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Voodoo gegen Pocken

Im Benin ist das Orchestre Poly-Rythmo de Cotonou seit den Siebzigern bekannt. Nun ist seine Musik endlich auch in Europa zu haben. Unseren Autor hat sie zu einer kleinen Geschichte inspiriert

Cyril ächzt, als er sich am Friedhof Père Lachaise ins Taxi hievt. Nicht, weil der Rücken schmerzt. Die Sonne geht gerade auf – Cyril rekapituliert, wie viele Flaschen Wein er mit seinen Freunden Caroline und Orion in den letzten Stunden geleert hat. Immer wieder ist Orion in den Keller gegangen. Unzählige Etiketten, Namen, Regionen und Jahreszahlen hat er vorgelesen – Cyril hat sie allesamt vergessen. Ohnehin, wenn Orion im Raum ist, achtet er nur auf dessen linkes Auge. Den weißen Fleck in seiner Pupille, dessen Ursache Cyril nicht kennt. Er hat ihn nie gefragt. Weshalb eigentlich?

Es müssen wohl an die vierzehn Flaschen gewesen sein, denkt Cyril. Da wird ihm übel. Er schaut nach vorn. Sein Blick verliert sich im karierten Muster der Nackenstütze. Die Rauten beginnen, sich zu drehen, er schaut immer weiter hinein und versucht zum Mittelpunkt der Drehung zu blicken. Dort herrscht Ruhe, meint er.

James Brown erscheint vor seinem geistigen Auge. Eingehüllt in das Gewand eines Preisboxers tanzt er vor Wellblechhütten. Die Sonne brennt und wird von seinem Umhang reflektiert. Cyril ist, als stechen ihm Blitze in die Augen. Er steht nun neben einer großen Trommel, unentwegt tanzen Menschen um sie herum und schlagen darauf ein. „Unheimlich koordiniert“, stellt Cyril fest, der sich nicht einmal in seinem Wachtraum richtig auf den Beinen halten kann. Ein Gitarrist drischt mal die offenen Saiten seines Instruments, dann wieder spielt er filigrane Läufe. Die Musik pendelt zwischen Eleganz und Ausbruch. Bläser setzen Akzente, die Töne jubilieren, Rhythmen schleudern wie eine übervolle Waschmaschine.

Selbst der Boden scheint jetzt zu tanzen, Cyril verliert den Halt, greift um sich und wird von einem Fremden festgehalten. Die Sonne sticht nicht mehr und langsam erkennt er ein Gesicht. Es ist der Taxifahrer. „Monsieur – wir sind im Marais! Wo soll ich sie nun hinfahren?“, ruft er – „Pardon. Ich bin wohl eingeschlafen“, sagt Cyril – „Haben sie gut geträumt?“ – „Allerdings.“

Aus den Lautsprechern des Autoradios scheppert Musik. „Was hören wir da?“, fragt Cyril. „Musik aus Benin“, antwortet der Taxifahrer, „das ist das Orchestre Poly-Rythmo de Cotonou, meiner Heimatstadt.“ Er kommt ins Plaudern. „In Benin wurde die Vodoun Religion geboren, Sie kennen das als Voodoo. Dieser Rhythmus hier schützt die Menschen vor Pocken. Andere hört man zum Gedenken der Toten oder um eine unserer 250 Götter zu ehren.“ Cyril staunt. „Passen Sie mal auf: Zwischen 1970 und 1983 hat das Orchestre mehr als 500 Titel veröffentlicht. Hören Sie das? Wie elegant hier Elemente aus der traditionellen Musik meiner Heimat mit amerikanischem Funk und Soul verschmelzen? Hier bei Ihnen, Monsieur, gibt es das jetzt endlich auch zu hören, ein ganzes Album mit den besten Sachen, ganz hübsch aufgemacht. Wo soll ich sie nun hinbringen, Monsieur?“

„Ach, fahren Sie mich doch bitte einmal zum Flughafen Charles de Gaulle und dann wieder zurück“, sagt Cyril, „und lassen sie bitte die Musik laufen!“

„The Vodoun Effect 1972-1975: Funk & Sato from Benin’s Obscure Labels Vol. 1“ vom Orchestre Poly-Rythmo de Cotonou ist auf CD und Doppel-LP bei Analog Africa/Groove Attack erschienen. In ein paar Monaten soll dort ein zweites Album mit Musik der Band erscheinen.

