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Schuhkauf hilft immer

Mit Elektropop und Stilbewusstsein zum Stimmungshoch: Soffy O. macht Musik für gebeutelte Großstädterinnen. Auf „The Beauty Of It“ singt sie vom verkorksten Gefühlsleben und bittet zum Tanz

Cover Soffy O

Es ist Samstagmittag. Ein paar Sonnenstrahlen schlängeln sich zwischen Fensterscheibe und Gardinen in Charlottes Bett und kitzeln ihre Wimpern. Augen auf, auch wenn es schwer fällt nach dieser durchtanzten Nacht. Draußen ist der Tag, ist das Leben, sind die Leute! Schnell den Schlaf weggewaschen, dann hinein in die Röhrenjeans, das Streifenshirt und Muttis abgetretene Schluppenstiefel. Rot auf die Lippen, Kajal auf die Lider, den Haarreif in die wilden Pony-Strähnen geschoben, Lederblouson und Täschchen geschnappt und aus der Tür. Ach, den iPod nicht vergessen!

Keinen Schritt mehr tut sie ohne ihr neues Lieblingsalbum: The Beauty Of It von Soffy O. Energisch, mädchenhaft, selbstbewusst – mit diesen Klängen im Ohr wird der rhythmisch wippende Marsch an den Milchkaffeebars entlang über den belebten Szenelaufsteg zum vollen Erfolg. Blicke sind garantiert. Hallo hier, Küsschen-Küsschen da. Manchmal auch Küsschen-Küsschen-Küsschen.

Bestens gelaunt und ein bisschen verwegen reserviert entert sie den angesagten Klamottenladen. Konsum wird helfen, dass die gute Stimmung bleibt. Ein kurzer Plausch mit der Verkäuferin über die neue Schuh- und Hosenlieferung, dann ein Besuch beim diensthabenden Boutiquen-DJ. Er legt gerade Soffy O. auf. Die spiele er hier oft, sie passe so gut zur Mode in den Regalen: Club-Kultur gemischt mit Sounds der 60er und 80er. Er freue er sich besonders, wenn mal jemand nachfragt. Soffy O. heiße eigentlich Sophia Larsson Ocklind und komme aus Schweden. In Deutschland habe sie schon 2001 einen großen Hit mit den Berliner Technojungs von Tok Tok gehabt, weiß er. Das Album habe Mocky mit ihr produziert. Und auf Don’t Go Away singe er auch.

Dazu kann Charlotte prima die Sonderangebote durchstöbern. Zum nächsten Lied Haven’t Had Much findet sie einen breiten Ledergürtel mit großer Metallschnalle, die passenden Cowboystiefel warten schon zu Hause. Everybody’s Darling empfiehlt einen gepunkteten Petticoat und rote Ballerina-Schühchen. Das kühle Let Me Care bleibt ganz in Schwarz, aber auf einer Seite schulterfrei. Während You Push Me läuft, probiert sie ein Oberteil mit Fledermausärmeln, Neon-Gelb mit pinkfarbenen Blitzen drauf. Vor dem Spiegel in der Umkleidekabine übt sie aufregende Tanzposen für den kommenden Disco-Abend ein, Fun Fun Fun.

Soffy O. spricht Großstadtmädchen wie Charlotte aus der zerwühlten Seele. Ihre naive, starke Stimme erinnert mal an eine generalüberholte Janet Jackson und mal an das knatternde Timbre von Louise Rhodes, der Sängerin des englischen Triphop-Duos Lamb. Sophia Ocklinds Pop ist mal fröhlich, mal düster, mal süßlich, mal herb, mal sehr organisch und dann wieder elektronisch. Das mögen auch die Jungs. Und um die und das ganze verkorkste Gefühlsleben geht es in den Texten: Machtspielchen, Rachegelüste, Unsicherheiten, Trennungen, Erniedrigungen, Sehnsucht. Da läuft die Kreditkarte heiß – Schuhkauf hilft immer.

