Lesezeichen
 

Zerbrochen in Amerika

Die Bilder des vor 20 Jahren verstorbenen Graffitikünstlers Jean-Michel Basquiat beeindruckten den Bassisten Lisle Ellis so sehr, dass er ihm nun eine Totenmesse komponiert hat: „Sucker Punch Requiem“.

Lisle Ellis Sucker Punch Requiem - An Hommage to Jean Michel Basquiat

Es ist das Jahr 1977 in New York. Der 17-jährige Jean-Michel Basquiat besprüht nachts mit seinem Freund Al Diaz Hauswände in Manhattans East Village. Ihre Graffiti prangern die rassistische Praxis von Polizei und Justiz an, die beiden signieren sie mit „SAMO shit“ (Same Old Shit). Viele Menschen können sich mit den Botschaften identifizieren.

Vier Jahre später sprüht der Künstler Basquiat Jimmy Best on his back to the sucker punch of his childhood files auf eine Leinwand, Jimmy Best wurde von seinem Schwarzsein eingeholt und unfair zu Boden gebracht. Ein anderes seiner Bilder heißt Ornithology. Es bezieht sich auf den Jazzsaxofonisten Charlie „Bird“ Parker, auf seine künstlerische Kraft, seine Sensibilität und sein Zerbrechen an der von rassistischen Übergriffen geprägten Wirklichkeit in den USA.

Das Jimmy-Best-Graffito beeindruckt den kanadischen Bassisten Lisle Ellis. Er studiert Ende der Siebziger in New York und sieht es an einer Hauswand. Die meisten anderen Botschaften Basquiats gehen an Ellis unbemerkt vorbei, ebenso der Wirbel um den Künstler Mitte der Achtziger und sein Herointod im August 1988. Die Bedeutung Basquiats wird Ellis erst bewusst, als er selbst beginnt zu malen. Ende der Neunziger ist das, die Bilder Basquiats begleiten Ellis in dieser Zeit, das Dunkle, das comicartig Verzerrte, das Selbstzerstörerische und Verletzliche.

Ellis beschließt, ein Requiem für Basquiat zu komponieren. Sucker Punch Requiem nennt er es, in Anlehnung an seine erste Begegnung mit der Kunst Basquiats. Ellis engagiert sechs namhafte Musiker, darunter den Saxofonisten Oliver Lake und den experimentierenden Posaunisten George Lewis. Die Aufnahmen entstehen an zwei Tagen im September 2005 in Brooklyn. Das Septett folgt anhand von 16 Stücken dem Leben Basquiats. Die Titel erinnern an verschiedene Aspekte seines künstlerischen Werks, an die Graffiti an New Yorker Hauswänden Ende der Siebziger, an schwarz-weiße Röntgenbilder, an kalte Straßenschluchten und die harten Farb- und Formkontraste der achtziger Jahre. Diese Vertonung klingt wie ein verschlungener Tanz, wie eine Sinfonie des Verlorenseins. Ellis zeichnet Basquiat als Individuum, das sich durch eine Stadt im Stillstand bewegt. Als den Einzigen, der erkennt.

Beim zweiten Stück, Incantation And Ascent, bläst Oliver Lake ein einsames Solo, das an John Coltranes Ascencion erinnert. Auch bei den anderen Stücken ragen solche Momente reiner Schönheit zwischen den zerbrochenen Monumenten aus Beton und Mörtel hervor.

Ellis erforschte für die Kompositionen kirchliche Requien. Auf der Suche nach einer möglichst reduzierten musikalischen Struktur fand er eine traditionelle sechsteilige Totenmesse der römisch-katholischen Kirche. Er begann, für jeden der sechs Teile Themen zu schreiben und diese anschließend zu verändern, gleichsam zu übermalen. So entstanden Klangbilder und sich überlappende musikalische Formen. Ellis komponierte sie nicht aus, vieles blieb unfertig. Rau, kantig und seltsam schön muten sie an, wie die Bilder und das Leben Basquiats.

„Sucker Punch Requiem – An Homage to Jean Michel Basquiat“ von Lisle Ellis ist bei Henceforth Records erschienen.