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Kannste mir was pumpen?

Knappe Kassen und Lieder darüber gab’s schon immer. Aus aktuellem Anlass ist nun eine Kompilation zum Thema erschienen. Franz-Josef Strauß und Helmut Schmidt singen mit

Weihnachten ist die Zeit der Musikmischungen. Viele stecken sich spätjährlich ihre Lieblingsmusik zu, auf Kassette, CD oder USB-Stick. Und warum nicht mal ein aktuelles Thema aufgreifen? Was hatten wir denn in diesem Jahr? Fußball-EM und Olympia etwa, das klang aber beides nicht so gut. Und die Wahl Barack Obamas? Vollkommen durchgenudelt. Wie aber wäre es mit ein paar Liedern zur Finanzkrise? Das kleine Label Bear Family aus Hambergen in Schleswig-Holstein stöberte in verstaubten Archiven und veröffentlicht nun die CD zum Thema: Hilfe! Mein Geld ist weg! – Songs zur aktuellen Lage der knappen Kassen. Denn beides hat es schon immer gegeben, knappe Kassen und Lieder darüber.

Es scheppert aus dem Schellackarchiv: Die Kabarettisten Wilhelm Bendow und Paul Morgan plädieren auf Ratenzahlung: „Die sollen raten, wann wir bezahlen.“ „Ob wir sparen oder nicht, ist doch egal“, singt Fritz Hönig, „denn wir werden sowieso nicht mehr reich.“ Die CD knüpft am Börsenkrach des Jahres 1929 an, die meisten Stücke stammen aus den zwanziger und dreißiger Jahren. Und die jüngste Aufnahme ist auch schon zehn Jahre alt.

Die Qualität der Lieder ist den Archivaren beim Kompilieren nicht so wichtig, schließlich geht es nur ums Geld! Gunter Gabriel lässt geschmackliche Grenzen hinter sich und tönt: Boss, ich brauch mehr Geld. Nicht weniger unmusikalisch geht es zu, wenn Dolly S. & The Dollies den Rap Mir geht’s gut radebrechen. Vieles Stücke liegen nahe: Das Bruttosozialprodukt von Geier Sturzflug ist da ebenso unvermeidlich, wie der Ba-Ba-Ba-Banküberfall der Ersten Allgemeinen Verunsicherung. Und Helga Hahnemann trat mit Wo ist mein Jeld sicher schon in Achims Hitparade auf.

Doch kühn zu kompilieren lohnt auch. Vor allem die alten Schlager sind charmant und wortgewandt: „Früher kurrrrrbelte man seinen eignen Wagen an, und jetzt fährt man gratis vorrrne auf der Straßenbahn“, jault Willy Rosen, Nierentischhumor könnte man das nennen. Wen wundert’s, schließlich stammt die Zusammenstellung von Volker Kühn, einem Kenner und Protagonisten der Kleinkunstkultur. So sind neben den Gassenhauern eben auch die Wühlmäuse mit von der Partie und das Berliner Reichskabarett. Deren Stück Mein Geld ist weg! ist einer der unterhaltsamsten Beiträge, es schlägt die Brücke zwischen rasantem Kabarett und ansprechender Musik: „Was ist eine weinende Mutter, was ein sterbendes Reh, gegen den herzzerfetzenden Anblick eines Aktionärs, dessen Papiere neun Punkte gefallen sind.“