„The Beauty Of It“ von Soffy O. ist als CD erschienen bei Virgin/EMI

Hören Sie hier „You Push Me“

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I’m From Barcelona: „Let Me Introduce My Friends“ (Labels 2006)
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Nico: „Chelsea Girl“ (Polydor 1968)
Depeche Mode: „Violator“ (Mute 1990)
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Der Duft von Umkleidekabinen

Mithilfe ziemlich vieler Freunde nahm Emanuel Lundgren ein überkandideltes Album voller vielstimmiger Na-Na-Na-, Ba-Ba-Ba- und La-La-La-Chöre auf. Selbst der Bürgermeister von Barcelona kennt die singende Freundesschar von I’m From Barcelona mittlerweile

Der amerikanische Filmemacher John Waters hatte vor Jahren eine schöne Idee. Für seinen Film Polyester belebte er das „Geruchskino“ wieder. Das Publikum erhielt Rubbelkarten, die zu einzelnen Szenen die entsprechenden Düfte verströmten. Odorama-Verfahren nannte man das. Würde es einen solchen Geruchsstreifen für das Debütalbum der schwedischen Band I’m From Barcelona geben, röche der vermutlich etwas verklärt nach Sommerwiese, Baumhaus und einer Schülerumkleidekabine in den 70ern.

Emanuel, Philip, Micke, Johan, Martin, Johan, Erik, David, Christofer, Daniel, Mattias, Tobias, Emma, Frida, Mathias, Jonas, David, Anna, Maria, Olof, Marcus, Cornelia, Tina, Julie, Rikard, Henrik, Jacob, Fredrik und Johan sind dem Pennäler-Alter längst entwachsen. Auf Let Me Introduce My Friends überführen Songschreiber Emanuel Lundgren und seine 28 Mitstreiter aus der Kleinstadt Jönköping ihren jugendlichen Übermut ins Erwachsenenalter. Warum zwei Freunde den Chor einsingen lassen, wenn 26 weitere vor der Türe stehen? Warum nur Gitarre, Bass und Schlagzeug zur Begleitung benutzen, wenn es doch in der Aula der Schule noch Glockenspiel, Piano, Klarinette, Banjo, Harmonika, Trompete, Ukulele, Flöte, Saxofon und diese leicht verstimmte Orgel gibt? Gut gelaunte Zeilen wie „Wir greifen nach den Sternen / Wir greifen nach deinem Herzen“ (We’re From Barcelona) geben die Richtung vor. Da sind Liebeslieder, die den überdrehten Gestus eines Freiluft-Schülerkonzerts in sich tragen; oder Schunkelnummern über Nischenthemen wie Briefmarkensammeln und Baumhäuser. Mit Rock’n’Roll hat das nichts gemein.

I’m From Barcelona startete nicht als ambitioniertes Musikprojekt, sondern als Hobbybeschäftigung eines Verliebten. Ein Scherz unter Freunden. „Wir haben diese Reise im Sommer 2005 begonnen. Niemand von uns wusste, dass wir eine Band werden würden“, heißt es im Beiheft zur CD. Der erste Auftritt der Gruppe im August 2005 hätte auch ihr letzter sein sollen. Es kam anders. Der FC Barcelona hat die Single We’re From Barcelona zur Hymne auserkoren und so kennt mittlerweile selbst der Bürgermeister der spanischen Stadt die singende Freundesschar. Eine skurrile Pointe; vor allem, weil der Bandname sich nicht auf die Stadt, sondern auf die englische Comedy-Serie Fawlty Towers bezieht. Der englisch radebrechende Kellner Manuel entschuldigt jeden seiner Fehltritte mit den Worten „I’m from Barcelona“.

