Lesezeichen
‹ Alle Einträge

Ein Engel fällt vom Surfbrett

 

Über die Jahre (41): Dennis Wilson spielte Schlagzeug bei den Beach Boys. Ende der Siebziger löste er sich mit dem Solo-Album „Pacific Ocean Blue“ aus dem Schatten seines genialen Bruders Brian

Dennis Wilson erzählte seinem Bruder Brian oft vom Strand, wenn sie gemeinsam in ihrem Zimmer saßen. Brian hörte gut zu und schrieb seiner Band kleine Lieder über Wellen, Autorennen zum Hamburgerstand und Mädchen im Bikini. Die Brüder spielten bei den Beach Boys, ohne Dennis‘ Erzählungen hätten deren Miniatur-Symphonien wohl von etwas anderem gehandelt. Er könne nicht verstehen, weshalb nicht jeder am Ozean leben wolle, sagte Dennis Wilson einmal. Wenn sein Bruder sang „Catch a wave and you’re sitting on top of the world“, dann wusste nur Dennis Wilson, was gemeint war. Er war der einzige Beach Boy, der surfen konnte. Ohne ihn wären die Strandjungs einfache Jungs geblieben.

Dennis Wilsons Schlagzeugspiel prägte den Klang der Band, als Sänger blieb er im Hintergrund. Während die glockenhellen Stimmen seiner Brüder Brian und Carl sich in komplexe Harmonien verschränkten, brummte Dennis kaum vernehmbar. Er fiel auch sonst aus der Reihe: Verkörperte der Rest der Band das amerikanische Ideal netter Jungs, trat Dennis als unangepasster Surfertyp mit Herz auf. Er war das Sexsymbol der Beach Boys. Ende der sechziger Jahre schrieb er der Band seine ersten Lieder. Gegen das Genie seines Bruders Brian konnte er nicht ankommen, dennoch waren Dennis‘ gefühlvolle Stücke Forever und Little Bird sehr beliebt. Als die Beach Boys im konventionellen Oldie-Karussell endeten, ragten einzig seine Lieder heraus.

Brian Wilson verabschiedete sich langsam aus der Realität, und auch Dennis kämpfte mit dem südkalifornischen Irrsinn: Seine Stimme ruinierte er mit Alkohol, er häufte Spielschulden an und quartierte Charles Mansons Clique bei sich ein. Während mancher Konzerte der Beach Boys rannte er nackt über die Bühne. In dieser Zeit begann er, die Lieder seines Solo-Albums zu schreiben. Ideen trug er zuhauf mit sich herum, Schmerz und Verzweiflung sowieso. Im Jahr 1977 nahm Dennis Wilson sie mit einigen der besten Studiomusiker der Westküste auf.

Pacific Ocean Blue ist eine Platte nackter Emotionen, sie hat nichts gemein mit den harmlosen Strandspielen der Beach Boys. Das Meer ist Wilson nicht mehr bloße Kulisse. Der Ozean trägt den Surfer nicht, er verschlingt ihn. Wilsons Sehnsucht, in den Wellen zu versinken, schwingt in den Stücken mit. Schon mit dem ersten Lied River Song lässt Wilson die Wellen über sich zusammenschlagen. Majestätische Gospelchöre, ein donnernder Klavierlauf, orchestrale Synthesizer: Sündhaft überladen schraubt sich die genialische Studiomucke ineinander. Nur Dennis Wilsons raue Stimme stellt sich dem kalifornischen Breitwandklang der Siebziger entgegen. Am Ende singt er „You have got to run away“ – weder schwingen sich Engelschöre auf, noch packt ihn die rettende Hand des Bruders beim Schopf. Auf Pacific Ocean Blue ist Dennis Wilson mit seiner vom Alkohol und der puren Lebenslust geschundenen Stimme ganz allein. Wie eine verrostete Boje ragt diese Stimme aus den Fluten von Klavieren, Streichern und Bläsern.

Das Morbide durchweht diese Platte, es berührt selbst strahlende Liebeslieder wie You And I und Rainbows. Und Wilson versammelt Bruchstücke: Kaum ein Stück ist zu Ende komponiert, immer wieder fließen neue Ideen ein, immer wieder bricht er eine Melodie ab, um einem weiteren Einfall Platz zu machen. Man scheint dem Engel bei seinem Fall zuzusehen. Dann erhebt sich eine Ballade wie Thoughts Of You mit solch friedvoller Klarheit, dass man glaubt, der alte Surfer packe es noch.

Doch bald kriecht über den Dünen die Dunkelheit heran. Der Hamburgerstand ist längst geschlossen, die Mädchen sind nach Hause gegangen. Wilson weint ihnen nach: „Farewell / You take the high road / I’ll take the low“, singt er. Er ist der bärtige Streuner, der es nicht geschafft hat. Er lungert die Nacht über am Strand herum, getrieben von der Sehnsucht, einfach in der blauen Tiefe zu verschwinden.

Wilson kämpft um jeden großen Moment, legt seine Traurigkeit dar und schreckt vorm Kitsch nicht zurück. Diese Hingabe macht Pacific Ocean Blue zu einem Meisterwerk. Der Erfolg blieb ihm versagt. Sein nächstes Album Bambu sollte noch deutlicher von der Selbstzerstörung zeugen. Die Platte konnte nicht fertig gestellt werden, denn im Dezember 1983 ertrank er beim Tauchen in einer Bucht bei Los Angeles. Das Meer hatte ihn wieder.

„Pacific Ocean Blue“ von Dennis Wilson ist im Jahr 1977 bei Caribou erschienen. Im Jahr 2008 wurde das Album zusammen mit den unfertigen Aufnahmen zu „Bambu“ als Doppel-CD bei Sony BMG wiederveröffentlicht.

Weitere Beiträge aus der Serie ÜBER DIE JAHRE
(40) Klaus Nomi: „Nomi“ (RCA/Sony 1981)
(39) GAS: „Nah und Fern“ (Kompakt/Rough Trade 2008)
(38) Liquid Liquid: „Slip In And Out Of Phenomenon“ (2008)
(37) Nick Drake: „Fruit Tree“ (1979)
(36) The Sonics: „Here Are The Sonics!!!“ (1965)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik