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Zu viel Dampf für ein Ventil

 

Irgendwo zwischen Patti Smith und Kate Bush: Tallulah Rendall stattet ihre Musik mit Buch, Bild, Film, Tanz und Kunst aus. „Alive“ ist ein aufregendes Popalbum geworden.

© Peripherique

Zuerst will die Geschichte von Christian erzählt sein. Das Löwenjunge aus einem Zoo in Ilfracombe, North Devon, England war 1969 als Ware im Londoner Luxuskaufhaus Harrod’s gelandet. Weil Christian eines Nachts seinem Käfig entkam und seine Krallen in der Teppichabteilung an sündteurer Ware schärfte, war das Kaufhaus froh, als zwei Australier ihm das Vieh abkauften. Und auch Christian konnte froh sein, denn die beiden entließen ihn – nach einer Zeit des Exils auf einem Londoner Friedhof – in artgerechte afrikanische Freiheit.

Einer der beiden Australier war John Rendall, der Vater von Tallulah Rendall. „Tallulahs neigen dazu, leidenschaftliche, sexy Dinger zu sein, aber diese hier kann noch dazu mit einer hypnotisierenden Stimme und kreativer Intelligenz angeben“, schreibt das britische Hipness-Barometer i-D. Diese Tallulah sei mehr als nur ein „eng eingewickeltes Paket und eine Bettfrisur“.

Stimmt. Tallulah Rendall ist ein Energiebündel, ein Löwenbaby voll spielerischer Kraft. Und weil Gesang, Gitarre und Songwriting trotz exzessiven Tourens als Ventil für all den Dampf offenbar zu schmal sind, hat sie ihr zweites Album Alive zum crossmedialen Kunstprojekt montiert: Jeden der elf Songs hat sie einem Künstler aufgedrückt, der sich davon inspirieren lassen sollte, vom Glasmaler Andrew Logan bis zur Schmuckdesignerin Bex Rox, von diversen Malern und Zeichnern über die Pole-Dance-Artistin Amy Richardson Impey bis zu den Animationsartisten von Jelly Brain.

Das Resultat ist weit mehr ist als ein Marketing-Instrument: Bei Auftritten erweitern die ausgestellten Werke Tallulahs Ausdrucksspektrum. Alive erscheint als CD-DVD-Hardcoverbuch-Paket – großer Mehrwert gegenüber jedem schnöden Download. Auf der DVD sind die Videos zu den Songs, die den künstlerischen Prozess dokumentieren und damit einen ordentlichen Originalitätsgrad erreichen.

Eines der so entstandenen Kunstwerke ist ein Landschaftsfoto von Charles Moriarty, der sich und die Sängerin um einen alten Baum drapiert, inspiriert von Talullahs Song Older Than The Hills. Die theatralische Mantel-und-Degen-Inszenierung beschwört optisch eine Ahnin, die auch akustisch durch den Gesang der Löwenmähnigen geistert: Kate Bush und ihre sturmhohe Stimmbandakrobatik. Der Punk-Patin Patti Smith widmet Tallulah den Song Go Bathe In The Light über das Spannungsfeld zwischen femininer Fragilität und weiblicher Kraft.

Zwischen dem Opernhaften einer Kate Bush und dem Rotz einer Patti Smith liegen wundersame Welten. Tallulah quartierte sich für die Aufnahmen mit ihrer Band in den Hookend Studios in einem Anwesen ein, das einst dem Pink-Floyd-Gitarristen David Gilmour gehörte. Spuren vom Wabern der Psychedelik-Veteranen grundieren Alive. Tallulahs Lieblingsstilmittel ist der Kontrast, zwischen Fast-Flüstern und stimmstarkem Schmettern, zwischen folkigem Säuseln und Soul-Inbrunst. Das tighte, stimmige Album mit seiner leicht exzentrischen Rock-Kunst-Attitüde ist eines der interessantesten im ersten Halbjahr 2012. Gut gebrüllt, Löwin!

„Alive“ von Tallulah Rendall ist erschienen bei Peripherique/Cargo Records. Am 24. Juni spielt sie beim Festival „Umsonst und draußen“ in Würzburg.