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Einer wie Keith Jarrett

 

Selten seit dem „Köln Concert“ war komplexe Musik so leicht verständlich: Der 23-jährige Tigran Hamasyan verschränkt Klassik, Jazz und Pop auf virtuose Weise.

© Vahan Stepanyan

Wenn Klassiklaien klassische Musik erklären wollen, dürfte das etwa so verständlich sein wie ein molekularbiologischer Diskurs des Landwirts mit seinem Milchvieh: Irgendwie betrifft es alle, irgendwie hat das Thema seine Relevanz, irgendwie muss man aber auch nicht wirklich alles bis ins letzte Detail analysieren.

Musik ist nicht gleich Milch. Deshalb ist hier die Herangehensweise ans Thema doch etwas angenehmer: Ob Laie oder Experte, man darf auch einfach bloß zuhören, eintauchen, wieder rausklettern und von Emotion, von Wirkung reden. Wie nach einem schönen Dinner, wo man auch nicht schon beim Kauen alles über Bestandteile, Herkunft oder Moral, geschweige denn die Funktionsweise des Verdauungstraktes wissen will.

Hören wir also Tigran Hamasyan zu, einem jungen, blutjungen, mehrfach preisgekrönten Pianisten, der auf seinem neuen, dem vierten Album A Fable Jazzmusik im klassischen Gewand darbietet. Seine Musik erreicht auch über ungeübte Ohren den Verstand, geht dann zu Herzen und verharrt dort eine ganze Weile.

Einfach zugehört, wie sich das minutenkurze Auftaktstück Rain Shadow noch seltsam dissonant ins soundtrackartige What The Waves Brought schwingt, als würde es knisternde Stummfilme und Jean-Pierre Jeunets Märchenwelten vertonen. Einfach zugehört, wenn die nervöse Verspieltheit in die bezaubernde Ruhe von The Spinners mündet, wenn die Beweglichkeit im nachfolgenden Illusion ausbleibt, um im flirrenden Samsara doch wieder durchzubrechen und wie ein instrumentales Streitgespräch im anschließenden Longing zu Orgelfetzen und zarten Drums sogar ein paar echte Worte anzunehmen.

Bis zum letzten der 13 Stücke schafft es Tigran Hamasyan, der sich nur beim Vornamen nennt, all den Stimmungen seiner Kompositionen eine sinfonische Konsistenz zu verleihen. So leidenschaftlich, so hingebungsvoll, als improvisiere er wie einst Keith Jarrett. Das aber unterscheidet die zwei Klaviervirtuosen: Während das legendäre Köln Concert 1975 aus dem Moment entstand, lässt der klangverwandte Tigran dem Augenblick keinerlei Raum. „Der Weg zum Lied ist immer Improvisation“, sagt der Armenier mit Wohnsitz New York. „Aber wenn ich es vortrage, ist die Struktur festgeschrieben.“ Selbst im Konzert überlässt er nur wenig dem Zufall. „Ich bin Perfektionist.“

Ein Perfektionist von gerade mal 23 Jahren, dessen neues Album keinen seiner Einflüsse übermächtig werden lässt. Am Ende ist A Fable nicht Jazz, nicht Klassik, weder ein Soloalbum, noch ein reines Band-Projekt und trotz aller Overdubs und Samples noch lange kein Pop. Keine Zuordnungen also. Warum auch. „Welcher Jazzmusiker nennt sich schon Jazzmusiker?“ fragt Tigran. Und so manches, was sich heute Klassik nennt, sei seinerzeit Pop gewesen. A Fable jedenfalls hat das Zeug zu einem Klassiker des Jazz. Denn selten seit Keith Jarretts Glanzzeit war komplexe Musik so leicht – und für Laien so verständlich.

„A Fable“ von Tigran ist erschienen bei Universal/Verve.