Weitere Beiträge aus der Kategorie JAZZ
Steve Lehman: „On Meaning“ (Pi Recordings/Sunny Moon 2008)
Christian Prommer’s Drumlesson: „Drumlesson Volume 1“ (Sonar Kollektiv 2008)
Jack Kerouac: „Poetry For The Beat Generation“ / „Blues And Haikus“(EMI 2008)
Globe Unity Orchestra: „Globe Unity – 40 Years“ (Intakt 2008)
Bill Dixon With Exploding Star Orchestra: „s/t“ (Thrill Jockey 2008)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter zeit.de/musik

 

Er liest, sie spielen

Vor 50 Jahren nahm der amerikanische Schriftsteller Jack Kerouac zwei Alben mit Jazzmusikern auf. Zum Jubiläum werden sie nun neu aufgelegt.

Jack Kerouac Poetry

In den Texten des Poeten Jack Kerouac lebten sie, „die Kinder der amerikanischen Bop-Nacht“. Da war der junge Charlie Parker, der aus Kansas City nach Harlem gekommen war, „übend an regnerischen Tagen“. Er steckte so voller Energie, dass er auf der Bühne „im Kreis lief, während er spielte“. Jack Kerouac ging zu den Konzerten des Altsaxofonisten und ließ sich von ihm inspirieren. Nach Parkers Tod im Jahr 1955 widmete Kerouac ihm das Gedicht Charlie Parker. Es erschien Ende der Fünfziger in dem Gedichtband Mexico City Blues. Im Vorwort des Bandes schrieb Kerouac: „Ich möchte als Jazz-Dichter verstanden werden, der einen langen Blues spielt, in einer Jam-Session an einem Sonntagnachmittag, 242 Refrains.“

Ende der fünfziger Jahre nahm Kerouac zwei Schallplatten auf. Er las seine Texte, Musiker improvisierten eine Untermalung. Auf Poetry For The Beat Generation spielte Steve Allen das Klavier, bei Blues And Haikus begleiteten die Tenorsaxofonisten Al Cohn und Zoot Sims den Literaten. Bob Thiele produzierte die Aufnahmen für die Plattenfirma DOT Records, später wurde er durch seine Aufnahmen mit John Coltrane bekannt. Die Platten sind seit Jahren nur schwer erhältlich, zum 50. Jubiläum werden sie nun neu aufgelegt.

Poetry For The Beat Generation entstand Anfang des Jahres 1958. Die ersten Presseexemplare waren bereits verschickt, da stoppte Labelchef Randy Wood den Vertrieb. Ihm sei aufgefallen, erklärte er der Zeitschrift Variety, dass die Texte nicht jugendfrei seien. Er wolle seinen Kindern so etwas Anstößiges nicht zumuten, seine Plattenfirma würde nur „saubere Familienunterhaltung“ veröffentlichen. Bob Thiele war außer sich und kündigte bei DOT. Mit Steve Allen gründete er die Plattenfirma Hanover Signature und brachte die Aufnahmen Kerouacs im Sommer 1959 selbst heraus.

Auf dem Album liest Kerouac auch sein Gedicht über den verstorbenen Charlie Parker. Verzweiflung klingt in seiner Stimme, er vergleicht Parker mit Buddha und Beethoven. Steve Allen deckt die quälenden Worte mit seinem sanften Klavierspiel zu. Es ist seltsam, die Texte Kerouacs ausgerechnet von Allen begleitet zu hören, denn als Provokateur galt der Pianist nie. Kurz nach ihrem Zusammenspiel lud er Kerouac in seine betuliche Steve Allen Show ein und befragte ihn zu dem Buch On The Road.

Jack Kerouac Blues And Haikus

Noch im selben Jahr produzierte Thiele eine weitere Aufnahme mit Kerouac, diesmal begleiteten ihn Zoot Sims und Al Cohn ins Studio. Kerouac schrieb danach: „Schon immer dachte ich, es müsse wunderschön sein, nur ein Saxofon zu haben. Ohne Rhythmusgruppe oder Klavier. Einfach das pur vibrierende Horn. Zoot und Al blasen gedankenvoll süße, metaphysische Sorgen.“ Blues And Haikus wurde im Oktober 1959 ebenfalls bei Hanover veröffentlicht.

Die beiden Platten könnten unterschiedlicher nicht sein. Während Steve Allens Klavierspiel die Gedichte eher plaudernd untermalt, setzen Zoot Sims und Al Cohn kraftvolle Kontrapunkte mit zerrissenen, perkussiven Tönen. Wie Presslufthämmer stemmen ihre Hörner den Asphalt der Worte auf. Sie bringen die einsam im Sonnenlicht flirrenden Straßen ebenso zum Vibrieren wie die von Musikern, Nachtschwärmern, Liebenden und Verzweifelten bevölkerten nächtlichen Straßen New Yorks. Kraftvoll klingt das, eben on the road.

