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Streicher in der Notaufnahme

 
Auf dem neuen Album seiner Band Spiritualized spielt Jason Pierce, was er am besten kann: Vom Folk durchwirkte Poplieder, mal karg, mal überschwänglich. Um ein Haar hätte es »Songs In A&E« nie gegeben.

Spiritualized Songs in A&E

Der Tod spielt irgendwann jedem auf. Warum sollte man ihn dazu noch ermuntern? Death Take Your Fiddle fleht Jason Pierce auf seinem neuen Album Songs in A&E. Tod, nimm endlich deine Fiedel. Und spiel sie, damit es bald ein Ende hat! Spiel mir dein Lied. »Play a song for me.« Ein Chor heult zu diesen Zeilen, eine Gitarre streichelt Folk-Noir-Akkorde, ein schweres Schnaufen gibt den Rhythmus vor und treibt das Lied voran.

Jason Pierce veröffentlicht seine Platten unter dem Namen Spiritualized. Sein sechstes Album ist ein Erfahrungsbericht. Eine doppelseitige Lungenentzündung fesselte ihn monatelang ans Bett, um ein Haar wäre er daran gestorben. Hinter A&E verbergen sich nicht etwa zwei Tonarten, sondern Accidents & Emergency – die Notaufnahme. Kanülen aus knallbuntem Plastik, fotografiert vor einer grauen Wand, zieren das Beiheft. Käufer des Albums können es zu einem Poster entfalten. Und das Schnaufen in Death Take Your Fiddle klingt nach einer Beatmungsmaschine – wenn es auch von einem Akkordeon stammt.

Songs in A&E ist das beste Album von Spiritualized seit einer Dekade. Wie auf Ladies & Gentlemen We’re Floating in Space im Jahr 1997 bringt Jason Pierce sein Können auf den Punkt. Sweet Talk etwa ist ein unvergleichliches Stück Gospel-Folk-Psychedelia – so schmerzvoll wie eine Wunde, die immer wieder aufreißt. Und Soul On Fire ist eine wahrlich überwältigende Pop-Ballade mit Streichern, immer wieder gebrochen durch Pierces fragile Stimme. Wenn er singt »Baby, set my soul on fire / I got two little arms to hold on tight / And I wanna take it higher«, dann klingt das nicht nur wie eine Liebeserklärung an einen Menschen, sondern wie eine an das Leben selbst.

Songs in A&E ist ein asketisches Album. Pierce soll es zum großen Teil auf einer achtzig Jahre alten Gibson-Gitarre geschrieben haben, die er bei einem alten Trödler erstanden hat. Der Musiker behauptet, sie habe ihm magische Kräfte verliehen: Die Stücke seien förmlich aus dem Instrument heraus geflossen. Die Gitarre ist vielseitig. Sie tröstet, sie wärmt, immer wieder klingt sie anders. Pierce verbindet stets seine Liebe zum Störgeräusch, zu blitzender Kakophonie mit seinen Fähigkeiten als Komponist.

Goodnight Goodnight, das versöhnliche Schlummerlied am Ende des Albums, zeigt noch einmal, aus wie wenig Stoff Jason Pierce seine Stücke zu weben versteht. Ein langsames Gitarrenzupfen, dazu der Gesang. Und wir dürfen endlich aufatmen. So sanft, so liebend und lebendig singt niemand, den der fiedelnde Tod erwartet.

»Songs In A&E« von Spiritualized ist als CD und Doppel-LP bei Spaceman/Cooperative/Universal erschienen.

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