musik von Elvis Presley, Ray Charles und Martha Reeves & The Vandellas unterlegte.

Brett Anderson hat über den Umweg einer in den Sand gesetzten Karriere zu sich selbst gefunden. Seine aktuellen Stücke erzählen nur von ihm. Manchmal rührt einen das an.

Hören Sie hier „Scorpio Rising“

„Brett Anderson“ von Brett Anderson ist erschienen bei V2

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Luftlos

Das Duo Air lebt von seinem guten Namen. Doch ob auf der neuen Platte oder im Konzert: Was als kühne Mondreise begann, tritt jetzt auf der Stelle.

Der Erfolg hat ihnen nicht gutgetan. Jean Benoît Dunckel und Nicolas Godin neigen zur Selbstüberschätzung, und eine riesige Anhängerschaft erlaubt es ihnen. Mit seinem ersten Album Moon Safari von 1998 hat sich das französische Duo Air ein Denkmal gesetzt. Die Platte traf den Zeitgeist, stieg vom Sofa der Musikspezialisten über die Kneipentresen in die Betten der Mengen. Wohlig vibrierte diese Musik, rührend der Gesang Beth Hirschs.

Noch neun Jahre später zehren die beiden Dandys aus Paris von der Kraft dieser Wellen. Inzwischen haben sie eine unverkennbare, perfekte Klangwelt erschaffen: butterweiche Basslinien, warme Streicher, wabernde Moog-Synthesizer und blitzsaubere Effekte in klümpchenfreier, luftgeschlagener Creme. Air serviert makellose Petits Fours, ideal, um den Augenblick zu zuckern. Den Hunger nach seelenvoller Musik vermögen sie nicht zu stillen.

Das neue Album heißt Pocket Symphony; der Titel lässt an ein Miniatur-Meisterwerk denken. Dunckel und Godin streben nach Großem, scheitern jedoch schon im Kleinen. Eine Sinfonie ist nicht nur ein künstlerisches, in sich schlüssiges Werk. Sie lebt von einer Idee und deren Entwicklung. Musikalische Einfälle finden sich auf dieser Platte nur wenige, ihre Fortschreibung sucht man vergebens.

Air hat der melancholischen Langeweile eine musikalische Entsprechung gegeben. Die Gedanken drehen sich im Kreis, der Schwelgende tritt (oder liegt) auf der Stelle, träumt von bittersüßer Liebe und dämmert in einer See aus Luft dahin. „I’m falling down, down on the ground„, lispelt Jean Benoît Dunckel im Lied Napalm Love. Einmal mitgesunken in diese 48-minütige taschensinfonische Nebelstarre, gibt es nur wenig, was einen aufhorchen lässt.

Die Melodien wirken abwesend, sie umschreiben nur die Akkorde, über denen sie schweben. Wenn Dunckel seine Stimme durch die Effektgeräte schickt und sie in liebliche Frauenchöre transferiert, liegt das Herz des Hörers längst auf eisigem Boden. Lediglich die Gastsänger Jarvis Cocker (Pulp) und Neil Hannon (The Divine Comedy) erwecken das Publikum aus der Betäubung. Ihre gesungenen Geschichten sind eindringlich; zwar kühl, aber menschlich. Sie beherrschen die Stimme als Instrument, anstatt sie mittels Instrumenten zu verfremden.

Cocker und Hannon haben ihre Lieder im Studio abgeliefert, auf Tournee begleiten sie Air nicht. So blieb das Konzert diese Woche im Hamburger Docks statisch. Stilvoll gekleidet erschienen Dunckel und Godin im diffusen Scheinwerferlicht, im Hintergrund drei Mitmusiker. Selbstverliebt und -verloren stellten die beiden Herren ihre Arrangements in den Raum – kein Lächeln, keine Schwäche, keine echte Sympathie für das Publikum. Air spielte die Musik ihrer fünf Platten. Erklangen Stücke von Moon Safari, war der Jubel am größten.

Mit diesem Album haben sich ein Mathematiklehrer und ein Architekt zur Poplegende geformt. Seither ist der Name Air eine Marke kultivierter Wellness-Musik. Das Publikum kauft ungeprüft alles, was unter diesem Zeichen erscheint. Eine zweite Moon Safari wird es aber nicht mehr geben, der Stern verglimmt. Das dämmert den Anhängern, einsehen mögen sie es noch nicht.