„Poetry For The Beat Generation“ von Jack Kerouac und Steve Allen sowie „Blues And Haikus“ von Jack Kerouac, Al Cohn und Zoot Sims wurden bei EMI wiederveröffentlicht.

Weitere Beiträge aus der Kategorie JAZZ
Globe Unity Orchestra: „Globe Unity – 40 Years“ (Intakt 2008)
Bill Dixon With Exploding Star Orchestra: „s/t“ (Thrill Jockey 2008)
David Murray & Cassandra Wilson: „Sacred Ground“ (Sunny Moon 2007)
Anthony Braxton: „Solo Willisau“ (Intakt 2007)
Simphiwe Dana: „The One Love Movement On Bantu Biko Street“ (Skip Records 2007)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter zeit.de/musik

 

Wild tanzt die kleine Terz

Im zwanzigsten Stockwerk eines Warschauer Hotels beginnt die Reise des Jazztrompeters Paul Brody, in einem New Yorker Club endet sie. Neben ihm sitzt der erstaunte Béla Bartók.

David Murray Sacred Ground

Langsam wird die Erde abgetragen. Noch sind kaum Wurzeln zu sehen, nur Verästelungen. Die Melodie des Stücks Warzaw balanciert vorsichtig, die Rhythmen sind gebrochen, die Trompete stößt raue Töne aus.

Auf dem Weg nach Warschau las der Trompeter Paul Brody ein Gedicht des polnischen Dichters Czesław Miłosz, er beschreibt darin das Warschauer Ghetto. Im zwanzigsten Stockwerk eines Hotels schrieb Brody in dieser Nacht die Melodie des Stücks Warzaw. Sie ist beeinflusst von den Improvisationen John Coltranes und den Rhythmen Steve Colemans, von Ornette Colemans harmolodischem Konzept, von Béla Bartók und Charles Ives.

Mit dem Stück beginnt Paul Brodys neue CD For The Moment, erschienen bei John Zorns Label Tzadik. Tzadik ist hebräisch und bedeutet Der Wahrhaftige. John Zorn sagt, dass er vor allem an die Integrität seiner Künstler glaube. Auf den Platten bei Tzadik sei die Vision des Künstlers zu hören.

Das Titelstück nahm Paul Brody gemeinsam mit Zorn in New York auf. Brody erzählt, er habe die arabischen Melodien immer bewundert. Sie klängen wie eine lange Reise, eine Wanderung durch Berg und Tal. Schon immer habe er sich Klezmer-Melodien so vorgestellt, wie eine einzige lange Melodie, die nicht mehr aufhört.

Die Klezmer-Musik klinge manchmal traurig, sagt Brody, der Grund sei die kleine Terz. Diese Ähnlichkeit zur Tonleiter des Blues fasziniere ihn. Die Betonung einer Note verändere den Charakter eines Klangs vollkommen, wie ein musikalisches Hologramm. For The Moment erinnert an einen wilden Tanz, weniger an eine Reise durch beschauliche Landschaften. Die Traurigkeit der kleinen Terz klingt deutlicher in Pure As A Teardrop, einer flüsternden Melodie mit dem Sprechgesang Michael Alperts.

Seine Beschäftigung mit jüdischer Musik führte Paul Brody zu Béla Bartók. Der ungarische Komponist besuchte Dörfer und kleine Städte in den Bergen, um die alten Melodien aufzuschreiben. Ihm ist das Stück Bartoki gewidmet. Es beginnt tänzerisch, Christian Dawids Klarinette wird bald von Brodys Trompete übertönt. Schließlich entladen sich blecherne Bass-Rhythmen. Es klingt, als trete Bartók auf in einem New York Club. Der Komponist wäre sicher erstaunt.

Der elektrisch verzerrte Bass Martin Lillichs prägt die Stimmung vieler Stücke, sie erinnert an die Steelguitar Mark Ribots und den New Yorker Downtown-Sound der neunziger Jahre.

Überall begegnen Paul Brody Geschichten, er schreibt sie auf und macht Lieder aus ihnen. Und so werden die uralten, fast vergessenen Wurzeln sichtbar und treiben wieder aus.

„For The Moment“ von Paul Brody ist bei Tzadik erschienen.

Lesen Sie im Interview, was Paul Brody zum Jüdischen im Jazz und in seiner persönlichen Geschichte erzählt »

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter zeit.de/musik

 

Ein schwarzer Amerikaner in Paris

Im selbstgewählten Exil schreit David Murray den Blues heraus, sein Saxofon ist die Tonspur des Unrechts. Und Cassandra Wilson singt dazu.