Entschuldigen muss sich die Band längst nicht mehr: Die kindliche Anarchie der Stücke steckt an. Große Botschaften gibt es nicht zu entschlüsseln. Ein Popsong ist ein Popsong, eine Melodie eine Melodie. Zumindest einen Sommer lang werden diese vielstimmigen Na-Na-Na-, Ba-Ba-Ba- und La-La-La-Chöre im Ohr bleiben. Das musikalische Klassenfoto ist geschossen, der Winter noch fern. Nicht nur in Jönköping darf einen Augenblick lang gelächelt werden!

„Let Me Introduce My Friends“ von I’m From Barcelona ist als LP und CD erschienen bei Labels

Hören Sie hier „Collection Of Stamps“

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Ist das nicht der Typ von…?

Dass man ihn einen Tausendsassa nennt, daran ist Erlend Øye selbst schuld. Ob mit den Kings Of Convenience oder als DJ, stets gelingen ihm Überraschungen. Sein neuester Streich: The Whitest Boy Alive

Cover Whitest Boy Alive

Man kann sich das vielleicht so vorstellen: Vier Jungs daddeln in einem Studio in Berlin mit allerlei elektronischem Gerät vor sich hin. Sie drehen an ihren Knöpfchen und Rädchen, lassen die Synthesizer und Sampler knarren und fiepsen, bis sie heiß laufen, und grienen sich einen über die kuriosen Computerklänge, die sie erzeugen. So geht das erst ein paar Wochen, dann Monate, es kommt aber kaum Zählbares dabei raus. Sie beginnen sich zu langweilen.

Eines schönen Tages bringt einer von ihnen Three Imaginary Boys von The Cure mit ins Studio, alle sind begeistert. Sie hören die Platte immer und immer wieder, begeistern sich für die Direktheit der Stücke und die rohe Aufnahme. Beim nächsten Mal bringt ein anderer ein paar Schätze aus seiner Sammlung von Soul-Platten mit, wieder lauschen alle sprachlos. Ein paar Tage darauf ergeht es einer Anthologie der Gruppe Camper Van Beethoven nicht anders.

Als sie sich danach wieder treffen, wissen alle, was zu tun ist. Ohne weiter drüber nachzudenken, tragen sie ihre elektronischen Spielzeuge in den Keller und kramen die alten, verstaubten Instrumente aus dunklen Ecken. Ein Bass ist dabei, eine Gitarre, ein elektromechanisches Klavier und ein Schlagzeug. Sie fangen sofort an zu spielen, langsam gewöhnen sich die Finger wieder an die Saiten. Sie wollen The Cure und den Soul und vieles andere mehr. Das Aufnahmegerät läuft die ganze Zeit, abends sind alle beeindruckt davon, wie gut das klingt. So frisch.

Plötzlich geht alles ganz schnell. Die Vier nehmen alles live auf, spielen immer gemeinsam. Die Stücke entstehen fast von alleine. Ungeschliffen sind sie, manche flott, manche ruhig. Sie verströmen Wärme und Echtheit. Erlend Øye singt dazu mal wirr-verträumte, mal romantisch-süße und manchmal trocken-spöttische Texte. „Patience is just another word for getting old“, singt er und „I’m done with you, I’m selling my heart“. Solche Dinge.

Immer wieder müssen sie ihr Spiel unterbrechen, weil einer lacht. Manchmal über die Texte, ein anderes Mal, weil es so viel Spaß macht zu spielen. Meistens aber, weil sich einer verspielt. Marcin Öz zupft stoisch seinen Bass, von Stück zu Stück stellt er seinen Verstärker lauter. Sebastian Maschat spielt ein gelassenes Schlagzeug, während Daniel Nentwig seinem Rhodes-Klavier warme bis drollige Klänge entlockt. Erlend Øye spielt die Gitarre und lässt immer mal ein kleines Solo in Zeitlupentempo einfließen. Und jeden Abend loben die anderen ihn für seine schöne, sanfte Stimme.