Für die Zusammenstellungen Politparade und Don Kohleone montierte Bear Family einst Reden von Politikern auf Easy-Listening-Musik. Franz Josef Strauß und zweimal Helmut Schmidt sind nun auch auf Hilfe! Mein Geld ist weg! zu hören. Helmut Schmidt redet vom Vertrauen in die Währung, vom Lernen und Leisten, dazu dudelt eine Kapelle. Das ist für sich betrachtet nur mäßig witzig, im Zusammenspiel mit den anderen Stücken aber entsteht ein kurioser Dialog. Die Antwort auf Schmidt gibt Heinz Erhardt: „Mensch, kannste mir was pumpen, dann lade ich dich ein.“

„Hilfe! Mein Geld ist weg! — Songs zur aktuellen Lage der knappen Kassen“ ist als CD bei Bear Family Records erschienen.

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Sagt denn keiner Nein?

Kanye West ist der Erfolg zu Kopf gestiegen: Auf seinem neuen Album „808’s & Heartbreak“ beklagt er sein Schicksal und wirft mit verbalem Exkrement um sich

Unbeirrbar hat sich Kanye West in die Riege der großen Popstars gearbeitet. Vom Hintergrund in den Vordergrund. Als HipHop-Produzent machte er sich einen Namen, schneiderte Jay Z, Talib Kweli und vielen anderen Rappern das klangliche Gewand. Schließlich wollte er ans Mikrofon, wegen seiner begrenzten Fähigkeiten wollte ihm aber zuerst niemand einen Plattenvertrag geben. Da wurde er noch unterschätzt. Seine Schwächen verwandelte er in Stärke. Im HipHop ist es üblich, vor allem darüber zu rappen, wie toll man rappen kann. West machte es umgekehrt, reimte über seine Unfähigkeit. Das kam gut an und hatte Charme. Sein Debütalbum College Dropout ging im Jahr 2004 förmlich durch die Decke.

Wer unterschätzt wird, hat ein Problem. Wer berühmt ist, ein viel größeres. Mit dem Ruhm kommen die Schulterklopfer, die Ja-Sager. Es hätte jemand „Nein“ rufen sollen, als Kanye, der Unbeirrbare, sich auf den Irrpfad begab. Seine Entschlossenheit ist nun Hybris, sein Charme Weinerlichkeit. Bei Preisverleihungen zetert er, wenn er leer ausgeht, und ständig redet er von seinem Platz in den Geschichtsbüchern. Als „Stimme seiner Generation“ würde er erinnert werden, sagte er jüngst in einem Interview. Nicht wolle, sondern würde.

Ein schweres Jahr liegt hinter Kanye West. Erst starb seine Mutter, dann verließ ihn seine Freundin. Und man hat schon vieles gehört von verlassenen Männern: Dass sie verbittern, mit Suizid drohen, die Wohnung verwüsten und Lügen über die Ex verbreiten. Das alles ist schlimm, aber muss er gleich sein ganzes Album 808’s & Heartbreak als diffusen Rachefeldzug anlegen? Ist da wirklich niemand, der „Nein“ sagt?

Zweiundfünfzig Minuten und neun Sekunden beweint er sein Schicksal, bewirft die Verflossene mit verbalem Exkrement. Selbstsucht, angereichert – besser angeärmert? – mit banalen Gedanken über das Leben. Dass Geld allein es nicht bringt, dass man ja ein ganz normaler Typ sein will, und schau mal, was ich mir für tolle Klamotten, Sportwagen und Häuser gekauft habe! Der Narziss singt die Pinocchio Story: „I turn on the TV and see me and see nothing.“ Der Psychiater sagt: „Rette sich, wer kann! Der Mann kann sein eigenes Spiegelbild nicht ertragen.“ Dass das künstlerische Genie seine Erfindungen aus den dunklen Tiefen von Melancholie und Wahnsinn schöpft, ist eine gängige wie falsche Annahme. Kanye West ist ihr erlegen. Die jüngste Kreativitätsforschung hat sie zum Glück widerlegt.