David Murray Sacred Ground

In diesem Jahr wurde beim Sundance Film Festival der afro-amerikanische Regisseur Marco Williams für seinen Dokumentarfilm Banished ausgezeichnet. Er war tief in den Süden der USA gereist, nach Missouri und Arkansas, und hatte dort weiße Gegenden besucht, Pierce City, Harrison oder Forsyth County. Sie entstanden in der Zeit von 1890 bis 1930, zwischen Bürgerkrieg und Großer Depression. Tausende schwarzer Familien mussten ihre Häuser verlassen und fliehen. „Geh oder stirb“ war das Motto dieser Vertreibung.

Der Saxofonist David Murray hatte die Musik zu diesem Film komponiert. Er blieb am Thema und bat den afro-amerikanischen Dichter Ishmael Reed um zwei Liedtexte für Cassandra Wilson, die aus dem Süden stammt und schon in der preisgekrönten Komposition Blood On The Fields von Wynton Marsalis die Hauptpartie gesungen hat. Auf einem Youtube-Videoclip ist zu sehen, wie sie ins Studio kommt und den Song am Klavier probiert. Ein anderes Video zeigt sie bei der Aufnahme. Es gibt auch eine Clip mit Ishmael Reed, der den Text spricht, begleitet von David Murray am Klavier.

David Murray war zwanzig, als er 1975 nach New York kam. Er spielte in der New Yorker Loftszene mit Cecil Taylor und Anthony Braxton und ging zwei Jahre später in Europa auf Tournee. 1978 machte er seine ersten Aufnahmen für das italienische Black Saint Label und gründete das Black Saint Quartet. In dieser Besetzung hat er jetzt das Album Sacred Ground aufgenommen, mit dem jungen Pianisten Lafayette Gilchrist an der Stelle des verstorbenen John Hicks.

Das Cover zeigt Murray mit seiner Bassklarinette. Aus seinem Rücken wachsen Wurzeln, die sich in der dunklen Erde verankern. Auf der Suche nach dem schwarzen Erbe, das ihn zuletzt bis zu den westindischen Inseln und in den Senegal geführt hatte, ist er jetzt zu seinen afro-amerikanischen Wurzeln zurückgekehrt: zum Blues als der Tonspur von Leid und Vertreibung.

David Murray lebt in Paris. Zu seinen seltenen Auftritten in New York kommt ein schwarzes Publikum, sehr unüblich für Jazzkonzerte in den Uptown Clubs von Manhattan. Man schätzt es, wie soziales Engagement und das Erbe des Jazz in seiner Musik mitschwingen.

Bei allem Geschichtsbewusstsein möchte Murray doch die Zeit nicht zurückdrehen. Der Jazz von gestern kann nicht der von heute oder morgen sein, das sieht er anders als mancher Weggefährte. Die Behauptung des Saxofonisten Wynton Marsalis, Murray könne gar nicht spielen, hat ihn trotz seiner mehr als zweihundert Aufnahmen getroffen.

Auf Sacred Ground spielt er wirbelnde Töne. Blueshaltig und klangmächtig, mit multiphonen Schreien und Überblasungen, an Coleman Hawkins, Ben Webster und Pharoah Sanders erinnernd. Wie besessen klingt Murrays Klage über das Leiden, das Unrecht, die Ohnmacht. Eine Linie, die sich fortsetzt bis zu ihm, bis heute.

„Sacred Ground“ von David Murray und Cassandra Wilson ist bei Sunny Moon erschienen.

David Murray auf Tour in Deutschland:
09. 11. 2007 Jazzforum, Bayreuth
11. 11. 2007 Festival Jazz-Transfer, Saarbrücken
14. 11. 2007 Stadthalle, Dinslaken
15. 11. 2007 NDR Studios, Hamburg
16. 11. 2007 NDR Studios, Hamburg
17. 11. 2007 Radialsystem, Berlin
18. 11. 2007 Sendesaal Radio Bremen

Weitere Beiträge aus der Kategorie JAZZ
Anthony Braxton: „Solo Willisau“ (Intakt 2007)
Simphiwe Dana: „The One Love Movement On Bantu Biko Street“ (Skip Records 2007)
Herbie Hancock: „River – The Joni Letters“ (Verve 2007)
Christian Scott: „Anthem“ (Concord 2007)
Yesterdays New Quintet: „Yesterdays Universe“ (Stones Throw Records 2007)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter zeit.de/musik