Bald haben die Jungs zehn einfache, schöne Lieder beieinander und scherzen darüber, sie zu veröffentlichen. „Wir gründen eine eigene Plattenfirma und nennen die Platte Dreams, hihi, das wird niemand verstehen“, witzelt einer. Sie sind so mächtig stolz auf ihre handgemachten Töne, dass sie den Plan schließlich in die Tat umsetzen. Ganz am Ende, beim Mischen, lassen sie Lacher und blödsinniges Gequatsche an den Liedanfängen und -enden einfach drin. Die Verspieler sowieso. Und haben diebische Freude dran.

Schade eigentlich, dass es auch ganz anders gewesen sein könnte.

„Dreams“ von The Whitest Boy Alive ist als CD erschienen bei Bubbles

Hören Sie hier „Burning“

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Tu die Träume in die Flasche

Über die Jahre (13): Im August widmet sich der Tonträger Platten aus vergangenen Tagen. Zum Abschluss: Vor fast vier Dekaden sang Nico über das „Chelsea Girl“. Bis heute ist sie ein Vexierbild der modernen Frau. Ihr Schwanken zwischen Exzess und Melancholie kann noch jeden Hörer aus der Fassung bringen

Cover Nico

Die junge Christa Päffgen, in Paris lebend, hat zwischenzeitlich einen zwanzig Jahre älteren griechischen Freund namens Nico Papatakis. Er ist Filmemacher beziehungsweise Nachtklubbesitzer. Sie zieht zu ihm, nennt sich nach ihm. Päffgen war ihr zu piefig.

Nico kommt zur Welt 1938 in Köln und 1940 in Budapest, denn über Nico gibt es immer zwei Geschichten. Sie wächst auf in Lübbenau bei Berlin im Schatten ihres „wahnsinnigen, faschistischen Vaters“, wie im New Musical Express zu lesen ist, und als Halbwaise, „deren Vater im Konzentrationslager umkam, als sie zwei Jahre alt war“, was Frau im Spiegel schreibt.

Nico stirbt an einem Sommertag 1988 auf Ibiza an einem Hitzschlag, mittags, auf einer Radtour. Und sie stirbt, ebendort, an einem Gehirnschlag, als sie Haschisch holen will.

Nico liebt, und Nico liebt nicht. Sie will doch nur spielen mit Brian Jones von den Stones, mit Jimmy Page von Led Zep, mit Jim Morrison von den Doors, mit Tim Buckley, Tim Hardin, Iggy Pop, Jackson Browne, Bob Dylan und Leonard Cohen. Einen Sohn hat sie von Alain Delon, aber Alain Delon hat keinen Sohn mit ihr. Sie ist einsachtzig, knochig, tiefe Stimme, die Sinne vernebelnd. Sie ist schwarz, schwarz, schwarz und so weiß und deutsch wie nur was. Sie singt auf der ersten Velvet-Underground-Platte, der mit der Banane – „einem sehr vergnüglichen Album über Tod, Drogenabhängigkeit und Sadomasochismus“, findet die New York Times Book Review.

Sie gibt 1200 Konzerte in sieben Jahren. Sie lebt in Paris und New York und Rom und legt sich schließlich in Manchester in einer Einzimmerwohnung mit Spritzen auf eine Matratze. Japan jubelt ihr zu, Frankreich trauert um sie. Sie singt die drei Strophen des Deutschlandlieds und widmet sie Andreas Baader. Sie ernährt ihren Kleinen mit Kartoffelchips und, nachdem er trotzdem groß wird, mit Heroin. Als sie stirbt, küsst er ihre Stirn, dann geht er nach draußen und kotzt hinter ein Auto.

Wenn der Kölner Sender RTL im Jahre 2008 nach Deutz zieht, soll der Platz vor dem Funkhaus nach ihr benannt werden, „Christa-Päffgen-Platz.“ Das fordert Kasper König, der Mann vom Museum Ludwig. Ob das was wird? „Muss die Bezirksvertretung entscheiden“, schreibt die Lokalzeitung.