Auf diesem Album gerät die Musik zum Nebenschauplatz. Wirklich übel ist sie nicht. Die Single Love Lockdown nimmt eine überraschende Wendung, als afrikanische Trommeln das kalte, digitale Klangbild überlagern. Heartless liegt ein beschwingter Rhythmus zugrunde, die Melodie hüpft gleich mit. Doch da ist auch viel Internetapotheke, Musik nach Hitrezept: Hier Beatles-Streicher im Stück RoboCop, dort kitschige Midi-Glocken, die das Weihnachtsgeschäft einläuten. Da Kanye West nicht mehr so viel rappen will, aber auch nicht singen kann, bedient er sich des Auto-Tuners – auch bekannt als Cher-Effekt. Wenn man geschickt auf diesen Studioeffekt hinkomponiert überschlägt sich die Stimme und klingt android. Wohldosiert ist das ein lustiger Effekt, aber über die Dauer einer Stunde nicht zu ertragen. Oder wie der amerikanische Komiker Stephen Colbert sagt: „Wie kann Kanye West die Stimme einer Generation sein, wenn er nicht einmal die Stimme seines eigenen Albums ist?“

„808’s & Heartbreak“ von Kanye West ist auf CD bei Def Jam/Universal erschienen.

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Parfüm ehelicht Schweiß

Die Musik der Bamboos stimmt den Hörer selig: Sie swingt tanzbar und hat den Amy-Winehouse-Faktor. Das Album „Side-Stepper“ bringt jede Weihnachtsfeier zum Kochen

Auf Betriebsfeiern fühlt sich der DJ besonders allein. Die Kumpels dürfen nicht hin, die Freundin hat Besseres zu tun. In Clubs und Bars herrschen Musikbegeisterung und Tanzwut – Betriebsfeiern hingegen beherrscht die Arbeit, sie bestimmt die Unterhaltungen der Gäste. Und wenn der DJ keinen Spaß hat, verkommt seine Kunst zur Dienstleistung. Immerhin ist diese in aller Regel gut bezahlt.

Jochen macht das schon lange. Bei der Weihnachtsfeier dieses Heizöllieferanten tritt er nun bereits das dritte Jahr in Folge an die Plattenteller. Ein Schulfreund hatte ihn damals gebucht. Doch nun ist er weit weg, auf einer Bohrinsel. Jochen gibt sein Bestes. Gute Musik will er spielen, nicht die herkömmlichen Fetenknaller von der 3CD-Box aus der Tankstelle. Und doch kann er es keinem recht machen: Die Sekretärin möchte die Bee Gees hören, der Chef „markige Gewinnermusik – Rwooack!“, der Azubi wünscht sich HipHop, die Abteilung Mahnwesen will Amy Winehouse. Mit Depeche Mode kann Jochen nicht dienen, die mag er einfach nicht.

Auf Betriebsfeiern spaltet jede Musik die Menge der Tanzenden. Entweder ist sie nicht gut, oder nicht banal genug. Was des einen Po zum Wackeln bringt, kommt dem anderen zu den Ohren heraus. Jochen begreift: Seine Aufgabe besteht heute darin, die Gemüter zu beschwichtigen. Glücklich wird hier niemand. Die ideale Musik für Betriebsfeiern muss erst erfunden werden. Muss?

Die Erfindung der Idealen Musik Für Betriebsfeiern, kurz IMFB, verdanken wir einem Zufall. Denn Jochen hält es nicht aus bei dieser Feier. Um 23 Uhr schleicht er sich durch den Hinterausgang und türmt im Taxi. Auf seine Gage wird er verzichten müssen. Weil sich niemand für ihn interessiert, legt er eine CD ein und lässt sie durchlaufen: Side-Stepper von The Bamboos, einer australischen Funkband. Jochen hat sie noch gar nicht gehört. Er hätte es besser tun sollen.