 

Alles auf Xhosa

Die Südafrikanerin Simphiwe Dana widmet ihr zweites Album dem Widerstand gegen die Apartheid und den drängenden Problemen in ihrer Heimat

Simphiwe Dana

Die erste Begegnung mit Simphiwe Dana, beim Capetown Jazzfestival 2005: Lange Schlangen hatten sich vor dem Konzertsaal gebildet. Die meisten Menschen mussten draußen bleiben, der Raum war zu klein. Die zu der Zeit 25-jährige Sängerin aus Gcuwa war gerade nach Johannesburg gezogen, ihr Debütalbum Zandisile hatte Platinstatus erreicht.

Enttäuscht saßen die Abgewiesenen in der Lobby vor einer Großbildleinwand, auf der das Konzert übertragen wurde. Junge Paare mit blassen Gesichtern im Neonlicht, vor sich Getränke in Plastikbechern. Dann die Durchsage: Es solle ein zweites Konzert geben, noch am selben Abend.

Nach dem zweiten Konzert wirkt sie kaum erschöpft. Sie spricht von den Problemen Südafrikas, vom schweren Erbe der Apartheid. Von Aids, Gewalt in Familien und auf den Straßen, von mangelnder Schulbildung und dem fehlenden Selbstvertrauen junger schwarzer Südafrikaner.

Die nächste Begegnung: In Berlin vor dem Brandenburger Tor, am One World Day im Sommer 2006. Ein Autounfall hatte sie fast das Leben gekostet, sie war im achten Monat schwanger. Ihrem Kind ist nichts passiert, doch der Unfall hat sie verändert. Sie möchte ihre Bekanntheit jetzt noch intensiver nutzen, um auf die Probleme Südafrikas aufmerksam zu machen.

Schon auf Zandisile hatte sie in ihrer Muttersprache Xhosa gesungen, um sich zu ihrer Identität zu bekennen. Sie distanzierte sich von Englisch und Afrikaans, den einzigen erlaubten Sprachen während der Apartheid. Auf ihrem zweiten Album The One Love Movement On Bantu Biko Street geht Simphiwe Dana nun einen Schritt weiter. Bereits der Titel stellt den Bezug zur schwarzen Widerstandsbewegung her.

Biko Street bezieht sich auf den Bürgerrechtler Steve Biko, der im Jahr 1977 im berüchtigten Police Room 619 zu Tode gefoltert wurde. Offiziell hieß es, er sei an den Folgen eines Hungerstreiks gestorben. „So viele Anführer unseres Kampfes haben keine Straße, die nach ihnen benannt ist“, sagt sie. Bantu ist ein Begriff, der im 19. Jahrhundert von einem weißen Anthropologen für die verschiedenen Völker Mittel- und Südafrikas verwendet wurde. The One Love Movement macht Simphiwe Danas Liebe zu Bob Marleys Musik und seinen politischen Texten deutlich. Sie ist der Meinung, dass es notwendig sei, sich selbst zu lieben und an die eigenen Fähigkeiten zu glauben, um etwas erschaffen zu können.

Sie spielt auch auf die Zukunft Südafrikas an. Eine Folge der Apartheid sei das Gefühl, aufgrund der Hautfarbe „nichts wert“ zu sein. Sie bemängelt ein fehlendes Bewusstsein für die Familie. Viele Väter verlassen ihre Familien, auch Simphiwe Danas eigener Vater. Ihre Mutter zog sie und ihre drei Geschwister alleine groß. In den Vororten Johannesburgs und Kapstadts werben Plakate für ein positives Väterbild, ein schwarzer Mann hält ein Neugeborenes in den Armen.

Ihre auffälligen Turbane und Hüte entwirft sie selbst, ihre Kleider lässt sie von südafrikanischen Designerinnen gestalten. Auch von ihrer Schwester Siphokazi Dana, die für das Label Stoned Cherrie arbeitet. Simphiwe Dana hat ein eigenes Studio, im Hinterhof ihres Hauses in Johannesburg. Die Wände und Böden sind mit Teppichen und Tüchern bedeckt. Hierhin zieht sie sich oft zurück.

Zwei Jahre hat sie an The One Love Movement On Bantu Biko Street gearbeitet. In Südafrika erschien es Anfang des Jahres und gewann den South African Music Award gleich vierfach. Die Arbeit an dem Album sei ein Prozess gewesen, ein Weg, sagt sie. Wie die Bantu Biko Street. Ein Weg der Erinnerung, der nach vorne weist, in die Zukunft.

