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Seine Narben kann man hören

 

Dass Willis Earl Beal viel durchgemacht hat, merkt man seinem neuen Album sofort an. Es gibt nicht viele junge Männer, deren Soul, Blues und Gospel ein wahres Seelenleben spiegeln.

© Jamie-James Medina
© Jamie-James Medina

Man muss wohl erst einmal die Geschichte von der Obdachlosigkeit erzählen. Man sollte von den Selbstmordgedanken berichten. Oder die Tagelöhnerjobs aufzählen und die tiefdunklen Tage ausmalen. Man könnte tun, was naheliegt: Die Musik von Willis Earl Beal lesen als Essenz des Leids, das Willis Earl Beal durchleben musste. Dann könnte man sagen: In dieser Stimme liegt das Elend der Welt.

Das könnte man, aber vielleicht ist es besser, erst einmal hinzuhören. Denn Nobody Knows, das zweite Album von Willis Earl Beal, braucht eigentlich keine Erklärungen. Es ist auch ohne das Wissen um die Vorgeschichte des Sängers und die Umstände, unter denen seine Musik entstanden ist, ein so wundervolles wie intensives, bedrückendes und berührendes Erlebnis. Man muss nicht wissen, welche Narben das Leben ihm geschlagen hat, man kann sie hören, jede einzelne dieser Narben.

Deshalb steht die Stimme zu Beginn einsam da. Sie singt, bevor nach gut zwei Minuten doch noch ein paar Streicher einsetzen, allein und klar und hell von einem Leben in Armut, von dem Fahrrad vom Flohmarkt, von ein paar Bier mehr und dem Gefühl, zurückgelassen worden zu sein „wie ein Stück aus der Vergangenheit“. Doch Beal klagt nicht, er bemüht nicht das übliche stimmliche Selbstentäußerungsarsenal, das Soul und Blues zu bieten hätten. Er singt stattdessen ganz kontrolliert, fast schon schlicht, aber mit einer Trauer in der Stimme, als hätte sie schon lange keine Tränen mehr. Too Dry To Cry heißt ein anderer Song.

So geht es weiter. Die Instrumentierung bleibt spartanisch, das Tempo gemächlich, die Stimmung düster. Und Cat Power, noch so eine geschundene Seele, singt mit beim Refrain des Songs, der von der allerletzten Hoffnung der Hoffnungslosen handelt: „Just wait and see„, singen die beiden zusammen, „the truth is coming through„. Hier und in vielen anderen Songs vollbringt Beals Stimme ein kleines Wunder. Er singt davon, wie sich ein Leben im Suff auflöst, oder wie es ist, auf einen Telefonanruf zu warten, der niemals kommt, ohne jemals dem Kitsch anheimzufallen oder wie eine vertonte Sozialreportage zu klingen.

Womöglich ist das der Punkt, an dem dann doch wieder die Biografie des 29-Jährigen ins Spiel kommt. Die Authentizität hinter der Kunst mag vor allem dafür verantwortlich sein, dass der Soul des Tom-Waits-Bewunderers Beal nicht nach Plastik klingt wie der seiner Altersgenossen aus den Charts, dass sein Gospel nicht nach Bigotterie riecht und sein Blues nicht schmeckt nach den Baumwollpflückerklischees, die seit Generationen tradiert werden.

Beal hat sich, nachdem er von seiner Großmutter in Chicago aufgezogen worden war, jahrelang mit McJobs durchgeschlagen. Er hat in Albuquerque auf der Straße gelebt und wurde wegen psychischer Probleme unehrenhaft aus der U.S. Army entlassen. Er hat sich dann, zurück in Chicago, als Straßenmusiker versucht, in der U-Bahn für Kleingeld gesungen, seine Songs mit einer alten Karaokemaschine aufgenommen und CDs mit selbst gezeichneten Covers in der Stadt verteilt, ebenso wie Flyer, auf denen er seine Dienste als Sänger anbot und eine Freundin suchte. Er hat versucht, bei der amerikanischen Ausgabe von X Factor unterzukommen, ist aber an Angstzuständen und Alkohol gescheitert.

Nun, zu bescheidenem Ruhm gekommen und mit einer Frau liiert, die ihm seine Therapiestunden zahlt, erzählt er in Interviews, dass er sich noch immer ebenso unglücklich fühlt wie früher. Und er sagt, dass er seine Lebensgeschichte hasst. Wenn es also nach Willis Earl Beal geht, dann sollte man einfach nur seine Musik hören.

„Nobody Knows“ von Willis Earl Beal ist erschienen bei XL/Beggars Group/Indigo.