Denn ausgerechnet diese CD erfüllt alle Wünsche und eint die Anwesenden. Die Musik der Bamboos macht glückselig, IMFB bis zum Umfallen. Sie swingt, hat Soul, ist tanzbar und sie hat das, was der Musikindustrie das größte Ding seit dem Cher-Effekt ist: den Amy-Winehouse-Faktor. Sie klingt alt und aktuell zugleich. Jochen ist noch nicht zu Hause, da kocht die Party. Der Azubi tanzt mit der Nudel aus der Buchhaltung, der Chef hat das Buffet mit seinem Hinterteil abgeräumt und selbst der Prokurist frohlockt. Auf dieser Feier gibt es keine Hierarchien mehr, kein lässig oder verkrampft, auf diesem Tanzboden sind alle gleich. Und sie benehmen sich entsprechend.

Wenn die Stimmen der Gastsängerinnen Megan Washington und Kylie Auldist ertönen, werden die Hüften obszön gedreht, Parfüm ehelicht Schweiß. Wenn die Bamboos es ohne Sängerin versuchen, blüht ihre Spielfreude. Und wenn ein Brite namens TY rappt, freut sich nicht nur der Azubi.

Ein Jahr später wundert sich Jochen, dass der Heizöllieferant ihn wieder als DJ für die Weihnachtsfeier engagiert. Er hätte besser bleiben sollen.

„Side-Stepper“ von The Bamboos ist auf CD und LP erschienen bei Tru Though/Groove Attack.

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Lebenszeichen eines Wattestäbchens

Einst prägte der Rapper Q-Tip den Klang von A Tribe Called Quest. Endlich erlebt er seine „Renaissance“: zurückgelehnt, elegant und näselnd wie eh und je

„Ich hasse HipHop. Außer A Tribe Called Quest.“

Freunde des HipHop haben diesen Satz oft gehört und sich geärgert. Gab es doch immer guten Rap, nicht nur von dieser Gruppe. Dennoch ist klar: Von ATCQ ging eine Magie aus. Etwas, dass das englische Wörtchen vibe so schön beschreibt. Die Stimmung, Atmosphäre oder Aura ihrer ersten drei Alben. Sie waren herausragend — auf der Oberfläche verschieden, im Kern wie eins. ATCQ schlugen Brücken, machten schwer Vermittelbares zu Konsens. Sie brachen mit dem harten Ghetto-Rap, in ihren Texten ging es friedlich zu.

Das hört man schon am Namen des Bandleaders Q-Tip: Watte statt Waffe. Sie zerschnitten Jazz, Disco, Soul und legten Neues darüber. Das Ergebnis ging sanft in die Ohren und Hüften. Für’s Gehirn gab es geistreiche Texte – der Testosteron-Haushalt des Hörers blieb auf Normalwert. Ihre Leichtigkeit fand Millionen Hörer. 1998 lösten sie sich auf. Ihre Musik war noch gut, doch der vibe verloren gegangen. Er lässt sich nicht nachbauen – er ist da, oder eben nicht.

Zeit für ein Solo. Ein Jahr nach der Trennung veröffentlichte Q-Tip sein Einzeldebüt Amplified und machte etwas anderes. Düster geriet, was er und der Produzent J Dilla schufen – scharfkantige Beats, Höhen und Bässe, keine Mitte. Kein vibe-of-the-tribe, sondern ein Album von Künstlern, die sich nicht reproduzieren mögen. Mit solchen kennt die Musikindustrie keine Gnade. Nachfolger von Amplified wurden angekündigt aber nie veröffentlicht. Q-Tips Plattenbosse sahen in ihm kein Potenzial. Aus dem Brückenbauer wurde ein Risikofaktor. Bootlegs hielten die treuesten Fans auf dem Laufenden. Bald zehn Jahre ist es her, dass ein Lebenszeichen des Wattestäbchens erklungen ist.

Nun endlich. Und gleich der Titel lässt verlauten, worum es geht: Q-Tip beschwört The Renaissance. Denn HipHopper denken in Epochen: Old School, New School, Next School. Dabei ist diese Musikrichtung gerade erst den Zwanzigern entwachsen! Die Wiedergeburt altertümlicher Kultur in ihrem Einfluss auf die Moderne – das käme ihm zupass, dem Rapper der alten Schule. Nur klingen diese Worte nach Dinosaurierpark, hören wir lieber die Musik.