„The One Love Movement On Bantu Biko Street“ von Simphiwe Dana ist als einfache CD und limitierte Doppel-CD bei Skip Records/Soulfood Music erschienen.

Weitere Beiträge aus der Kategorie JAZZ
Herbie Hancock: „River – The Joni Letters“ (Verve 2007)
Christian Scott: „Anthem“ (Concord 2007)
Yesterdays New Quintet: „Yesterdays Universe“ (Stones Throw Records 2007)
Charles Mingus: „At UCLA“ (Emarcy/Universal 2007)
Aki Takase & Silke Eberhard: „Ornette Coleman Anthology“ (Intakt Records 2007)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter zeit.de/musik

 

Klavierstimmers Tipp

Mit Supermagneten verändert Cor Fuhler die Klänge seines Instruments. Nun hat er auf diese Art ein ganzes Album improvisiert: „Stengam“.

Cor Fuhler Stengam

Magnetfelder überlagern sich und erzeugen Spannung, Dichte und Töne. Sie bewegen das Universum, bestimmen die Gezeiten und Strömungen, die geheimnisvollen Wellenmuster auf dem Meeresboden, walten zwischen den Polen, zwischen Nord und Süd. Metalladern ziehen sich rund um den Globus durch den Erdboden.

Magnetfelder sind auch das Thema des Pianisten und Klangforschers Cor Fuhler auf seinem Album Stengam. North-South heißt das erste Stück darauf, ein anderes heißt Ferrous, Eisen. Herzstück der Aufnahmen ist das Stück Stengam, das rückwärts geschriebene Wort für Magnets, Magnete. Rund einhundert davon verwendete Fuhler zur Verfremdung der Klänge seines Klaviers.

Seit über zwanzig Jahren experimentiert der 1964 geborene Holländer mit solchen Klangerweiterungen. Auf die Idee mit den Magneten brachte ihn sein Klavierstimmer. Die besonders starken Magnete, sogenannte Supermagnets, werden auf die Klaviersaiten gelegt, um ihre Schwingungseigenschaften zu verändern. Fuhler hat etwa einhundert dieser Magnete zu Hause, zehn bis zwanzig davon nimmt er zu seinen Konzerten mit. Die Schwingungen der angeschlagenen Saiten verlängert er mit Hilfe von E-Bows, speziellen Effektgeräten, die in den siebziger Jahren für Gitarren entwickelt wurden.

Stengam ist ein ungewöhnliches, experimentelles Album. Eingespielt wurde es rein akustisch, neben dem Klavier kamen nur E-Bows und Magneten zum Einsatz. Doch es klingt wie ein ganzes Ensemble aus Bläsern, Streichern und Perkussionisten, erweitert durch das Rauschen von Sinuswellen und Obertongesänge einsamer Bergmönche. Die Musik ist vollständig improvisiert, aus dem Moment entstanden. Viele der Klänge muten elektronisch an, es entstehen sparsame, düster urbane Klanglandschaften. Fuhler betont, dass die Klänge für ihn nichts Maschinelles haben, sondern etwas Leichtes. Und dass er es schätzt, wenn sich die Rezeption der Hörer von seiner eigenen unterscheidet.

Im Jahr 1995 nahm er sein erstes Solo-Album mit einem elektronisch präparierten Klavier auf. Er spielte unter anderem mit George Lewis, John Zorn und Roswell Rudd, seine eigenen Projekte sind ein Trio mit dem Schlagzeuger Han Bennink und dem Bassisten Wilbert de Joode, das Corkestra mit zwei Schlagzeugern und diversen Streichinstrumenten und das Cortet mit dem Saxofonisten John Butcher.

Fuhler ist Teil einer neuen Bewegung reduzierter improvisierter Musik, die geografisch weit verzweigt ist und sich über das Internet organisiert. Es gibt für die Musiker kaum regelmäßige Auftrittsorte, die Konzerte werden auf den musikereigenen Internetplattformen angekündigt oder auf kleinen Festivals für experimentelle Musik präsentiert.

Stengam hat er selbst aufgenommen und produziert. Sein Conundrum-Studio ist ein selbstgebauter Schuppen in seinem Garten in Amsterdam, gerade groß genug für den Flügel und zwei Computer. Viele Musiker aus der Szene würden heute so arbeiten, erzählt er. Das kleine französische Label Potlatch bietet seiner Musik nun ein Forum, auch wenn die Aufnahmen nur in kleinen Auflagen erscheinen. Für diese Musik gäbe es eben kaum Publikum, sagt er, sie werde vor allem von den Musikern selbst gehört.

