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Wie der Glockenschlag von Big Ben

 

Die Auflösung von Oasis hat Noel Gallagher hörbar gut getan. Sein gelungenes Solo-Debüt stillt eine diffuse Sehnsucht nach Vertrautheit im unüberschaubar gewordenen Pop.

© Sour Mash

Wäre Noel Gallagher nicht Musiker geworden, hätte er womöglich auch eine Laufbahn als Beamter einschlagen können, vorzugsweise in der Abteilung Denkmalschutz. Sein größtes Talent liegt seit jeher in der Pflege historischer Wertobjekte: Wie ein Konservator hat er mit seiner Band Oasis das gewaltige Erbe auf Hochglanz gebracht, das die britische Popmusik hinterlassen hat, von den Beatles und den Kinks bis hin zu den Stone Roses und The La’s. Seine legendär rüpelhaften Umgangsformen hätte man ihm in der Behörde sicherlich nachgesehen. Mag ja sein, dass er gerne pöbelt, gegen den Premierminister, gegen Manchester United oder gegen Lady Gaga – das ändert nichts daran, dass er als Musiker stets so verlässlich war wie der Glockenschlag von Big Ben.

Das gilt auch für sein Solo-Debüt Noel Gallagher’s High Flying Birds, das er eingespielt hat mit seiner gleichnamigen neuen Band, darunter der ehemalige Oasis-Keyboarder Mike Rowe und der Lemon-Trees-Drummer Jeremy Stacey. Bloß keine Experimente! Eine konservative Haltung, die nicht unbedingt als Mangel verstanden werden muss. Gallagher macht auf diesem Album opulenten Gitarrenpop, angereichert mit allerlei Chören, Streichern und raumgreifenden Refrains – die Adult-Version von Oasis.

Noel Gallagher’s High Flying Birds – If I Had A Gun

Seinen kleinen Bruder Liam stellt er damit in den Schatten. Dessen Album aus dem Frühjahr Different Gear, Still Speeding, aufgenommen mit seinem Projekt Beady Eye, wirkt im Direktvergleich fad wie ein Earl Grey, der schon zu oft aufgegossen wurde. Noel dagegen hat die Auflösung von Oasis im Sommer 2009 hörbar gut getan. Er klingt, als sei ihm ein Stein vom Herz gefallen: heller, inspirierter, melodischer. Liam und sein Jähzorn müssen ihm wirklich den letzten Nerv geraubt haben.

Sein Songwriting ist ergiebig wie vielleicht seit dem Wunderwerk (What’s The Story) Morning Glory nicht mehr, Songs wie der filmische Opener Everybody’s On The Run oder die hypnotische Ellipse AKA… What A Life! sind beste Beispiele. Kürzlich erzählte der Autodidakt dem Magazin Spex von seiner Kompositionstechnik: „An neun von zehn Tagen dengel ich einfach so auf der Gitarre vor mich hin, aus Spaß. Und plötzlich, am nächsten Tag, passiert etwas.“ Das ist ein bisschen so, wie wenn Lukas Podolski nach einem Fußballspiel sagt: „“Ich mach das Ding rein und fertig.“

Wenn Noel dabei so pittoreske Lieder gelingen wie etwa die Single Death of You and Me, mit Schlaggitarre, schläfriger Lennon-Gedächtnis-Stimme und lustiger Big-Band-Trompete, wird allerdings deutlich, dass er mehr ist als nur ein treffsicherer Songwriter: Er stillt eine diffuse Sehnsucht nach Vertrautheit im unüberschaubar gewordenen Pop. Er wirft einen Rettungsring für alle Erschöpften aus, die im Wirrwarr unzähliger Mikroströmungen von Post-Dubstep bis Biopop zu ertrinken drohen. Sein Album ist ein Gegenprogramm zum digitalen Informationsoverkill. Avantgardisten mögen ihm vorwerfen, reaktionär zu sein. Noel Gallagher wird das ziemlich egal sein.

„Noel Gallagher’s High Flying Birds“ ist erschienen bei Sour Mash/Indigo.