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Mutti Motown und Papa Pop

 

Der Plattenschrank der Eltern im neuen Glanz: Chet Fakers Album „Built on Glass“ klingt nach Zeiten, als der Röhrenverstärker noch frohgemut knisterte und das Rauchen noch erlaubt war.

© Lisa Frieling
© Lisa Frieling

Nicholas James Murphy hätte es besser wissen können. Schon im Jahr 2009 ergab eine Studie der Universität Oldenburg, dass bestimmte Vornamen wie Mandy und Justin die Erfolgschancen von Kindern mindern. Nun muss man Murphy zugute halten, dass er aus Melbourne stammt und ihn die Erkenntnisse der Universität Oldenburg womöglich nicht erreicht haben.

Wie auch immer: Murphy entschied sich trotzdem, seine Karriere als Musiker unter dem Pseudonym Chet Faker anzutreten. Gemeint war das zwar als ehrliche Verbeugung vor dem Jazz-Trompeter Chet Baker, besitzt aber die Anmutung eines Pennälerscherzes. Und wie das so ist mit Witzen: Die Pointe mag noch so gut sein, spätestens beim dritten Mal wird sie schal.

Nun muss Murphy aber damit leben, dass potentielle Hörer einen völlig falschen Eindruck bekommen. Denn nach einem müden Scherz klingt seine Musik ganz und gar nicht. Müde schon, aber garantiert nicht witzig. Die Tracks auf Built On Glass, seinem Debütalbum, sind zwar am Computer entstanden, aber erwecken den Eindruck, sie stammten aus einer fernen Vergangenheit, in der Röhrenverstärker frohgemut vor sich hin knisterten, Staubkörnchen sich regelmäßig in Schallplattenrillen verirrten und sogar das Rauchen noch erlaubt war.

Chet Faker – Talk Is Cheap from PIASGermany on Vimeo.

Ja, es sind die guten alten Zeiten, die Chet Faker wiederauferstehen lässt. Der 24-jährige Australier sieht sich – neben dem goldenen Zeitalter des Jazz, dem er schon mit seinem Pseudonym huldigt – außerdem vor allem beeinflusst vom Plattenschrank seiner Eltern. Mutti hörte am liebsten Motown, Papa gemütlich tröpfelnde Chillout-Electronica. Tatsächlich kann man den Soul hören in seiner Stimme.

Musikalisch aber haben vor allem der Jazz und Chillout ihre Spuren hinterlassen: Ersterer im Klangbild, das warm und flauschig die heimelige Atmosphäre eines schummrigen Kellerclubs evoziert. Letzteres in der Stimmung der Stücke, die an niedrigem Blutdruck und einer Überdosis Valium zu leiden scheinen. Ganz extrem im nahezu rhythmuslosen No Advice (Airport Version), das nicht nur im Titel an die Flughafenmusik erinnert, die Brian Eno Ende der siebziger Jahre komponierte.

„Ich mag einfach einen langsamen Groove“, sagte Murphy in einem Interview mit der englischen Tageszeitung Guardian, aber dass er sich mittlerweile bemühe, etwas schneller zu werden. Man höre das, so Murphy, vor allem bei der ersten Singleauskopplung Talk Is Cheap. Der Song ist für seine Verhältnisse tatsächlich fast hektisch geraten, rollt aber immer noch sehr gemütlich daher und bezieht seine Dramatik nahezu ausschließlich aus Murphys emotionalem Gesang. Würde er sich den Bart abschneiden, könnte er womöglich eine Karriere wie James Blake oder Jamie Woon beginnen.

Aber es sind die Diskrepanzen, die Built On Glass zu einer der aufregendsten Platten des Jahres machen, die innere Zerrissenheit, die jeden Song bestimmt. Auch die retroselige Wärme seiner Songs kontrastiert Chet Faker stets mit abweisend klappernden Beats, er lässt teilnahmslose Keyboard-Flächen von pumpenden Bassläufen durchschneiden. Irgendwo zwischen der schillernden Oberflächlichkeit eines House-Tracks und der Seelentiefe des Soul hat Nicholas James Murphy seine Nische gefunden – und in der eine Musik, für die man ihm sogar sein irreführendes Pseudonym verzeiht.

„Built On Glass“ ist erschienen bei Future Classic/ PIAS/ Cooperative