„Stengam“ von Cor Fuhler ist als CD erschienen bei Potlatch Records

Weitere Beiträge aus der Kategorie JAZZ
Metheny/Mehldau: „Quartette“ (Nonesuch 2007)
Grunert: „Construction Kit“ (Hongkong Recordings 2007)
Thomas Quasthoff: „Watch What Happens“ (Deutsche Grammophon 2007)
Michael Wollny: „Hexentanz“ (ACT 2007)
Gil Evans: „The Complete Pacific Jazz Sessions“ (Blue Note 2006)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Harmoniesüchtig

Pat Metheny trifft das Brad Mehldau Trio: eine Erzählung aus perlenden Tönen in einer Filmmusik ohne Film

Ein Klang wie Sonnenstrahlen, die aus einer Wolke brechen. Wie eine Kaskade hauchzarter Tröpfchen, die sich aus dem feuchten Nebel eines Wasserfalls materialisieren. Eine Harfengitarre lässt die Töne über ihre 42 Saiten perlen; Pat Metheny hat dieses Instrument entworfen und sammelt dessen Klänge in der Komposition The Sound Of Water.
Auf dem aktuellen Album Quartet trifft Metheny auf das Trio Brad Mehldaus. Die Aufnahmen entstanden im Dezember 2005, ein Teil ist bereits im vergangenen Jahr als Duo-Album erschienen. Metheny/Mehldau war 2006 das erfolgreichste Jazzalbum bei iTunes. Jetzt sind auch die zu viert eingespielten Stücke zu hören.

Metheny erklärt, er habe seine Harfengitarre entwickelt, um zu erforschen, was sie als orchestrierendes Element leisten könne.Gerade im Zusammenspiel mit Brad Mehldau habe es sehr viel Raum für Klangexperimente gegeben. Die Harfengitarre habe sich da ganz natürlich eingefügt.

Auffallend sind die durchgängig sanften und weiträumigen Kompositionen. Metheny hat wie Brad Mehldau großes Interesse an Formen. Beiden sei das Musikschreiben ebenso wichtig wie das Spielen. Er versteht sich und seinen Partner vor allem als klangvolle Geschichtenerzähler.

Die Musik auf Quartet erzählt Geschichten, die wie Filmsequenzen vorbeiziehen. Metheny verehrt Ennio Morricone. Und so passen auf diese Platte auch die Stücke Silent Movie und Marta´s Theme, ein Ausschnitt aus Methenys Filmmusik Passagio Per Il Paradiso.

Leider hat die sonst sehr engagierte Plattenfirma Nonesuch den Plattentitel unglücklich gewählt, denn es gibt bereits ein Metheny-Album gleichen Namens aus dem Jahr 1996. Warum nach dem sehr konzentrierten Duo-Album noch die Quartett-Einspielungen veröffentlicht werden mussten, ist auf Anhieb nicht nachzuvollziehen: Der Bassist Larry Grenadier und der Schlagzeuger Jeff Ballard halten sich streng im Hintergrund. Längere Passagen intensiver Auseinandersetzungen finden sich im Quartett-Kontext nicht; auch schaffen die Hinzugekommenen kein Gegengewicht zur manchmal extremen Harmoniesucht der Melodien. Aber vielleicht wollten die Musiker gerade darauf hinaus. In der ruhigen Schönheit liegt die Kraft, im Klang des Wassers.

Hören Sie hier „The Sound Of Water“

„Quartet“ von Pat Metheny & Brad Mehldau ist erschienen bei Nonesuch

Lesen Sie im Interview, was Pat Metheny über Ennio Morricone, Barack Obama und die Avantgarde des Jazz erzählt.

Weitere Beiträge aus der Kategorie JAZZ
Grunert: „Construction Kit“ (Hongkong Recordings 2007)
Thomas Quasthoff: „Watch What Happens“ (Deutsche Grammophon 2007)
Michael Wollny: „Hexentanz“ (ACT 2007)
Gil Evans: „The Complete Pacific Jazz Sessions“ (Blue Note 2006)
Sonny Rollins: „Sonny, Please“ (Doxy 2007)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Weich gebettet

Der klassische Bassbariton Thomas Quasthoff betritt Neuland: Er hat mit dem Trompeter Till Brönner ein sehr vorsichtiges Jazz-Album aufgenommen

Quasthoff - Watch What Happens

Ruhig hebt sich die tiefe Stimme, schlägt einen weiten Bogen und schwebt für einen Moment dort, wo die Welt in ihrer Ganzheit sichtbar wird. Der Horizont ist aufgehoben, Grenzen überwunden. Ein flüchtiger Moment der Utopie. Dann sind die Begrenzungen wieder da, der enge Raum der Verletzlichkeit.