Entdeckt wird Nico mit fünfzehn, beim Bummeln auf dem Ku’damm. Coco Chanel begeistert sich für ihre makellose Erscheinung. Fellini holt sie in La Dolce Vita vor die Kamera. „Eine schöne Frau, die nicht viel sagte, selbst wenn sie einmal lange sprach“, schreibt die Süddeutsche Zeitung. „Sie wollte hässlich sein.“ Jetzt lächelt Nico mit schwarzen Zähnen: „Der einzige Grund, warum ich mich nicht erschieße, ist, dass ich wirklich einzigartig bin.“

„Heroin hat ein Deutscher zur Jahrhundertwende erfunden“, recherchiert die englische Presse: „Vielleicht konnte Nico der Vergangenheit wirklich nicht entkommen.“ Der französische Philosoph Jean Baudrillard vermutet, sie „schien nur deshalb so schön, weil sie von einer absolut gespielten Weiblichkeit war. Und es lag etwas Enttäuschendes darin, zu erfahren, dass sie ein falscher Transvestit war, eine echte Frau, die den Transvestiten spielte“.

Andy Warhol dreht in einem fiktiven Hotel The Chelsea Girls, da wohnt sie auf der Leinwand und isst einen Schokoriegel. Susanne Ofteringer dreht die Hommage Nico-Icon, da ist sie schon tot. Lou Reed, der sie hasste und liebte, sieht sich das gleich zweimal an. John Cale, der ihr Lied um Lied schrieb, sagt: „Sie war eine tolle Frau. Ich vermisse sie.“

Vergessen wir das alles für eine magische Dreiviertelstunde. Legen wir Nico auf, Chelsea Girl. Ihre erste Platte nach der Banane, von 1968. Man hört sie zweimal, dreimal, dann hört man sie für immer, auch ohne Gerät. Diese Traurigkeit, diese Lust, dieses Ganz-bei-sich- und Ganz-außer-sich-sein.

„Wrap your troubles in dreams“, singt Nico, „Send them all away // Put them in a bottle // And across the sea they stay.“

„Chelsea Girl“ von Nico ist erhältlich bei Polydor/Universal

Hören Sie hier einen Ausschnitt aus „Wrap Your Troubles In Dreams“

Damit endet unsere alten Tonträgern gewidmete Sommerserie. Künftig wollen wir ins laufende Programm gelegentlich Platten einstreuen, die es über die Jahre immer noch wert sind, gehört zu werden.

Weitere Beiträge aus der Serie ÜBER DIE JAHRE
(12) Byrds: „Sweetheart Of The Rodeo“ (1968)
(11) Sender Freie Rakete: „Keine gute Frau“ (2005)
(10) Herbie Hancock: „Sextant“ (1973)
(9) Depeche Mode: „Violator“ (1990)
(8) Stevie Wonder: „Music Of My Mind“ (1972)
(7) Tim Hardin: „1“ (1966)
(6) Cpt. Kirk &.: „Reformhölle“ (1992)
(5) Chico Buarque: „Construção“ (1971)
(4) The Mothers of Invention: „Absolutely Free“ (1967)
(3) Soweto Kinch: „Conversations With The Unseen“ (2003)
(2) Syd Barrett: „The Madcap Laughs“ (1970)
(1) Fehlfarben: „Monarchie und Alltag“ (1980)

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Lass mich in deine Welt, Dave!

