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Stück für Stück zur Banalität

 

Wieder so ein zweites Album: Nach ihrem fantastischen Debüt aus dem vergangenen Jahr haben Poliça die Balance zwischen Klarheit und Verwirrung verloren. „Shulamith“ verschenkt großes Potenzial.

© Cameron Wittig
© Cameron Wittig

Es ist aus betriebswirtschaftlicher Sicht nie verkehrt, einem Produkt etwas Geheimnisumwittertes zu verleihen – sofern es dabei nicht in die Tiefen der Kryptologie entgleitet. Wie Mars oder Milky Way, die zwar kosmische Geschmackserlebnisse verheißen, aber nichts mit dem Weltall gemein haben, ist auch Poliça so gesehen ein PR-Coup sondergleichen.

Der Bandname erlaubt diverse Deutungen zwischen Politik und Programmiersprache, klingt trotz aller Fragen aber nicht allzu abstrus. In Kombination mit dem vernebelten, aber nicht unergründlichen Titel Give You The Ghost weckte er 2012 wohl einige Aufmerksamkeit für das Debütalbum des amerikanischen Indiepop-Kollektivs um die Sängerin Channy Leaneagh. Nun kommt der Nachfolger – und setzt begrifflich schon größere Fragezeichen. Er heißt Shulamith. Was ist das denn?

So heißt feministische Aktivistin, mit Nachnamen Firestone, lehrt uns das Label und lässt somit nur Wissbegierige erleuchtet zurück. Wer nicht weiter nachhakt, den dürfte dagegen ein Hauch von Ratlosigkeit umwehen, was sich auf die Rezeption insgesamt übertragen könnte.

Auf ihrem Erstling nämlich lieferten Poliça noch ein Konglomerat spielerisch verwirrender Songs, in denen Leaneaghs Stimmhall mal durch Ryan Olsens verstörende Arrangements gebrochen wurde, mal so verschroben klang, dass ihn eine differenzierte Harmonie aus treibendem Schlagzeug und Saiteneinsatz auf den Boden der Tatsachen zurückholte.

Diesmal fehlt das wunderbare Korrektiv, die feine Balance des scheinbar Gegensätzlichen. So treibt Shulamith Stück für Stück in Richtung Banalität der Extreme, jagt hier ein tarantinoeskes Digitalpfeifen durchs windschiefe Vegas, versäumt es da, den R’n’B-Sound von I Need $ mit alternativer Brüchigkeit am Mikro zu verkanten, und begleitet den Gesang nicht durchs wavige Grundbrummen von Very Cruel, sondern begräbt ihn darunter. Dem neuen Album fehlt jene geschmeidige Unberechenbarkeit, die Give You The Ghost 2012 zum spannendsten Popding des Jahres gemacht hat.

Um Missverständnisse zu vermeiden: Auch Shulamith hebt sich wohltuend vom Chartgedudel prägnanter Stimmen mit instrumenteller Pflichtbegleitung ab. Noch immer stecken in Poliça ungemein vielschichtige Tonfolgen, die bei fast jedem der zwölf Stücke aufhorchen lassen, nachdenken vor allem und den Pop somit stärker polarisieren als vieles, was sich freiwillig unter dieses Label begibt.

Allzu oft aber kommt die Polarität nun als bloße Attitüde daher, als Kalkül. Schade, denn es steckt viel kreatives Potenzial in dieser faszinierendsten Mischung radiotauglichen Antimainstreams seit Joy Division. Poliça hätte die Kraft, den Geist zu befreien wie einst Shulamith ihr Geschlecht.

„Shulamith“ von Poliça ist erschienen bei Memphis Industries.