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Platte, die siebenundvierzigste

 
Vor 30 Jahren gelang es Wire, die Kraft des Punk aufzusaugen und sie in etwas Neues umzusetzen. Heute spielen sie essenziellen Rock und legen ein Album der Superlative vor.

Wire Object 47

Es ist offenbar das Jahr der Rückkehr der britischen Post-Punker. Im Herbst kommt ein neues Album von The Cure. Nach 13 Jahren erschien kürzlich ein neues Album von Siouxsie, allerdings ohne ihre Band The Banshees. 25 Jahre nach ihrem letzten Studioalbum brachten Bauhaus im Mai Go Away White heraus. Und 28 Jahre nach Closer sprachen nun sogar alle über Joy Division, obschon die Band nichts Neues veröffentlicht hatte. Ein Superlativ jagt den anderen.

Fünf Jahre sind vergangen seit dem letzten Album von Wire, einer weiteren einflussreichen Post-Punk-Band. Siebzehn seit ihrem vorletzten. Object 47 nennen sie ihr neues Werk. Die Hülle ziert die Fotografie eines – ja, was ist das eigentlich? Ein Wasserturm? So ist das immer mit Wire. Nie weiß man genau, woran man ist, was als nächstes kommt. Doch was auch immer passiert, sie haben sich etwas dabei gedacht. Der Albumtitel etwa: Zehn Studio- und sechs Livealben, sieben Kompilationen und 23 Singles standen bislang zu Buche, Object 47 ist der 47. Eintrag in der Diskografie.

Wire gründeten sich im Oktober 1976 in London, dann und dort brach gerade der Punk aus. Ihre erste Platte Pink Flag erschien zwölf Monate später – sie zehrte auch vom Punk, war musikalisch und textlich aber weiter entwickelt und besser informiert. Das folgende Chairs Missing sollte ihr Opus summum werden und bleiben, daran ändert auch Object 47 nichts.

Die weitere Geschichte der Band ähnelt dem Stop and Go auf britischen Autobahnen zur Sommerferienzeit: Nach drei Alben bzw. Jahren lösten sie sich auf. Mitte der Achtziger fanden sie erneut zusammen, zwischen 1987 und 1991 veröffentlichten sie eine Handvoll Platten. Das letzte davon, The First Letter spielten sie als Wir ein – den Buchstaben e hatten sie gestrichen, da der Schlagzeuger Robert Grey für ein paar Monate ausgestiegen war. Er fand seinen Einsatz angesichts der zunehmenden Verwendung von Schlagzeugcomputern überflüssig. Als zwölf Jahre darauf das nächste Album Send erschien, war er wieder dabei.

Die Versuche im Elektronischen hatte Send beendet, auch auf Object 47 hält sich das Synthetische in Grenzen. Robert Grey lässt sein Schlagzeug ganz organisch rumpeln. Dominiert aber werden die neun neuen Stücke –

[Ja, nur neun Lieder in 35 Minuten. Auf ihrem Debütalbum brachten sie in derselben Zeit 21 Stücke unter.]

– dominiert werden sie vom Bass. Verschwand er früher im Elektrowust oder hinter der Gitarre, steht er heute deutlich im Vordergrund. Der Bass reißt die Melodien an, die Colin Newman mit seiner schnarrenden Stimme übernimmt. Oft treiben sich Schlagzeug und Bass voreinander her, die Gitarre setzt dann nur dezente Tupfer oder doppelt den Bass.

Es mag am Fortgang des Gitarristen Bruce Gilbert liegen. Vor den Aufnahmen zu Object 47 verließ er die Band. So sehr sein dezidierter Anschlag den frühen Platten der Band Energie verlieh, so enervierend waren seine kreischigen Akkorde auf Send. Überhaupt, das war kein gutes Album, einfallsloser Rock ohne Pfiff. Aber welches Album der Band im vergangenen Vierteljahrhundert war schon richtig gut? The Ideal Copy vielleicht, aber das ist auch schon 21 Jahre her. Und an die ersten drei Jahre konnte es nicht anknüpfen.

Object 47 kann das, wenn Wire heute auch vollkommen anders klingen als damals. Sie machen nun eher Rock als Punk, das damals standesgemäß Verzerrte weicht der Klarheit. Manche der Stücke sind sofort liebenswert – das stampfende Eröffnungsstück One Of Us und Mekon Headman etwa. Die meisten anderen brauchen mehrere Durchläufe. Gibt man dem Album Zeit, dann wachsen schließlich auch das anfangs zu leichtfüßige Four Long Years und das träge Patient Flees so weit, dass Object 47 als großes Ganzes erklingt.

Vor dreißig Jahren gelang es Wire, die Kraft des Punk aufzusaugen und sie in etwas Neues umzusetzen – heute machen sie eine Rockplatte, die vom Rock nur noch die Energie besitzt. So erhebt also auch Object 47 seine Stimme im Orchester der Superlative: Es ist Wires erstes wirklich großartiges Album seit 29 Jahren.

»Object 47« von Wire ist als CD bei Pink Flag/Cargo erschienen, eine LP soll folgen.

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