Über die Jahre (9): Im August widmet sich der Tonträger Platten aus vergangenen Tagen. Heute: 1990 überraschten Depeche Mode mit behutsamem Pluckern und sanften Aquarelltönen. Dabei ging es auch auf „Violator“ nur um Sex

Cover Violator

Boris mochte Depeche Mode, ich U2. Er hielt People Are People für einen großartigen Song, ich With Or Without You. Wir verbrachten viel Zeit damit, uns gegenseitig die Platten unserer Lieblingsgruppen vorzuspielen und sie zu diskutieren. Mir waren Depeche Mode zu künstlich, zu banal, ihn störte der Predigergestus von Bono, seine Lieder waren ihm zu aufgesetzt. Ich konnte nicht anders, als Depeche Mode zu hassen. Wir schenkten uns gegenseitig T-Shirts und Poster, Platten und Aufkleber der jeweils ungeliebten Gruppe, um uns zu ärgern. 1990 überreichte ich ihm die grausame U2-Single When Love Comes To Town zum fünfzehnten Geburtstag. Im Gegenzug drückte er mir einige Tage darauf eine Kassette mit einer selbst gemalten Rose in die Hand, Violator von Depeche Mode.

Ich hörte das Album zum ersten Mal auf dem langen Weg in den Südfrankreich-Urlaub. Vorne meine Eltern, auf der Rückbank ich mit meinem Walkman. Ich hörte sie immer und immer wieder, die neun Stücke nahmen mich gefangen. Das anstrengend Epische war verschwunden, der Hall, das Glatte, Fassadenhafte. Violator kam mir rau und düster vor, es traf meine Stimmung. Ich hatte das Gefühl, mitgenommen zu werden. „Let me show you the world in my eyes“ singt Dave Gahan, und ich hatte das Gefühl, wir könnten in der selben Welt leben. Einer Welt voller Verletzlichkeit und Introvertiertheit.

Damals war Techno groß, Violator klang wie das Gegenteil. Die Synthesizer pluckerten zart und behutsam vor einem in sanften Aquarelltönen ausgemalten Hintergrund. Das Schlagzeug klang – einmal abgesehen von dem organischen Stück Personal Jesus – nur angehaucht. Dazwischen tummelten sich unzählige kaum definierbare Geräuschfragmente und Klangskizzen, der Gesang ist zurückhaltend und getragen.

Violator war mein Warum geht es mir so dreckig? Es definierte mein Verhältnis zu meiner Umwelt, legitimierte meine Ängste und Hoffnungen. Die Zeilen wurden zu Schlagworten, Phrasen, in die ich mich zurückziehen konnte. „I’m waiting for the night to fall, when everything is bearable“, ich konnte das so sehr nachvollziehen. All meinen pubertären Weltschmerz fand ich wieder, „There’s a pain, a famine in your heart, an aching to be free“. „Can’t you understand?“ in Blue Dress wurde eine Art Schlachtruf für mich gegen diese Welt, denn genau das war ja das Problem.

Enjoy The Silence wurde ein Hit, mir bedeuteten andere Stücke mehr. Waiting For The Night und Halo, Sweetest Perfection und Blue Dress. Die vielen sexuellen Konnotationen der Stücke sind mir erst später richtig bewusst geworden, heute staune ich darüber, denn viel offensichtlicher kann man nicht immer und immer wieder über das Gleiche singen. Mein Englisch war offenbar glücklicherweise so schlecht, dass es mir die Begeisterung für Violator nicht nehmen konnte. Denn das war ja nun gar nicht mein Thema, ich hatte genug mit mir selbst zu tun. Beinahe zwei Jahre lang blieb Violator meine Lieblingsplatte, auch noch, als Boris mir kurze Zeit darauf von Achtung Baby von U2 vorschwärmte. Ich fand das künstlich und banal.

Bis heute ist Violator das einzige wirklich großartige Album von Depeche Mode. Es klingt wie ein Bericht aus dem tiefen Loch, in das sie nach der Music For The Masses-Tour vom Gipfel der Popularität gefallen waren. Danach kämpften Depeche Mode weiter, vornehmlich gegen die Drogen, die Ideenlosigkeit und die Erwartungen. In der fünfundzwanzigjährigen Bandgeschichte ist Violator leider ein Flackern geblieben. Ein sehr helles immerhin.