Hören Sie hier „Once Upon A Time“

„Pocket Symphony“ von Air ist erschienen bei Astralwerks/Virgin

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Täuschend unecht

Der Musiker als Bastler: Auf „Construction Kit“ verfugt Jakob Grunert Elemente aus Jazz, Funk, Soul und HipHop zu einem verblüffenden Ganzen.

Grunert Construction Kit

Jakob Grunert aus Berlin, später Lüneburg, heute Hamburg, erst Blockflöte, zwischendurch Geige, letztlich schwarz-weiße Tasten, hat dann doch nicht Musik studiert. Sein Fach ist das Kommunikationsdesign, da lernt man auch was und muss hinterher nicht von dem Horn in den Mund leben. Er wird dieses Jahr 27, da wird’s bald ernst.

Vorher noch Construction Kit, seine zweite Platte, zu Deutsch Bausatz. Passend ist die Hülle in jener Optik gehalten, die jeder kennt, der als Kind Flugzeuge, Schiffe oder Panzer zusammengeleimt und bemalt hat.

Um maßstabgetreue Modelle bekannter Musiken geht es Grunert indes nicht. Er verfugt Elemente aus Jazz, Funk, Soul und Hip-Hop zu etwas täuschend Unechtem. Gestopfte Trompete wie von Miles, warmer Bass wie bei Mingus, Fender Rhodes wie zu Zeiten Herbie Hancocks, kraftvolle Rhythmen nach Art seiner jüngeren Vorbilder Medeski, Martin und Wood, Bit-Folklore à la Four Tet, dazu Plattendrehen und Rillenknacken, als wäre die CD aus Vinyl.

Nach dem ersten Hören, der ersten Verblüffung wehrt sich der Kenner. Kennt man doch alles von damals, hat man als digitalen Aufguss schon vitaler gehört vom Kölner Frickler Burnt Friedman oder dem elfköpfigen Tied & Tickled Trio aus Weilheim. Zu harmlos, diese Platte, ein Plättchen!

Aber dann, beim zweiten, dritten, vierten Durchgang, lugen die vielen kleinen Feinheiten, Leimheiten, Gemeinheiten aus den Ritzen des Kunstkörpers hervor. Eben erklang da noch das seelenvolle Baritonsaxsolo mit strömendem Bläsergeschwitz nach Art verehrter Meister, als plötzlich eine Spur eine ednukeS gnal rückwärts läuft. Hier frieeert ein Ton kurz ein, da wiederholt er sisisisich, aber nie so lang, dass man auf seinen Player klopfen wollte.

Natürlich ist das verspielt, mehr 13- als 26-jährig, aber so schön verspielt, dass es schon Spaß macht. Außerdem muss man die Platte beim Wort nehmen. Deconstruction Kit heißt sie eben nicht. Grunert lässt die Musik nie zerfasern, nie zerplatzen; er führt sie nicht vor. Er führt nur vor, was es bedeuten kann, Tonkonserven vieler Jahrzehnte schon mit der Muttermilch eingesogen zu haben. Wer über dem Klanggewirr in unseren Köpfen nicht zum Puristen oder Kostverächter geworden ist, setzt sich zu Jakob ins Zimmer und freut sich am Druck auf die Tube.

„Construction Kit“ von Grunert ist erschienen bei Hongkong Recordings

Hören Sie hier „Intro“ und „The Cosmic Pigeon“

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Ja, ich bin eine Hexe

Sie singt mit der Zunge in der Backe. Sie schreit, sie jault, auf Englisch, auf Japanisch. Sie ist Yoko Ono. Und dies ist ihre neue Platte.

Sie kann machen, was sie will. Bis an ihr Lebensende und darüber hinaus wird sie die Frau sein, die den Beatles John Lennon nahm. Von der es heißt: Ach, ja, Musik hat sie auch gemacht. Aber Yoko wäre nicht Ono, würde sie nicht immer wieder versuchen, diesem Schicksal zu entfliehen. Diesmal versucht sie es mit einem Bekenntnis: Yes, I’m A Witch – Ja, ich bin eine Hexe.

