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Geht’s noch pathetischer?

 

Ausgerechnet im Zeitalter der Einzel-Downloads liefern Nom de Guerre aus Schweden ein Konzeptalbum. Ihr stilbewusster Pop verbindet Musik, Kunst und Mode.

© Tapete Records

Konzepte! Wir brauchen Konzepte! Alles ist so unübersichtlich geworden, die Informationsflut erdrückend. Kultur, Gesellschaft, Interaktion – ein riesiges Zeichenwirrwarr. Von der Musik ganz zu schweigen. Da wäre es hilfreich, gäbe es mehr Struktur, ein paar Leitfäden, Anhaltspunkte, etwas Ordnung der Dinge.

Seltsam, dass ausgerechnet eine schwer begreifliche, informations- und zeichensatte Band wie Nom De Guerre helfen will. Die drei Schweden mit dem kriegerischen Namen haben eine Platte geschaffen, die die Hörer in eine gänzlich abseitige Welt entführt.

Da ist selbst der voluminöse Bombastrockbegriff Konzeptalbum nicht zu abgegriffen. Denn Love Thy Neighbour, der Nachfolger ihres unbeachteten Debüts La La La (2007), erzählt eine Geschichte, fast einen Roman, wenngleich einen sehr kurzen.

Es geht um ein Liebespaar, das sich auseinander gelebt hat. So weit, so unüberbrückbar, dass ihr Zusammensein in loser Abfolge aus Hingabe, Verzweiflung, Eifersucht, Intrigen, Durchhaltewillen und Hoffnungslosigkeit zu einer Viereckssituation eskaliert, bis einer dran glauben muss: Mord! Ein abschließender Gesang von Schuld und Sühne inklusive.

Das ist im Detail nicht sonderlich tiefgründig, gewiss. Eher Reiselektüre als Weltliteratur und bei aller Leidenschaft inhaltlich vorhersehbar. Aber Love Thy Neighbour erzählt seine kleine Amour fou ganz im Einklang mit der Musik ringsum, einer wunderbar elegischen Reminiszenz an die aufgeladenen Rockopern der ausgehenden Siebziger im Übergang zum New Wave.

Die Lieder folgen einer Struktur, zwischen Ende des einen und Anfang des nächsten liegt große Spannung, gekittet von perfekt abgestimmtem Sound voller Geigen und Samples, Klaviaturen, Basssoli, Zweit- bis Viertstimmen. „Nothing is quite what it seems„, erklärt Hector de Guerre im ohrwurmtauglichen Everybody Knows“ zum Einstieg und gibt damit den Interpretationsrahmen seines Singspiels vor. „Could life be more pathetic?“ fragt er zum blutigen Finale und nennt die Antwort selbst: Immer!

Schließlich ist Love Thy Neighbour nicht nur ein harmoniesüchtiges, zitierfreudiges, bildgewaltiges Opus klanglichen Überflusses, es ist auch Teil eines übergeordneten Projektes. Alles an dieser Band ist Kunst. Die Berliner Designerin Sandra Tebbe illustriert das Album mit einem 53-seitigen Bildband: visualisierte Liedtexte, Malereien im Art-Brut-Stil, wilde Collagen, käuflich zu erwerben bei Konzerten zunächst, wo das Artwork wohl Teil aufwändiger Projektionen sein wird. Ausstellungen sind längst geplant, ein Kurzfilm sowieso. Und passend zum gitarrenlos barocken, aber digital überarbeiteten Sound tragen Nom de Guerre opulente Bühnenkostüme irgendwo zwischen Rokoko und Bauhaus. „Matator trifft Seemann trifft Star Trek“ beschreibt der Bassist seine Kollektion. Louis de Guerre ist sein Name, wie jener des Schlagzeugers George de Guerre ein Artefakt.

Kunst, Konzept, Prozess überall. Und das ausgerechnet in Zeiten des Single-Track-Downloads, in denen Platten keine stimmigen, geschlossenen Werke mehr sein müssen, sondern Kompilationen isoliert abrufbarer Einzelware. Denn auch das ist die Gegenwart: Sie mag immer komplexer werden, ergründeter, unfassbarer, global vernetzt und ausgelotet bis in die letzten Winkel; die musikalische Antwort darauf wirkt simplifiziert. Jeder Sechstklässler kann daheim einen Charterfolg landen, Pop entsteht im Cyberspace, nicht in Proberäumen, seine Zeichen sind Zeichen anderer Zeichen, die längst nur noch gefunden, statt entdeckt werden wollen.

Da ein Handwerk wie Love Thy Neighbour so antizyklisch wie die Rückbesinnung von Nom de Guerre auf große konzeptionelle Epen von Led Zeppelins The Song Remains the Same über Tommy The Who und die Rocky Horror Show bis hin zu Stop Making Sense von den Talking Heads oder den frühen Queen im Ganzen. Nur mit viel mehr Selbstironie und Nonchalance als die alten Rockheroen. Leichtfüßiger, prononcierter, gesanglicher, bei all den Schulterblicken zutiefst modern und weit weniger kopistisch als Reanimierungsversuche von The Darkness oder den Scissor Sisters.

Wie bei jedem Konzept braucht es nur etwas Zeit, bis sich die Komplexität erschließt. Die pophymnische Single Run Run Run, die ergreifende Ballade Dear Mr. Writer oder das Look-Sharp-Gedächtnis-Stück Murder On Demand (mit Soffy O.) mögen zwar auch isoliert funktionieren, aber wer Love Thy Neighbour dreimal im Ganzen hört, wird die Macht des Plans begreifen. Die Geduld lohnt sich.

„Love Thy Neighbour“ von Nome de Guerre ist erschienen bei Tapete Records