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Erdbraune Gitarrenriffs

 

Countryrock, wie er sein soll: My Morning Jacket aus Louisville sind eine beeindruckende Liveband. Mit ihrem wunderbaren sechsten Album „Circuital“ locken sie den Bühnengeist ins Tonstudio.

© Cooperative Music

Geografie ist schon eine seltsame Sache. Vor allem scheint sie keine exakte Wissenschaft zu sein, sondern allzu sehr vom Standpunkt abzuhängen. Je nachdem, in welche Richtung man blickt, liegt der Osten schon mal im Westen. Und aus der Nähe betrachtet ist Louisville, Kentucky, eine belanglose, austauschbare Industriestadt mitten im Nirgendwo. Von Mitteleuropa aus gesehen aber verwandelt sich Louisville. Dann klingt der Name des Städtchen wie der Titel eines Märchens, in dem urwüchsige Männer im Pickup-Truck durch endlose Weiten gleiten, einsame Wölfe unter Kojoten, und dem amerikanischen Traum noch einmal Gesicht geben – wenn auch eines mit struppig sprießender Behaarung.

My Morning Jacket stammen aus Louisville. Ihr Sänger Jim James heißt nicht nur wie ein Westernheld, er sieht auch so aus. Im Titelsong von Circuital, ihrem sechsten Album, singt das überaus vollbärtige Mastermind der Band darüber, wie es ist, wieder dort anzukommen, wo man angefangen hat, „ending up in the same place that we started out“. Tatsächlich ist das Quartett für die Aufnahmen in ihre Heimatstadt zurückgekehrt, während das Vorgängeralbum noch in New York aufgenommen worden war.

Die geografische Rückkehr geht einher mit einer technologischen. Nicht nur wurde Circuital in einer ehemaligen Kirche und ganz altmodisch analog auf Band aufgenommen, statt auf einer Computerfestplatte gespeichert zu werden. Der Großteil der Songs wurde auch live eingespielt und musste ohne zusätzliche Overdubs auskommen. Die Absicht war, endlich einmal die Bühnenqualitäten der Band adäquat einzufangen. Die sind schließlich legendär: My Morning Jacket haben sich solch einen Ruf als Live-Band erspielt, dass sie beim renommierten Bonnaroo-Festival in Tennessee kürzlich einen besseren Auftrittstermin als der vermeintliche Headliner Eminem zugewiesen bekamen.

Auch musikalisch geben sich My Morning Jacket mit Circuital alle Mühe, zu ihren Wurzeln zurückzufinden. Die zuletzt so beliebten Experimente mit Funk oder Softrock sind selten geworden. Immerhin Holdin On To Black Metal klingt noch wie der Versuch, einen alten Motown-Hit von Yes nachzuspielen, also nach auf Hochglanz polierter Großartigkeit. Ansonsten aber rekapituliert das Quintett seine altbekannten Stärken: erdbraune Gitarrenriffs, für die Neil Young seinen Strohhut hergeben würde, epischer Southern Rock, der Lynyrd Skynyrd wieder zum Leben erweckt, Harmoniegesänge, die Brian Wilson aus dem Bett holen, und watteweiche Balladen mit so viel Country und so wenig Western, wie sie Wilco gerne mal wieder hinkriegen würden.

Ohne es ausdrücklich zu verkünden, hatten My Morning Jacket doch stets das Vermächtnis von The Band im Auge, so intensiv arbeiteten sie sich ab an der Vergangenheit der Rockmusik. Früher stand ihnen dabei allerdings bisweilen der eigene verkopfte Zugang im Wege. Auf Circuital klingen Jim James und seine Mitstreiter nun erstmals völlig organisch, ungebrochen harmoniesüchtig und jederzeit entspannt. So entspannt, dass James sich textlich straffrei in Tautologien ergehen darf. „I feel so wonderful the way I feel„, singt er. Und man möchte ergänzen: Auch Louisville fühlt sich ganz wundervoll an. Vielleicht weil man nie da gewesen ist.

„Circuital“ von My Morning Jacket ist erschienen bei V2/Cooperative Music/Universal.