Der Bassbariton Thomas Quasthoff ist Contergan-geschädigt und mit dieser Behinderung durch sehr enge Räume gegangen, durch Räume der Zurückweisung, des Spottes und der Scham. Für sein erstes Jazz-Album hat er eine sehr persönliche Stückauswahl getroffen.

Neben They All Laughed von George und Ira Gershwin, Smile von Charlie Chaplin und In My Solitude von Duke Ellington singt er Ac-Cent-Tschu-Ate The Positive oder Stevie Wonders You And I. Seine Themen sind Einsamkeit, Freundschaft, Liebe und das Prinzip Hoffnung. Quasthoff hat Ernst Blochs Bücher gelesen und gelebt. Auch davon handelt die CD.

Gefühlswelten werden durchschritten, und doch lässt sich niemand wirklich fallen. Es ist für beide Seiten – den Sänger und auch seine Musiker – ein langsames Ertasten fremden Terrains. Der große gegenseitige Respekt, aber auch die Vorbehalte sind da. Wie wird einer wie Thomas Quasthoff dem Jazz begegnen? Zu häufig sind derartige Projekte gescheitert, an der Überheblichkeit, aber auch an der mangelnden Kompetenz vieler Klassiker gegenüber dem Jazz. Die freie, nicht notierte Musik hat kein Sicherheitsnetz.

Schon oft hat Thomas Quasthoff Jazz gesungen, zu Schulzeiten mit seinem Bruder und eigenen Bands, später auch auf großen Konzertbühnen. An eine Jazz-Studioaufnahme hat er sich bisher noch nicht gewagt. Das ist Neuland für ihn und seine Plattenfirma, die Deutsche Grammophon.

Der Jazz-Trompeter und Produzent Till Brönner ermutigte ihn. Brönner engagierte den Pianisten Alan Broadbent für die Aufnahme und die Arrangements. Broadbent, Teil von Charlie Hadens Quartet West und musikalischer Leiter Diana Kralls, ist bereits mit zwei Grammys für seine Arrangements ausgezeichnet worden. Früher spielte er mit Chet Baker. Er liebt den sanften West-Coast-Stil. Mit seinen sparsamen und flächigen Bearbeitungen der Standards aus dem Great American Songbook hat er Quasthoffs Album geprägt. Es ist die Ästhetik der Melancholie, der scharrenden Lack-Scheiben eines Grammophons, ein Stück eingefrorene Zeit.

Auch Brönner spielt professionell und weiß seine Klangfarben einzusetzen. Schön und eingängig sind seine rauchigen Akzente bei Smile. Doch sein Solo erstickt beinahe unter dem Streicherteppich des Deutschen Symphonie-Orchesters. Insgesamt folgt die Musik dem Gesang Quasthoffs, umspielt und akzentuiert ihn, ohne ihm eine Reibungsfläche zu bieten. Das ist schade, denn das hätte seine reiche und wandlungsfähige Stimme weiter herausfordern können.

Der Sänger wird weich gebettet von Till Brönner und Alan Broadbent. Auf der CD bleibt kein Raum zum Improvisieren, alles ist vorgegeben. Das hätte nicht sein müssen. Quasthoff ist, über Genregräben hinweg, vor allem ein Virtuose. Es wäre spannend zu hören gewesen, wie er mit den sich öffnenden Räumen umgeht, wie er die Grenzen überschreitet. So bleiben es nur Momente, die erahnen lassen, was noch kommen könnte.

„Watch What Happens“ von Thomas Quasthoff ist als CD erschienen bei Deutsche Grammophon

Hören Sie hier „Watch What Happens“

Lesen Sie hier, was Thomas Quasthoff im Interview zu seiner neuen Platte sagt.

Weitere Beiträge aus der Kategorie JAZZ
Michael Wollny: „Hexentanz“ (ACT 2007)
Gil Evans: „The Complete Pacific Jazz Sessions“ (Blue Note 2006)
Sonny Rollins: „Sonny, Please“ (Doxy 2007)
Schlippenbach Trio: „Winterreise“ (Psi Records 2006)
Grant Green: „Live At Club Mozambique“ (Blue Note 2006)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik