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500 Riffs in 50 Minuten

 

Justice, die beiden irren Elektrobolzen aus Frankreich, legen nach vier Jahren ihr zweites Album vor. Obwohl „Horsepower“ angekündigt ist, gibt’s leider nur Ponyreiten.

© Ed Banger

Wir saßen plaudernd bei Getränken und sogenannten Knabbereien, als der Nachbar von unten mit diversen Hit-Mixen aus uninteressanten Jahrzehnten störte. Wir beschlossen, uns das nicht bieten zu lassen, drehten gemeinschaftlich die Lautsprecher um und den Lautstärkeregler weit, weit nach rechts. Rein mit der CD, schwarz wie die Nacht, ein goldenes Kreuz auf dem Cover. Die ersten zwei Minuten reichten. Danach war Ruhe von unten. Das nennt man wohl Gerechtigkeit.

Das Debütalbum des französischen Duos Justice aus dem Jahr 2007 konnte sowas. Denn klang, als hätte sich der Thrash-Metal-Stammtisch von nebenan bei dir zuhause verabredet, um sich auf dem Sofa ’ne Runde Techno anzuhören. Justice inszenierten Raves wie Heavy-Metal-Konzerte mit kilometerhohen Verstärkern. Sie kultivierten Headbanging auf geschredderten Basslinien und verzerrtem Achtzigerjahre-R’n’B. Nach war es nicht mehr peinlich in einem T-Shirt von AC/DC einen coolen Club zu betreten. war hysterisches Gebolze, Stroboskop-Disco und Nasenbluten. Eine Platte, von der man nur vom Anhören geile Schrammen bekam. Es war die beste Dance-Platte des Jahres.

Danach waren Justice erstmal Stars. Allerlei Remix-Aufträge für Promis, ein reichlich überkandidelter Tournee-Film und die obligatorischen Werbeverträge gehörten zum Pflichtprogramm. Aber irgendwann muss man dann mal nachlegen. Mit ihrem neuen Album Audio, Video, Disco gelingt es Gaspard Augé und Xavier de Rosnay, ihr schmutziges Schiff noch einmal in eine neue Richtung zu steuern. Ein generell schwieriges Manöver für französische Über-Bands: Das zweite Album! So konnte man bereits Air, Daft Punk und Phoenix anhören, was es bedeutet, nach einem glanzvollen Start auf Grund zu laufen.

Auch das neue Album von Justice beginnt unverbindlich. Nach den obligatorischen Dreschakkorden türmen sich Rock-Gitarren übereinander, ein fieser Rhythmus treibt die Synthesizer vor sich her. Horsepower soll das sein, es klingt aber ein bißchen nach Ponyreiten. Wo sich bereits nach gefühlten 20 Sekunden in kompletten Irrsinn auflöste, bleibt diesmal alles nah am Boden. Audio, Video, Disco – das ist lateinisch und bedeutet: Ich höre, ich sehe, ich lerne. Die Musik und die Videos gibt es im Internet. Aber was können wir von dieser Platte lernen? „Die Musik sollte emotional tiefgängig klingen, ohne aggressiv zu werden. Weich und gewalttätig zugleich“, lassen Justice ausrichten.

In Musik übersetzt, bedeutet so ein Quatsch: geniedelnde Synthesizer, die gniedelnde Gitarren imitieren, die gniedelnde Synthesizer nachmachen. Epische Disco-Wellen, auf denen schaumige Falsette tanzen. Akkorde wie Fanfaren. Eine riesige Basstrommel mit schön viel Hall. Justice haben den progressiven Bombast- und Stadion-Rock der späten siebziger Jahre für sich entdeckt und klauen wie die Raben bei AC/DC, Supertramp, Queen, Van Halen und sogar Steely Dan. Diese Platte kann man jedenfalls bedenkenlos zwischen Alive II von Kiss und Journeys Escape spielen. So schnell wird’s keiner merken.

Aber was machen jetzt all die Techno-Kids, die sich das Kreuz zwischen die Schulterblätter haben tätowieren lassen? Die hören den rotierenden Disco-House in Helix und natürlich das überlange Audio, Video, Disco. Zwei Stücke, die diese in Teilen so fantastisch missratene Platte noch einmal unwiderstehlich nach vorn katapultieren. Denn Justice sind nicht nur Genies (sorry, Daft Punk, und viel Glück mit euren B-Movie-Filmmusiken), sondern auch ganz abgefeimte Typen. Wie sie in der Single Civilization authentische Hi-Hat-Geräusche vortäuschen oder Teile von On ‚N‘ On wie Emissionen eines schlecht isolierten Proberaums klingen lassen. Das ist nicht nur sensationell albern, sondern sehr bemüht. Es gibt sogar eine David-Crosby-Hommage auf dieser Platte, aber darüber wollen wir hier jetzt nicht sprechen.

Auf schredderte man das Ding halt so runter und es klappte. Jetzt müssen die endlos komprimierten Gitarrensoli schon genau sitzen, damit sie nicht im schrillen Allerlei vorbeifliegen. Wann klang der ewige Traum von der Liason zwischen Rock und Dance zuletzt so auserzählt? Man hört 500 Riffs und glaubt, alle zu kennen. Und Nasenbluten bekommt allenfalls noch vom Nasebohren.

„Audio, Video, Disco“ ist bei Ed Banger Records erschienen.