Sie ist frisch, sie swingt, und sie erinnert an den HipHop der frühen Neunziger. Seien wir ehrlich, sie klingt nach A Tribe Called Quest. Bei Won’t Trade spielt uns ein Piano schwindelig, der Rhythmus macht süchtig. Einmal wirft der Jazzgitarrist Kurt Rosenwinkle entfremdete Tupfer dahin, die den Rhythmus frei interpretieren und verschieben. We Fight/We Love ist so ein Stück, das zeigt: Im Zusammenspiel aus Gegenläufigem entsteht Vielschichtigkeit. Und die Aura des Zurückgelehnten verleiht Eleganz.

Der Gastsänger Raphael Saadiq setzt glasklare Töne gegen Q-Tips Näseln. Der darf sich nie die Polypen entfernen lassen, sonst verliert seine Stimme das Besondere. Norah Jones steht bisweilen knietief im Milchschaum. Im Stück Life Is Better singt sie über einen harten Funkbeat und zieht einen Fuß heraus. Q-Tip positioniert seine prominenten Gäste gezielt. Jürgen Klinsmann würde das eine Win-Win-Situation nennen.

Die Renaissance ist also keine verkrampfte Zusammenkunft der alten Garde. Sie lebt von ihren Stärken, klingt dicht und dabei leicht. Wen stört, dass sie aus der Zeit gefallen ist? Nennen wir es gelungenen Konservatismus.

„The Renaissance“ von Q-Tip ist als CD, Doppel-LP und Download bei Motown Universal erschienen

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Utopien im Nebel

David Grubbs‘ Musik hat eine poetische und eine politische Ebene. Er besingt die Künstlerexistenz, wirft viele Fragen auf. Und lässt sie unbeantwortet

Im Grenzgewässer zwischen Romantik und Realität schwimmt ein Boot. Töne schallen von dort herüber. Holz knirscht, ein Mast quietscht, eine Stimme verneigt sich vor der Dämmerung. Der Tag gehört der Utopie. Doch die Tage werden kürzer – hat die Utopie eine Zukunft?

Das ist eine der Fragen, die David Grubbs‘ neues Album An Optimist Notes The Dusk dem Hörer stellen könnte. Grubbs‘ Sprache ist ein offenes Englisch, frei assoziiert, frei interpretierbar. Und seine Musik ist weitläufig wie die See.

Grubbs nimmt die Gitarre, stellt hin und wieder ein Schlagzeug dazu. Eine Trompete schallt im Einklang mit den Saiten, doch nur für einen kurzen, verhaltenen Moment. David Grubbs‘ Stimme strahlt Wärme aus. Manchmal klingen seine Stücke wie die Abstraktionen eines Seemannsliedes. Die Musik des Titelstücks biegt sich wie im Sturm, so als versuche sie mit aller Macht, Oberwasser zu behalten. Da wird deutlich: Sie hat eine ästhetische und poetische, aber auch eine politische Ebene.

Ist sie das leidige Thema amerikanischer Intelligenzia in der Bush-Ära? Lebt man als Künstler innerhalb einer Gesellschaft oder ist man vielmehr Teil eines globalen Dorfes, bewohnt von Gleichgesinnten? Und wird diese Beschaulichkeit nicht zur Scheinwelt, spätestens wenn man die eigenen Kinder zur Schule bringt?

Aufgewachsen ist David Grubbs in Kentucky, bereits mit vierzehn Jahren erregte er Aufsehen mit seiner Punkband Squirrel Bait. Mit den nachfolgenden Projekten Bastro und Gastr del Sol dekonstruierte er Pop und Rock. Als aus Chicago der Post-Rock hinüberschwappte, war Grubbs einer der wichtigsten Klangarchitekten der Bewegung. Im Jahr 1999 zog er nach New York und wurde Professor für Radio- und Klangkunst. Regelmäßig schrieb er Musikkritiken für die Süddeutsche Zeitung. Sein eigenes Label Blue Chopsticks ist eine Schnittstelle zwischen bildender Kunst, Musik und Literatur.

