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Die Sozialarbeiter des Hip-Hop

 

Die Ghetto Brothers aus New York ebneten 1971 der Hip-Hop-Kultur den Weg. Ihr bahnbrechendes Latin-Rock-Album „Power – Fuerza“ ist endlich wieder erhältlich.

© Truth and Soul Records

New York im Sommer des Jahres 1971. In den Fine Tone Studios in Manhattan nehmen drei Brüder und ein paar Freunde an einem einzigen Nachmittag acht Songs auf. Ihr erstes Album, dem sie den Titel Power – Fuerza geben, wird auch ihr einziges bleiben: Ein Meilenstein, der Latin Rock vorweg nimmt und an der Wiege des Hip-Hop steht, aber trotzdem in Vergessenheit geraten wird.

Die Band heißt Ghetto Brothers. Ihr Name ist nicht, wie man heute denken könnte, modische Pose, sondern verlängerte Realität: In der Bronx, wo die Teenager leben, sind die Ghetto Brothers keine Band, sondern eine Straßengang.

Der Weg, den die Ghetto Brothers an diesem Sommertag nehmen, führt sie von der dritten in die erste Welt. Während in Manhattan die Wolkenkratzer von der Macht des Kapitalismus künden, wirkt die South Bronx wie ein anderer Planet: Ruinen, Baulücken, verlassene Läden in Abrisshäusern. Obdachlose wärmen sich an Feuern, die in Stahlfässern lodern. Die Polizei wagt sich kaum noch in die von der Politik aufgegebene Gegend. In dem rechtsfreien Raum herrschen geschätzte 30 Prozent Arbeitslosigkeit, nahezu die Hälfte der Einwohner lebt von der Sozialhilfe. Drogen, Alkohol und Gewalt bestimmen den Alltag. Doch die South Bronx sieht nicht nur aus wie ein Kriegsgebiet, sie ist ein Kriegsgebiet: Die Polizei schätzt, dass es allein hier mindestens 100 Gangs mit insgesamt mehr als 11.000 Mitgliedern gibt.

Die Ghetto Brothers sind eine dieser Gangs. Die Mitglieder sind mehrheitlich Immigranten aus Puerto Rico, ihre verschiedenen Untergruppen sind bis nach New Jersey verteilt. Angeführt wird die Gruppe von Benjamin „Benij“ Melendez, der auch ein versierter Gitarrist ist. Er und seine beiden Brüder Victor und Robert lieben die Beatles und treten an Straßenecken oder auf Partys als Los Junior Beatles auf.

Auf Power – Fuerza ist dieser Einfluss vor allem in den ausgefeilten Harmoniegesängen und den Melodieführungen zu hören, aber im Sommer 1971 sind Benij und seine Brüder schon weiter: Sie fusionieren den britischen Pop mit US-amerikanischer Westcoast-Leichtigkeit, dem politisch motivierten Soul eines Sly Stone und vor allem mit den Rhythmen und Harmonien der Karibik. Ohne zuvor den Namen Carlos Santana überhaupt jemals gehört zu haben, entwerfen die Ghetto Brothers eine Blaupause für den Latin Rock.

Die Musik gehört zur Strategie der Ghetto Brothers, die eine der politisch aktivsten und progressivsten der New Yorker Gangs sind. Frauen gelten als gleichberechtigte Mitglieder, Drogenkonsum ist – zumindest offiziell – verboten und propagiert wird ein puertoricanisches Selbstbewusstsein, das sich am „Black is Beautiful“ der Black Panther orientiert.

Als ausgerechnet ihr Friedensbeauftragter beim Versuch einen Konflikt zwischen zwei Gangs zu schlichten umgebracht wird, verzichten die Ghetto Brothers auf Rache. Stattdessen berufen sie ein großes Gipfeltreffen aller Bandenführer in einem Jugendclub in der Hoe Avenue ein. Das Hoe Avenue Peace Meeting vom 7. Dezember 1971 geht in die Geschichte New Yorks ein: Auch wenn der unter der Leitung von Benij Melendez vereinbarte Waffenstillstand nicht lange halten wird, markiert das Treffen doch den Beginn vom Ende der Straßengangs. Ebenfalls anwesend: Ein junger Afrika Bambaata, damals ein 14-jähriger Warlord einer Gang, später einer der Gründer des Hip-Hop, der mit seiner Zulu Nation Botschaften in die Welt trägt, die zum Teil direkt von den Ghetto Brothers übernommen sind.

Nach dem Peace Meeting beginnen die Ghetto Brothers damit jeden Freitag Straßenfeiern zu organisieren, bei denen Waffen verboten sind und die verschiedenen Gangs friedlich zusammen kommen. Auf ähnlichen Block Partys wird wenig später in der Bronx der Hip-Hop erfunden werden.

Power – Fuerza ist schon vorher erschienen, wird aber nur lokal vertrieben. Selbst Benij Melendez selbst wird jahrzehntelang kein Exemplar besitzen. Er verlässt die Ghetto Brothers Mitte der siebziger Jahre und arbeitet später als Sozialarbeiter mit Jugendlichen. Victor stirbt 1995 an Aids, Benij und Robert machen heute wieder zusammen Musik und hoffen, vielleicht doch noch einen Nachfolger zu Power – Fuerza aufnehmen zu können.

Das bahnbrechende Album, das nahezu anonym blieb und dessen wenige Originalkopien für Hunderte von Dollars gehandelt werden, ist nun wiederveröffentlicht worden, ausgestattet mit einem üppig bebilderten, 84 Seiten starken Booklet. Aber erstaunlich ist vor allem die Musik selbst: Die acht Songs klingen noch heute, vier Jahrzehnte später, unglaublich lebendig – vom ansteckenden Latin-Pop von Got That Happy Feeling bis zur mitreißenden Agitprop von Viva Puerti Rico Libre. Musik mit einer Geschichte, die aber selbst ohne diese Geschichte noch eine wahnsinnige Kraft entfaltet.

„Power – Fuerza“ von den Ghetto Brothers ist erschienen bei Truth & Soul/Groove Attack.