„Violator“ von Depeche Mode ist erhältlich bei Mute, kürzlich wurde es gemeinsam mit dem ersten Album „Speak and Spell“ und „Music For The Masses“ in hervorragendem Klang und mit Bonusstücken wiederveröffenlicht

Hören Sie einen Ausschnitt aus „Waiting For The Night“

Sehen Sie hier Bilder vom Konzert der Band am 15.1.2006 in Hamburg

Weitere Beiträge aus der Serie ÜBER DIE JAHRE
(8) Stevie Wonder: „Music Of My Mind“ (1972)
(7) Tim Hardin: „1“ (1966)
(6) Cpt. Kirk &.: „Reformhölle“ (1992)
(5) Chico Buarque: „Construção“ (1971)
(4) The Mothers of Invention: „Absolutely Free“ (1967)
(3) Soweto Kinch: „Conversations With The Unseen“ (2003)
(2) Syd Barrett: „The Madcap Laughs“ (1970)
(1) Fehlfarben: „Monarchie und Alltag“ (1980)

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Der Mann vor dem Fliederbusch

Über die Jahre (7): Im August widmet sich der Tonträger Platten aus vergangenen Tagen. Heute: Tim Hardins erstes Album von 1966, eine Sammlung sparsamer und schüchterner Lieder

Cover Tim Hardin 1

Als Tim Hardin 1980 an seiner Heroinsucht starb, war ich gerade ein paar Monate alt. Seine wenigen Platten waren längst aus den Musikläden verschwunden, auf Flohmärkten gelandet oder in den Sammlungen eitler Liebhaber. Unbezahlbar waren sie allemal. Seine Lieder haben andere bekannt gemacht. Rod Stewart zum Beispiel, Scott Walker, Joan Baez und Bobby Darin. Über 20 Jahre vergingen, ehe ich Tim Hardins Musik kennen lernte. Auf einem Umweg.

Der Umweg hieß Christine. Wir fuhren morgens manchmal gemeinsam zur Universität mit Christines altem braunen Golf. Wir ließen Kassetten ins Radio schnappen und drehten laut auf, damit sie gegen das Fahrtgeräusch ankamen. Eines nebligen Frühlingsmorgens wartete Christine mit offener Tür an der Straße. Don’t Make Promises von Tim Hardins Album 1 drang aus den Türlautsprechern. Von einer rauschenden Chromkassette. Rückblickend ganz schön unwürdig.

Aber er nahm mich gefangen.

Vielleicht war es seine Beharrlichkeit. Sein zuweilen zittriges Tremolo. Seine sparsam angeschlagene Gitarre. Die Art, wie er „It will never happen again“ singt. Man muss es ihm glauben. Tim Hardin singt sparsam betextete Lieder. Oft so leise, als ob er niemanden stören wolle. Als singe er nur für sich. Man darf sich aber dazusetzen. Im Auto schwiegen wir uns durch die zwölf Lieder. Ich sah aus dem Fenster und wunderte mich, wie kurz das Album ist. Kaum ein Lied ist länger als zwei Minuten.

Die Lieder auf dem Album hat Tim Hardin in einem Zeitraum von 19641966 geschrieben. Eine Mischung aus Demos und neueren Aufnahmen. Hardins musikalische Entwicklung lässt sich deutlich erkennen. Die Einflüsse reichen von Blues über hemdsärmeligen Country bis zu zaghaften Rockballaden. Bei Ain’t Gonna Do Without swingt es sogar.

In diese kleine Welt von Tim Hardin finden nicht viele Instrumente Einlass. Eine schüchterne Mundharmonika, ein fernes Klavier. Sie wattieren seine Lieder lediglich, selten stehen sie im Vordergrund, wie die melodramatischen Streicher in einem seiner bekanntesten Songs Hang On To A Dream. Der einzige Song, in dem so etwas wie Kitsch aufkommt. Hardin war selten anwesend, wenn die Instrumente eingespielt wurden, sondern meistens betrunken oder anderweitig betäubt. Als er sein Album zum ersten Mal hörte, soll er einen Wutanfall bekommen haben.