Sechzehn ihrer alten Lieder hat sie neu aufgenommen, mit Musikern der Independent-Szene. Es ist kein zweifelhafter Künstler dabei, außer vielleicht ihr. Aber ein Erfolg sei Yoko Ono gegönnt, denn so schlecht wie ihr Ruf war ihre Musik nie. Früher standen ihre schrillen Kompositionen in einem interessanten Gegensatz zu John Lennons verträumten Friedensliedern. Viele der nun eingespielten Stücke stammen aus den Jahren zwischen 1969 und 1980, sind also zu einer Zeit entstanden, da sie mit ihm Bett und Studio teilte. Von einer Ausnahme abgesehen hat sie alle geschrieben.

Die meisten der beteiligten Musiker dürften sie gar nicht zu Gesicht bekommen haben. Ihnen wurden die Bänder mit ihrer Stimme zur Verfügung gestellt, sie spielten dann die Musik dazu, wie, blieb ihnen überlassen. In den meisten Fällen fügt sich Onos Stimme hervorragend ein.

In den Siebzigern hieß es oft, sie sei ihrer Zeit voraus; so musste man sich mit ihrer Kunst nicht groß auseinandersetzen. Und nun? Rock ist dabei und Drum’n’Bass, Tanzbares und Schmalziges – eine krude Mischung. Die englische Band Spiritualized nimmt sich das Stück Walking On Thin Ice vor und macht eine laute Hymne daraus. Die Gitarren heulen, die Orgel dröhnt, das Schlagzeug poltert, Bedeutung kracht durch die Luft. Angeblich hielt John Lennon eine Kassette mit der Originalaufnahme in den Händen, als er im Dezember 1980 in New York vor seinem Haus erschossen wurde.

Auch Toyboat klingt wichtig, Yoko schrieb es kurz nach Johns Tod: “I’m waiting for a boat to help me out of here.“ Antony – der von den Johnsons, hier aber ohne sie – lässt es die schmalzige Ballade sein, die es im Original schon war, legt allerdings einen sehr, sehr billigen Keyboardrhythmus und esoterische Gesänge drunter. Ihm gelingt das Kunststück, ein mittelmäßiges Lied richtig schlecht zu machen.

Bei aller Zerrissenheit des Albums sind viele der Stücke für sich genommen gar nicht übel. Peaches’ flirrende Tanznummer Kiss Kiss Kiss und Le Tigres schleppendes Sister O Sister sind sogar ziemlich großartig. Da passt alles zusammen, proletarische Rhythmen, dicker Bass, exaltierte Stimme, hier und da sogar Schreie.

Durchgängige Begeisterung kommt jedoch nicht auf. Das Konzept krankt daran, dass die Auswahl der Künstler lieblos wirkt. Die Tanzbässe von Peaches und Le Tigre passen nicht zum Elektrorock von The Brother Brothers und Blow Up, die sanften Klaviertöne der Cat Power nicht zu den triefigen Balladen des Craig Armstrong. Spiritualized und The Flaming Lips ertränken Yoko Onos Stimme in klirrendem Gitarrenlärm, Hank Shocklee von Public Enemy lässt sie zu hektischem Drum’n’Bass verkünden: „Ich bin eine Hexe, ich bin eine Hure, ist mir doch egal, wie ihr das findet!“

Eine Doppel-LP mit nach Genres sortierten Seiten hätte sich für ein solch zerfahrenes Projekt angeboten. Doch weder gibt es Yes, I’m A Witch vollständig auf Vinyl, noch wäre Ordnung im Sinne der Künstlerin gewesen. So muss der Hörer seinen CD-Player selbst programmieren. Lust zu tanzen? Dann bietet sich die Reihenfolge 1, 2, 4, 5, 16 an. Drückt das Herz? Die Stücke 6, 8, 10 und 13 trösten. Harmlose Popliedchen? 3, 7, 11, 15. Die Welt im Gitarrenlärm vergessen? 12 und 14, auf Dauerwiederholung stellen.

Die Stücke 9 und 17 hört man am besten gar nicht.

„Yes, I’m A Witch“ von Yoko Ono ist als CD erschienen bei Astralwerks/Virgin. Einzelne Stücke gibt es auf limitierten Vinylmaxis.