An Optimist Notes The Dusk wirft viele Fragen auf. Deren Antworten liefert Grubbs nicht. Sie liegen im grauen Nebel, in den uns das letzte Stück der Platte führt. The Not-So-Distant ist eine rein elektronische Komposition, deren synthetische Klänge sich so langsam entwickeln, dass Zeit und Raum keine Rolle mehr spielen. Zwölf Minuten, die all die menschliche Wärme von Gitarre und Stimme vergessen machen.

„An Optimist Notes The Dusk“ von David Grubbs ist auf CD und LP bei Drag City/Rough Trade erschienen.

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Ego schmeckt toll

Zwanzig Jahre hat Grace Jones kein Album veröffentlicht. Mit sechzig wagt sie einen neuen Anlauf. „Hurricane“ ist ein eitles Werk. Wie gut das klingt!

So kann man sie sich wirklich nicht vorstellen. Grace Jones steht am Fließband. In Arbeiterkluft mit Haarnetz. Keine Party, null Glamour. Das ist das Szenario im Heftchen, das ihrer neuen Platte beiliegt. In Plastik gegossene Körperteile liegen auf dem Fließband, am Ende der Produktionskette sind das Hunderte – wenn nicht tausend – Klone. Grace Jones reproduziert sich – klingt die Musik auch so?

Unbedingt!

Donnerte Horst Hrubesch dieser Tage wieder Kopfbälle zwischen die Pfosten, stiege Mohammed Ali wieder in den Ring – es käme uns mächtig exotisch vor. Zwanzig Jahre hat Grace Jones nun kein Album mehr veröffentlicht, mit sechzig wagt sie einen neuen Anlauf. So etwas geht meistens schief, die einen biedern sich dem Zeitgeist an, die anderen dokumentieren den Stillstand.

Grace Jones macht es besser, sie besinnt sich auf ihre Stärken. Das fiel ihr noch nie schwer. Hurricane ist ein eitles Werk, von Egozentrik durchdrungen: „Grace Jones is in the house …“ tönt eine Ansage, Jubel verhallt. Oder hat sie ihn verschluckt? Und wie schmeckt ihre Eitelkeit?

Lecker!

Ihre Platten aus den frühen Achtzigern klingen auch heute noch frisch. Zweieinhalb Dekaden nach Alben wie Night Clubbing und Warm Leatherette zaubert Grace Jones auf Basis des Erfolgsrezept ein neues Süppchen. Wie damals köchelt sie zum Rhythmus von Sly & Robbie. Die beiden sollen in ihrer Karriere etwa 200.000 Lieder eingespielt haben – da sind diese neun weiteren nur ein kleiner Gefallen! Sie bearbeiten Schlagzeug und Bass angenehm routiniert, eine innere Ruhe federt jeden Ton, jeden Taktschlag. Ihre Rhythmen sind luftig, man möchte ihnen stundenlang lauschen. Sie sind Grace Jones’ narrativem Stil eine geniale Grundlage.

Und da sind viele Gäste. Tony Allen ist dabei, der Erfinder des Afrobeat, Adam Green, die Thereminvirtuosin Pamelia Kurstin. Brian Eno spendet Geist, einem Stück leiht Tricky sein Krächzen. In dieser Runde entsteht düsterer Pop, der glänzt und funkelt.

Die Diva selbst bleibt eine Überzeichnung. Spielt mit Kannibalismen, sonnt sich im Ego. Nur einmal verbrennt sie sich: Amazing Grace hätte sie nicht singen müssen. Schon gar nicht zum Breitbandwabern des Synthesizers. Aber was sind schon dreißig Sekunden in einer hermetischen Dreiviertelstunde.

