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Der Letzte auf Londons Straßen

 

Ein Abgesang ohne Gesang: Der Techno-Produzent Actress streunt durch die Klangruinen von „Ghettoville“. Um sein apokalyptisches Großstadtalbum werden ihn viele Kollegen beneiden.

© Tate Kusama
© Tate Kusama

Aus Darren Cunningham wäre vermutlich auch ein guter Teilchenphysiker, Premierminister oder Friseur geworden. Der 34-jährige Londoner, der unter dem Namen Actress elektronische Musik macht, ist ein Einarbeiter. Er gehört zu jenen Menschen, die sich mit etwas Zeit und Geduld in alles hineinfuchsen können. So war es vor allem sein Trainingsfleiß, dessentwegen man Cunningham Ende der neunziger Jahre eine Laufbahn im Profifußball prognostizierte. Verletzungsbedingt endete diese Karriere jedoch, bevor sie begonnen hatte.

Cunningham wurde depressiv und kontaktscheu. Er schottete sich ab in seinem Apartment und begann aus einer Laune heraus mit der Produktion abstrakter Soundskizzen. Billigsampler und Diktiergerät wurden bald abgelöst von einem hochgerüsteten Computer. Die Laune wurde zur Obsession. Cunnigham rauchte und arbeitete, arbeitete und rauchte. Den Geldfluss stellte er durch gelegentliche DJ-Sets sicher. Nach vier Jahren war das erste Actress-Album Hazyville fertig. Es erschien 2008 und war wie nichts anderes zu dieser Zeit.

2014 kann man das nicht mehr sagen. Es scheint manchmal, als wolle jeder zweite Elektro-Produzent klingen wie Actress. Thom Yorke bewundert ihn, Damon Albarn arbeitet mit ihm. Ähnliches Ansehen genießt in eingeweihten Kreisen nur noch der Dubstep-Schweiger Burial.

Die Aufregung war deshalb groß, als Cunningham Ende des vergangenen Jahres sein inzwischen viertes Album Ghettoville ankündigte. Es sei als direkter Nachfolger von Hazyville zu verstehen, schreibt er. Es werde außerdem sein letztes bleiben. Das Ende seiner zweiten Karriere möchte Cunningham selbst bestimmen.

Ghettoville könnte tatsächlich als letztes Album der Musikgeschichte durchgehen, so endgültig und menschenleer klingt es. Cunningham hat seine Kunst der Abstraktion und Verfremdung vollendet. Die Tracks bestehen aus unkenntlich gemachten Samples und Fragmenten von Techno, Ambient, Deep House oder R’n’B. Ihr wichtigstes Merkmal ist die Wiederholung, das legt gleich das Eröffnungsstück Forgiven offen. Siebeneinhalb Minuten lang zirkuliert es um ein heruntergepitchtes Piano-Preset. Weit und breit ist kein Ausweg in Sicht.

Soundnerds diskutieren in Internetforen, wie Actress die Maschinen zum Klingen bringt, wie rau und skizzenhaft er alles belässt, ohne jemals in den Verdacht zu geraten, mit unfertiger Musik davonkommen zu wollen. Was aber haben die Maschinen zu sagen? Ghettoville ist ein Großstadtalbum, niemand würde solche Musik über Osnabrück schreiben. Und: Es steht schlecht um die Großstadt. Ihre Plattenbauten stürzen ein, von den paar Wänden, die noch da sind, bröckelt der Putz. Ghettoville ist zwar auch Techno, aber das Gegenteil von Tanzmusik. Man bleibt am besten zu Hause.

Cunningham kommuniziert über Andeutungen und Vorahnungen. Das Ende dräut auf Ghettoville, aber eigentlich passiert gar nichts. Die Stücke schleppen sich dahin, durch Soundruinen und Geräuschkulissen, in denen man sich fühlen will wie der letzte Mensch in Londons Straßen. Tageslicht und Hoffnung lässt Cunningham nur als ironisch verdrehte Geste aufscheinen. „Don’t stop the music“ verkündet einmal ein übel zugerichtetes Gesangs-Sample – als hätte Actress die Musik nicht längst in ihre Einzelteile zerlegt.

Aber nicht alles ist am Ende: Die Sache mit der Musikkarriere, hieß es neulich, die wolle er sich doch noch einmal überlegen.

„Ghettoville“ ist erschienen bei Werkdiscs/Ninja Tune/Rough Trade.