Hören Sie hier Ausschnitte aus
„Kiss Kiss Kiss“ von Yoko Ono und Peaches,
„Cambridge 1969/2007“ von Yoko Ono und The Flaming Lips,
„Revelations“ von Yoko Ono und Cat Power,
„Yes, I’m A Witch“ von Yoko Ono und The Brother Brothers

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Süßer Zauber

Tokio Hotel wirbeln Hormone und Geschlechterstereotypen durcheinander. Mädchenherzen schlagen höher, und die Jungs sind eifersüchtig, weil der Sänger Bill Kaulitz so gut bei den Altersgenossinnen ankommt.

Neulich in der U-Bahn: drei Mädchen in Hüftjeans, elf oder zwölf Jahre alt. Die eine hört Musik über ihren MP3-Player und sagt: „Ich kann schon jedes Lied auswendig, die neue Tokio Hotel ist soo geil, ich hör sie immer voll laut!“ Die anderen nicken zustimmend und wollen über den zweiten Ohrstöpsel mithören.

Können Horden weiblicher Fans irren? Ein Blick in die Fachpresse zeigt: Tokio Hotel aus Magdeburg sind schwer angesagt. Es gibt Poster, Aufkleber, Postkarten und noch mehr Poster in der Bravo, der Popcorn und anderen bunten Blättchen. Stets im Mittelpunkt steht der androgyne Sänger Bill Kaulitz, mittlerweile schon siebzehn Jahre alt. Seine Augen sind dunkel geschminkt, seine Fingernägel schwarz lackiert, sein Stil ist punkig und angegruftet.

„Dann lieber aussterben – Vier gute Gründe gegen Kinder“, titelte das Satire-Magazin Titanic mit einem Bild von Tokio Hotel, nachdem der Band mit dem Kitschlied Durch den Monsun im Sommer 2005 der Durchbruch gelungen war. Auf den Ohrwurm folgten ein millionenfach verkauftes Album und viele, viele ausverkaufte Konzerte. Bill Kaulitz und sein Zwillingsbruder Tom – der mit den langen Dreadlocks – waren damals 15 Jahre alt, der Schlagzeuger Gustav Schäfer 16 und de Bassist Georg Listing 17. Posieren konnten sie schon wie die Großen, auch wenn sie in Interviews altersentsprechend kicherten und herumalberten.

Im Beiheft zum neuen Album Zimmer 483 werden Tokio-Hotel-Trägerhemdchen mit Spitze beworben, die passenden Klingeltöne kann man gleich mitbestellen. Jungsklamotten gibt es nicht, denn männliche Teenies finden Tokio Hotel „krass schwul“. Sie sind wohl eifersüchtig und irritiert, weil der Sänger Bill Kaulitz mit seinen zarten Gesichtszügen so gut bei den Mädels ankommt. Sein Äußeres ist ein Gegenentwurf zu den Gangsta- und Macho-Posen von Bushido und Konsorten, es wird als Provokation wahrgenommen. Dass Männer (auch jenseits der Adoleszenz) zumeist angewidert auf androgynes Zurechtmachen reagieren, ist ein Phänomen, mit dem die Gothic-Szene schon lange zu kämpfen hat.

Tokio Hotel machen allerdings keine Gothic- oder Punk-Musik, sondern Teenie-Poprock mit vielen schmusigen Jammerrefrains. Das lässt die Mädchenherzen trommeln. Auf Konzerten kreischen sie und fallen reihenweise in Ohnmacht. Warum bloß? Zur Zeit von Elvis rüttelte der Rock’n’Roll noch an den Kellertüren, hinter denen man die weibliche Sexualität versteckt und weggesperrt hatte. Aber heute? Vermutlich ist die Sexualität junger Mädchen im Hier und Jetzt auf eine andere Weise eingezwängt, oder das Kreischen ist einfach zu einer Tradition geworden. „Schrei! – bis du du selbst bist, schrei so laut du kannst!“, sangen Tokio Hotel auf ihrem Debütalbum und fassten den jugendlichen Drang auszubrechen in eingängige Zeilen. Höhepunkt des aktuellen Albums ist nun das Stück Ich brech aus.