Lesen Sie hier die Rezension zum Album aus der ZEIT Nr. 46

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Ein Reim am Ende des Tunnels

Der britische Rapper Roots Manuva ist in den vergangenen Jahren in Vergessenheit geraten. Selbst in der U-Bahn wird er nicht mehr erkannt. „Slime & Reason“ könnte das nun ändern

Roots Manuva Slime & Reason

„Ey du da – hast du mal ein paar Pennies für mich? Meine Frau kriegt ’n Baby und ich muss echt dringend ins Krankenhaus.“

„Klar.“

„Hey Mann, kenn ich dich nicht irgendwoher?“

„Bruder, ich bin auf dieser Insel der erfolgreichste Rapper.“

„Willst du mich verarschen, Opa? Dizzee Rascal und Kano sind die erfolgreichsten Rapper! Wie heißt du denn?“

„Roots Manuva, Bruder. Du kannst mich Rodney nennen, oder einfach Roots. Und ich geb‘ zu, dass meine Erfolge etwas zurückliegen.“

„Roots Malawi? Nie gehört, Mann. Was machst du hier überhaupt in der Londoner U-Bahn? Ich dachte, Rapper fahren dicke Schlitten. Gib mir mal ’ne Kippe und erzähl, machst du noch Musik?“

„Stell erstmal das Gedudel von deinem Handy ab, das macht mich verrückt! OK. Ist zwar schon sieben Jahre her, aber du kennst bestimmt meinen Hit Witness [Er singt] ‚Witness the fitness, the Cruffiton liveth, one hope, one quest.'“

„Der ist von dir? Nicht schlecht…“

„Danke Bruder. Danach ging’s leider bergab mit den Erfolgen. Ich hab‘ ein paar Alben gemacht, hatte auch immer ’ne Menge Fans, so kam immerhin genug bei rum.“

„OK, und warum fährst du dann U-Bahn?“

„Naja, weißt du, der Luxus lähmt einen, mir ist da einiges zu Kopf gestiegen. Ich hab‘ gerade eine neue Platte aufgenommen und bin immer mit der Bahn ins Studio gefahren, hab‘ mich um alles selbst gekümmert. Ich sag dir, Bruder, das hat meiner Musik gut getan.“

„Muss dann ja eine Wahnsinnsscheibe geworden sein…?“

„Um ehrlich zu sein: War nicht einfach, die Platte zu machen. Es hat sich viel getan im britischen HipHop. Es gibt jetzt Grime und Dubstep. Die haben alle bei mir geklaut, aber das wäre albern, würd‘ ich jetzt auf diese flotten Beats reimen. Ich hab‘ einfach angefangen, wieder meine ganz eigene Musik zu machen und viele grüne Stücke aufzunehmen.“

„Grüne Stücke? Spinnst du?“

„Nein, ich bin doch Synästhet. Unspektakuläre Lieder hab‘ ich gemacht, die sich nicht aufdrängen und bei jedem Hören wachsen. Mit alten Synthesizern und jeder Menge Gesang. Hör’s dir an, Mann, das ist HipHop, der wie eine Plattform funktioniert. Ich hab‘ mich gefühlt wie früher bei den Parties unserer Soundsystems, da wurde echt alles gespielt und gemixt. Da ging es nicht um Abgrenzung, sondern um Offenheit, wir haben zu Reggae, HipHop, Calypso und Rock’n’Roll getanzt.“

„Machst du etwa Weltmusik, Mann?“

„Nix da. Obwohl, Großbritannien ist ja voll von kulturellen Einflüssen. Ich denke, die Leute halten meine Musik genau deshalb für britisch, weil sie offen ist.“

[Roots Manuva holt eine Thermoskanne und zwei Plastikbecher hervor] – „Willst du ’nen Kaffee, Bruder?“

„Ja, Mann, danke. Erzähl weiter!“

„Musst du nicht ins Krankenhaus? Zu deiner Frau?“

„Stimmt, ich muss hier aussteigen!“

„Du bist ein schlechter Lügner.“

„Und du bist wohl ein guter Musiker. Ich kauf mir gleich dein neues Album – wie heißt du noch? Roots Ma…?“

„…NUUUUVA!“

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