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Gute Musik schreibt sich selbst

 

Spannung aufbauen, Spannung lösen: Das Jazztrio des Schweizers Colin Vallon vereint die Power von Esbjörn Svensson mit der Poesie von Brad Mehldau.

Colin Vallon, Patrice Moret und Samuel Rohrer (© Nadia F. Romanini/ECM Records)

Es gibt Dinge, die erkennen wir erst, wenn wir an ihnen vorbeisehen. In der Kunst (und zumal in der Improvisation) ist Konzentration nicht immer eine Qualität. Manches verpassen wir gerade deshalb, weil wir uns besonders inständig darum bemühen. Einfälle fallen nicht vom Himmel, aber erzwingen lassen sie sich auch nicht.

Colin Vallon, der dreißigjährige Schweizer Pianist, der mit dem Bassisten Patrice Moret und dem Schlagzeuger Samuel Rohrer seine erste CD bei ECM vorlegt, erzählt, wie sein Stück Home entstand: Es „schrieb sich selbst, nachdem ich es aufgab, es schreiben zu wollen“.

Die Geste des Loslassens spürt man bei dieser dichten, entspannten Musik insgesamt. Sie hat wenig gemein mit dem, was ein Jazzpiano-Trio der traditionellen Art für gewöhnlich zu bieten hat. Dass viel Arbeit, viel gemeinsame Erfahrung hinter dem seit 2004 bestehenden demokratisch gleichseitigen Dreieck steckt, ist als Anstrengung kaum mehr zu spüren. Die drei machen ihre Kunst weniger, als dass sie sie geschehen lassen, als einen organischen Vorgang.

Das erfordert, im Kollektiv, ein Höchstmaß an Integration. Das Trio ist so zusammengewachsen, dass es gemeinsam Spannung aufbauen und Spannung lösen kann, mit hoher Intensität in den sich (manchmal bis an den Rand des Pathetischen) auftürmenden Verdichtungen wie in den Auslassungen. Wenig solistische Prachtentfaltung, Vallon & Co. denken orchestral. Und in großen Bögen.

Alle drei sind sie große Melodiker. Man könnte sagen: Sie atmen gemeinsam. (Nicht von ungefähr sind sie alle erfahren in der Zusammenarbeit mit Sängerinnen). Colin Vallon hat eine Vorliebe für die Musik Südosteuropas (zu seinen prägenden Erlebnissen gehören die legendären Chöre von Le Mystère des Voix Bulgares, auch türkische Musik). Aber die wird im Zusammenspiel nicht zitiert oder montiert. Die Anklänge steigen wie Erinnerungen, Ahnungen, Traumgebilde auf und versinken wieder. Viel Raum, viel Offenheit. Viel Poesie und viel Power.

„Ein Trio“, schrieb Konrad Heidkamp vor vier Jahren in der ZEIT, „das von Brad Mehldau die Poesie und von Esbjörn Svensson die Dynamik entliehen hat“. Heute ist es auf seiner Reise – das albanische Wort Rruga heißt so viel wie „Weg“, „Anfahrt“ – bei seinem eigenen Klang angelangt.

„Rruga“ von Colin Vallon/Patrice More/Samuel Rohrer ist erschienen bei ECM.

Aus der ZEIT Nr. 12/2011