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Wir werden Rockstars sein!

 

Über die Jahre (60): In den Achtzigern waren Anvil so berühmt wie Metallica, Slayer oder die Scorpions. Ein herzergreifender Kinofilm erzählt von ihrem Niedergang und dem letzten Aufbäumen der Rockveteranen.

Früher rockte sie Stadien, heute kleinste Kaschemmen: die kanadische Band Anvil (© Sean Gallup/Getty Images)

Irgendwas muss furchtbar schief gelaufen sein. Da steht Steve „Lips“ Kudlow mit seiner Band Anvil auf einer riesigen Bühne in Japan und bearbeitet seine Gitarre mit einem Dildo. Hinter ihm drischt sein alter Freund Robb Reiner auf das Schlagzeug. Die Menge rast. Es ist 1982. Anvil haben soeben ihr Album Metal on Metal veröffentlicht. Es ist die ultimative Heavy-Metal-Platte. Sie klingt laut, prollig und herrlich überdreht; die Akkorde und Themengebiete sind übersichtlich strukturiert. „Metal on Metal / It’s what I crave / The louder the better / I’ll turn in my grave.“ Wer will da widersprechen?

Von zeitraubenden Gitarrensoli und sonstigem Firlefanz keine Spur: Anvil knallen wie ein Sixpack an einem heißen Sonntagmorgen. Die Platte wird ein Erfolg. Anvil gehören zu den Vorreitern des Thrash Metal. Die Band steht mit den Scorpions, Bon Jovi und Whitesnake auf der Bühne. Diese Bands sollen bald Millionen Platten verkaufen und vor tausenden Fans spielen. Außer Anvil. Die „Big Four“ des Heavy Metal – so werden Metallica, Megadeth, Anthrax und Slayer genannt. Anvil sind das fünfte Rad am Wagen. Bald interessiert sich kaum noch jemand für sie.

Miserable Platten und ein schlechtes Management tun ihr übriges. Während Gruppen wie Whitesnake und Mötley Crüe androgynen Glamour versprühen, erscheinen Lips Kudlows Bühneneskapaden nur noch naiv und provinziell. Kamen diese Typen nicht aus Kanada? Anvil waren gut für einen Lacher gewesen, Metal on Metal zu recht ein Klassiker – aber zum Überleben reichte das nicht. Tapfer veröffentlicht die Band weiter ein Album nach dem anderen, aber hören wollte die niemand mehr. Irgendwann packt Lips Kudlow seinen Dildo ein und fährt Fertigmahlzeiten aus. Sein alter Kumpel und Schlagzeuger Robb verkriecht sich in seinem Keller, wo er menschenleere Straßen im Edward-Hopper-Stil malt. Hin und wieder rockt man so vor sich hin.

Für den Filmemacher Sacha Gervasi wäre es ein Leichtes gewesen, Reiner und Kudlow als missverstandene Genies darzustellen. In seinem Dokumentarfilm Anvil! The Story of Anvil zeigt er die beiden Freunde als wurstelnde Dilettanten. Sofort wird klar, warum aus diesen mittlerweile 50-jährigen Herren keine Superstars werden konnten. Kudlow organisiert das Tagesgeschäft mit naivem Optimismus, während Reiner den maulfaulen Stoiker gibt. Man schreit sich an, weint ein bisschen über verlorene Jahre und will es am Ende doch noch ein letztes Mal versuchen. Also raffen sie sich auf zur großen Europa-Tournee. Der Trip wird eine Katastrophe. Anvil spielen in leeren Spelunken und auf zweifelhaften Festivals (Monsters of Transylvania). Da kann man schon mal handgreiflich werden, wenn der Besitzer eines tschechische Rockschuppens nach einem Konzert vor fünf Zuschauern nur in Gulasch bezahlen will.

Diese tragisch-komischen Szenen der Dokumentatione erinnern an die legendäre Rocksatire This Is Spinal Tap. Doch damit macht man es sich zu einfach. Reiner und Kudlow sind keine Trottel, die den Aufgang zur Bühne nicht finden. Vielmehr sind ihnen sämtliche Bedingungen des Musikgeschäfts fremd, die eine große Karriere möglich gemacht hätten. Das Vokabular und die Gesten der Industrie beherrschen sie nur unzureichend. Kudlow und Reiner sind leichtgläubig, schusselig und vollkommen unmodern. Wenn Lips Kudlow im Jahr 2008 am Empfangsschalter einer sehr großen Plattenfirma eine Kassette (sic!) mit neuen Songs abgibt, kann man das kaum glauben. Er habe ein sehr gutes Gefühl, sagt er. Überhaupt kann man in diesem Film Kudlow und Reiner oft dabei zusehen, wie sie Entscheidungen einfach danach treffen, ob sie sich gut anfühlen. Dass sie dabei meistens falsch liegen, spielt keine Rolle. Was zählt, ist, dass sie immer noch alles selbst entscheiden.

Es ist es übrigens empfehlenswert, die Dokumentation Some Kind Of Monster (2004) über die Band Metallica direkt nach dem Anvil-Film zu sehen. Wer den emotional labilen Metal-Millionären beim Gesprächskreis zugesehen hat, lernt den hysterischen Optimismus eines Lips Kudlow schnell zu schätzen. „Wir machen das zusammen, wir packen das. Wir werden Rockstars sein! Das ist ein Traum und ich werde ihn wahr machen!“, schreit Kudlow in die Kamera. Das klingt wie aus einem schlechten Drehbuch. Aber es ist pure Verzweifelung.

Nur soviel sei verraten: Am Ende geht der Traum irgendwie in Erfüllung. Der asiatische Markt ist gnädig zu alternden Rockstars.

„Metal on Metal“ von Anvil ist bei Attic Records erschienen. Der Dokumentarfilm „Anvil! The Story of Anvil“ von Sacha Gervasi läuft vom 11. März an in den deutschen Kinos.