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Pop unterm Elfenbeinturm

 

Der große Entertainer Chilly Gonzales legt ein Doppelwerk vor: Sein Album „Ivory Tower“ und der gleichnamige Film erzählen vom steten Kampf um Menschlichkeit.

© Gentle Threat

Möglicherweise stellt Schach die Idealform der Konfliktlösung dar. Es gibt klare Regeln, zwei Kontrahenten, der Schlauere gewinnt. Der andere bleibt auf der Strecke.

Chilly Gonzales wird bald vierzig und scheint eine regelrechte Obsession für das Spiel entwickelt zu haben. In dem Film Ivory Tower, der parallel zum gleichnamigen Album in die Kinos kommt, gibt der Entertainer den idealistischen Schachspieler Hershell, der von einem reinen „Jazzschachspiel“ träumt, um der schönen Züge wegen. Ein Spiel ohne Sieger und ohne Verlierer. Auf die Welt übertragen, bedeute das nämlich die Abschaffung des Wettbewerbs, stattdessen produktive Solidarität, echte Menschlichkeit. Die Aussichtslosigkeit des Unterfangens treibt Hershell jedoch zur Verzweiflung, denn einer solchen Solidarität steht immer das egoistische Individuum im Weg.

Mit seinen Piano Talk Shows hat Gonzales versucht, den klassischen Hip-Hop-Battle im Sinne eines solchen Jazzschachspiels umzugestalten. Er bat Künstler wie Helge Schneider oder Andrew W. K. an die Flügel zu einem konstruktiven Kräftemessen. Neben musikalischem Können spielten die Unterhalterqualitäten eine entscheidende Rolle, und so entstand an jedem Abend ein großes Spontanwerk. Sieger seien nie gekürt worden.

Der studierte Jazzpianist Gonzales ist nicht nur ein großer Maulheld, sondern auch ein äußerst versierter Musiker, wie er spätestens mit dem Album Solo Piano bewies. Hier orientierte er sich an Eric Satie und Philip Glass. Das introvertierte, dem titelgebenden Instrument gewidmete Werk zählt zu seinen größten kommerziellen Erfolgen und illustrierte, wie absurd eine Unterscheidung zwischen U- und E-Musik nur sein kann.

Auf dem neuen Album Ivory Tower widmet Gonzales sich wieder den Hip-Hop-Wurzeln und erinnert sich an jenen Berliner Anfangsjahren, als er mit einem Haufen Exilkanadier die deutsche Hauptstadt aufmischte. Im Elfenbeinturm sitzt die herrschende Klasse, im Film personifiziert von seinem narzisstischen Bruder, der immer kämpfen und siegen will und sich mit unlauteren Methoden zum Schachkönig hocharbeitet.

Gonzales hingegen ist der Schlehmil, der ewige Unglücksrabe, dem das Pech auf den Fersen ist. „I am a movie with no plot/ written on a backseat of a pisspower taxi„, singt er in der großartigen Single I am Europe. Der eigentlich für seine prallen Technobeats bekannte Produzent Alex Ridha alias Boys Noize nimmt sich zurück, lässt Gonzales genug Raum, sich als Klaviervirtuose und Wortakrobat auszutoben. In der beinahe beängstigenden Hasstirade The Grudge erreicht er sogar den Furor eines Eminem. Der Kanadier versteht sich eben auch auf die Rolle des Underdogs, des ständig Scheiternden, der von oben herab gedemütigt wird und sich durch seine Wortkaskaden zur Wehr setzen muss.

Das beste Stück auf dem Album wird von einem Mädchenchor getragen: You can dance ist eine großartige Symbiose aus Oldschool-Hip-Hop und dem Elektrofunk der Achtziger, der zuletzt durch Bands wie Chromeo oder Dam Funk wiederbelebt wurde. Da Ivory Tower auch als Soundtrack zum Film dienen soll, besteht ein Teil aus Instrumentaltracks von eher schwermütiger Stimmung, wie das elegische Rococo Chanel, auf dem sich eine ätherische Frauenstimme zwischen Gonzales‘ Pianospiel schiebt.

Auch wenn ihm aus frühen Zeiten noch das Image des ewigen Clowns anhaften mag, vertont er auf diesem Album keineswegs eine reine Komödie. Der Film hat ein durchaus ernsthaftes Sujet: Er beschreibt den Kampf um Menschlichkeit in einer tristen Welt, und solange es Elfenbeintürme gibt, ist eine produktive Solidarität noch nicht in Sicht.

„Ivory Tower“ von Gonzales ist erschienen bei Gentle Threat.