Die Band lebt vom süßen Zauber der Jugend, und natürlich ziehen im Hintergrund Erwachsene die Fäden. Das macht die Musik professionell und zahm. Nur an wenigen Stellen blitzen wütende Gitarren mit hämmerndem Schlagzeug hervor. Sie lassen hoffen, dass Gustavs Exploited-T-Shirt und Bills Nieten keine leeren Versprechen sind.

„Zimmer 483“ von Tokio Hotel ist erschienen bei Universal

Hören Sie hier einen Ausschnitt aus „Ich brech aus“

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Der Geruch von Petunien

Roger Quigley erzählt Geschichten. Unter dem Namen At Swim Two Birds rechnet er auf „Returning To The Scene Of The Crime“ mit seiner großen Liebe ab

Das Jahr 1995 war ein gutes für Roger Quigley. An einem Sonntagmorgen wirft sie – sie! – ihm ein Lächeln zu. Gilt es wirklich ihm? Bestimmt. Später ruft eine Frau namens Laura an und lädt ihn ein. Bevor er das Haus verlässt, sagt sie ihm wieder ab. In dem Stück A Kind Of Loving schildert Roger Quigley die Alltäglichkeiten eines Sonntags in einem Vorort von Manchester. Sein Freund Phil schießt ein Tor beim Fußball, schürft sich dabei das Knie auf, später erschlägt er eine Fliege mit dem Billardqueue. Vater plumpst mit bierseligem Grinsen an den Tisch, isst ein Stück Fleisch und schläft ein. Nachmittags läuft die Musik der Stranglers und Mutter zieht sich mit einer Tasse Tee in den Hof zurück, Vater ist längst im Pub auf ein Pint oder drei. Die Melodie ist flott, vorsichtig optimistisch. Quigley singt mit sanfter Stimme und spielt dazu Gitarre, dann setzen ein behutsames Schlagzeug und eine fast fröhliche Slidegitarre ein.

Der Anfang ist das Ende, A Kind Of Loving beschließt das Album Returning To The Scene Of The Crime. Davor erzählt er, was hinterher alles passierte. Vielleicht ist die Namenlose, die ihn in der Kirche anlächelte, ja die Frau, auf die sich die anderen neun – düsteren – Stücke des Albums beziehen. Roger Quigley nennt sich hier At Swim Two Birds. Es ist sein drittes Album unter diesem Namen. Und in der Tat kehrt er zum Tatort zurück, die Stücke stammen alle aus den Jahren 1995 und 2000. Acht der zehn Stücke hat er in anderen Versionen auf Singles und Alben veröffentlicht, die meisten unter seinem eigenen Namen.

Er scheint ihr dann näher gekommen zu sein, die beiden Lieder aus dem Jahr 1996 dokumentieren das. Er nimmt sich vor, sich täglich zu rasieren und zu lachen, wenn sie etwas lustig findet. Dem Bogart-Fanclub beizutreten und ihre Hand zu halten, wann immer das nötig ist. Über gemeinsame Giggling Fits, also Kicheranfälle, singt er. Wie sarkastisch er das meint, wird später deutlich. In The Smell Of Suntan Oil On Your Skin hängt die Romantik wie eine kitschige Fototapete im Hintergrund. Sie liegen am Strand, die Luft schmeckt nach ihr. Er drückt seine Zigarette an ihrer Stirn aus, und sie weicht nicht einmal zurück. Sie unterdrückt die Tränen, er geht.

Es geht weiter abwärts. Die fünf Stücke aus dem Jahr 1998 überbieten sich gegenseitig in ihrem Zynismus. Er wünscht ihr alle Übel der Welt, singt Lieder, zu denen sie sich im Grab umdrehen soll. Sehr bald soll das sein. Sie solle dann ruhig gegen die Wände ihres Sarges hämmern und ihn verfluchen. My Luck Is Turning, kündigt er an, auch wenn er zugibt, der Alkohol habe zu dieser Erkenntnis nicht unwesentlich beigetragen. Überhaupt der Alkohol. Es heißt, er zerstöre die Erinnerung. Alles Quatsch, findet Roger Quigley. Und dass Zigaretten schlecht für das Herz sind, ist ihm auch gleich. Um sein Herz habe sie sich ja bereits gekümmert.

Das Ende der Geschichte ist der Anfang der CD, In Bed With Your Best Friend. Eine Flasche Wodka, Drogen, Partyspiele mit einem Schweizer Armeemesser, Erwachen im Bett ihrer besten Freundin. An den Wänden Poster von Bands, die er hasst, in der Luft der Geruch von Petunien und entkoffeiniertem Kaffee. Rache? Zufall? Oder ist das schon wieder eine ganz andere Geschichte?

Roger Quigley singt seine ruhigen Lieder meist alleine zu seiner Gitarre, selten kommt ein weiteres Instrument hinzu. Sie klingen spartanisch, präzis. Fröhlich sind sie nicht, aber ergreifend. Und er ist ein großartiger Geschichtenerzähler. Returning To The Scene Of The Crime klingt wie die Abrechnung mit einer ganz großen Liebe, wie ein Konzeptalbum über eine fehlgeschlagene Beziehung. Wer weiß, vielleicht hat er sich das alles ja nur ausgedacht.

„Returning To The Scene Of The Crime“ von At Swim Two Birds ist erschienen bei Green Ufos und erhältlich über den Vertrieb Hausmusik

Hören Sie hier „In Bed With Your Best Friend“

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Würstchen und Kartoffelbrei

Der Engländer Mark E. Smith hat es schwer. Jeder Musiker, den er in seine Band The Fall aufnimmt, erweist sich bald als Verräter, Lügner oder Dummkopf. So gut sein neues Album „Reformation! Post-TLC“ auch klingt, lange wird er es wohl auch mit seiner neuen Band nicht aushalten

Mark E. Smith hat in den vergangenen dreißig Jahren an die neunzig Alben unter dem Namen The Fall veröffentlicht. Großen kommerziellen Erfolg hatte die Band nie. Sie wird von unzähligen Kollegen in Amerika und England geschätzt, vor allem wegen ihrer Kompromisslosigkeit. Der englische Radiomoderator John Peel gehörte zu den größten Verehrern ihres musikalischen Minimalismus.

Eine der liebsten Geschichten über Mark E. Smith ist mir die des englischen Musikers Roger Quigley. Beide wuchsen im selben Stadtteil Manchesters auf, in Salford. Als Quigley anfing, Musik zu machen, war Smith bereits eine Ikone. Quigley erhoffte sich von seinem populären Nachbarn ein wenig Unterstützung für seine damalige Band. Über Wochen habe er regelmäßig an Smiths Tür geläutet, berichtete er. Immer sei Brix, die damalige Frau des Sängers, an die Sprechanlage gegangen, um zu vermelden, ihr Mann esse gerade seine geliebten bangers & mash, Würstchen und Kartoffelbrei, und dürfe unter keinen Umständen gestört werden. Quigley ließ nicht locker: „Ich rief an, klingelte an der Tür, gab ihm Demotapes, terrorisierte ihn. Irgendwann hat es dann geklappt. Leider haben wir uns kurz danach wieder getrennt.“ Mittlerweile schreibt Quigley melancholische Lieder unter seinem eigenen Namen oder werkelt zusammen mit Marc Tranmer als Montgolfier Brothers an minimalmusikalischen Klanglandschaften. Damals spielte er zweimal im Vorprogramm von The Fall und veröffentlichte ein Stück auf einer von Smith herausgegebenen Kompilation.

Mark E. Smith wird sich an all das kaum erinnern können, mit zu vielen Musikern hat er in den vergangenen dreißig Jahren zusammengearbeitet, über kaum einen äußert er sich lobend. Vor einem knappen Jahr entließ er während einer Amerika-Tour seine letzte Band. Der Titel des aktuellen Albums Reformation! Post-TLC ist zum Teil den einstigen Kollegen gewidmet: TLC stünde, das hat er unlängst der Spex verraten, für „traitors, liars and cowards“, gemeint sei damit seine letzte Band.

The Fall sind Mark E. Smith. Smith hingegen ist nicht nur The Fall. Und Smith ist dieser Tage so produktiv wie nie. Im Juni erscheint seine Autobiografie Renegade: The Gospel According to Mark E. Smith. Davor noch wird man ihn an der Seite von Andi Toma und Jan St. Werner von Mouse on Mars unter dem Projektnamen Von Südenfed hören.

Das kompakte Reformation! Post-TLC fügt dem Klangkosmos des schnoddrigen Poeten wenig Neues hinzu. Smiths bellende Fabulierwut zerhackt die Rock’n’Roll-Geschichte, auch mit neuen Musikern klingen The Fall nur nach The Fall. Im Insult Song beschimpft er seine ehemalige Band, die immer diese verdammte „Los Angeles Musik“ gehört habe – „over and over again“. Couch And Horses ist eine Annäherung an den Pop, die sich The Fall zwischendurch leisten können. Das Boat ist ein zehnminütiges Experiment. Smith und The Fall sind in der Gegenwart angekommen. Waren sie jemals weg?

„Reformation! Post-TLC“ von The Fall ist erschienen bei Slogan/Sanctuary

Hören Sie hier den „Insult Song“

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Gospel für Weißbrote

Die kanadische Band Arcade Fire unterlegt frohe Hymnen mit dunkler Lyrik. „Neon Bible“ entstand in einer Kirche. Der Welt gefällt’s.

Kaiser Chiefs

Es ist eine beinahe alltägliche Erfolgsgeschichte in Zeiten des Web 2.0: Im Jahr 2004 erscheint in Kanada das erste Album von Arcade Fire, Funeral, aufgenommen für lächerliche tausend Dollar. Unterstützt von Blogs und Tauschbörsen verbreitet es sich rasch um die ganze Welt. Als es Anfang 2005 in Europa veröffentlicht wird, hat es dort eigentlich schon fast jeder. Heute lassen auch Bruce Springsteen und U2 mitteilen, Fans der Band zu sein. Sasha Frere-Jones wagt im amerikanischen Magazin New Yorker die These, dass sie die Band vielleicht deshalb so schätzten, weil die ihre musikalischen Visionen ohne die Einmischung von Plattenfirmen umsetzen konnte.

Wake Up von Funeral dröhnt vor jedem Spiel der New York Rangers durch den Madison Square Garden. Das hymnische Stück soll die Eishockeyspieler zum Sieg treiben. Offenbar hören sie nicht so genau hin, denn der Text handelt nicht vom Siegen, sondern vom Erwachsenwerden, von der Leere und dem Tod. “Something filled up my heart with nothing, someone told me not to cry. But now that I’m older, my heart’s colder, and I can see that it’s a lie.“ So funktionieren Arcade Fire: In schwelgerischen Hymnen verhandeln sie die ganz großen Gefühle.

Das gilt auch für ihr zweites Album, Neon Bible. Die Sprache klingt alttestamentarisch, unzählige Instrumente sind zu hören. Ein hämmernder Bass gibt Struktur, die Gitarren scheppern optimistisch. Xylophon, Banjo und Akkordeon verleihen der Musik etwas Exzentrisches. Streicher, Bläser und Harfen erzeugen das Gefühl, einer Art Gottesdienst beizuwohnen. Der Sänger Win Butler erscheint mit seiner durchdringenden Stimme wie ein Priester, immer wieder überschlägt sich seine Stimme. Das ist Gospel für Weißbrote. Ganz gleich, welche Tiefen die Lyrik auslotet, die Musik klingt immer froh. Neon Bible wurde in einer Kirche aufgenommen, auf dem Stück Intervention hat die Orgel einen gewaltigen Einsatz. Ein Chor darf da nicht fehlen.

Auf der Platte sind Arcade Fire zu siebt, auf der Bühne zu neunt. Sie lieben das Spektakel. Ihre Auftritte zelebrieren sie als Theater mit Verkleidungen und häufigen Instrumentenwechseln. Sie wollen ihr Publikum unterhalten.
In der von männlichem Selbstmitleid und Größenwahn beherrschten Rockszene sind sie eine Ausnahme. Sie verbinden das Grüblerische mit dem Ekstatischen, schmücken tiefsinnige Gedanken mit prallen Arrangements.

Who among us still believes in choice?“, fragt Butler in Ocean of Noise.

Nada“, antwortet der Chor auf Spanisch: Niemand.

Und das stürmische Stück Antichrist Television Blues brechen sie auf dem Höhepunkt einfach ab.

„Neon Bible“ von den Arcade Fire ist als CD und Doppel-LP erschienen bei City Slang

Hören Sie hier „Intervention“

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