Von den Streichern hörte ich im Auto nichts. Erst später, als Christine mir die Schallplatte vorspielte. Ein junger Mann in leuchtend rotem Hemd sitzt vor einem Fliederbusch und blickt mich an. Mit traurigen Augen. Ein paar Strähnen sind ihm aus dem Scheitel entwischt. Ob ich mir die Platte leihen könnte, fragte ich Christine. Sie lachte mich aus.

Das gleiche Lachen schallt mir heute oft entgegen, wenn ich in Plattenläden nach „der ersten von Tim Hardin“ frage. Immerhin schenkte Christine mir die Kassette.

„1“ von Tim Hardin ist erhältlich auf der bei Universal erschienenen Doppel-CD „Hang On To A Dream – The Verve Recordings“. Darauf vollständig enthalten sind auch seine beiden Alben „2“ und „4“

Hören Sie hier „Reason To Believe“

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(6) Cpt. Kirk &.: „Reformhölle“ (1992)
(5) Chico Buarque: „Construção“ (1971)
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Der traurigste Samba der Musikgeschichte

Über die Jahre (5): Im August widmet sich der Tonträger Platten aus vergangenen Tagen. Heute: Chico Buarque, der 1971 Samba und Bossa nutzte, um pointierte Kritik an Brasiliens Militärdiktatur zu üben

Cover Chico Buarque

Es ist 1971, Chico Buarque ist gerade aus dem italienischen Exil in seine Heimat Brasilien zurückgekehrt. Die Bedingungen unter der Militärdiktatur haben sich verschlechtert. Offene Kritik ist unmöglich, es herrscht die Zensur. Unter diesem Eindruck nimmt Chico Buarque ein Album auf, das deutlich düsterer ist, als seine vier Vorgänger: Construção.

Seite eins ist dominiert von komplizierten und dichten Texten und ausladenden, raffinierten Arrangements in Moll. In Cotidiano (Alltag) klingt Buarque resigniert. Der Song schildert aus der Perspektive eines Arbeiters die Monotonie des Alltags. Leitthema sind die wiederkehrenden Küsse seiner Frau, die gleichzeitig einen Hinweis auf ihr ebenso monotones Leben geben und ihre verzweifelten Versuche, auszubrechen. Am Ende wird die erste Strophe wiederholt, alles beginnt von vorne. Es folgt Desalento, der wohl traurigste Samba der Musikgeschichte. Stand der Samba in Buarques Werk bisher für Gemeinschaft und Lebensfreude, kommuniziert er hier nur Isolation und Absturz.

Das Titelstück Construção handelt vom Tod eines Bauarbeiters. Begleitet von bedrohlich wirbelnden Streicherfiguren und brutalen Bläsersätzen ist es eine Kritik an den schlechten Arbeitsverhältnissen im Land. Während der Tod lediglich eine Irritation im Ablauf des Alltags verursacht, bringt er die Strophen Buarques nachhaltig durcheinander. Am Ende des Stücks steht die Wiederholung von Textteilen aus dem Anfangsstück Deus Lhe Pague (Gott vergelt’s ihnen), eine poetisch verschlüsselte Anklage der Passivität der Menschen unter der Militärdiktatur. Dieses Wiederaufgreifen von Themen verleiht der ersten Seite des Albums einen Suite-artigen Zusammenhang. Dagegen nimmt sich die zweite Seite fast konventionell aus. Die Bossa- und Sambastrukturen werden aber auch hier von subtilen Dissonanzen und unterschwelliger Resignation im Vortrag unterwandert.

Construção ist ein Meilenstein der Popmusik, der Pet Sounds von den Beach Boys in seinem harmonischen Einfallsreichtum und der Raffinesse der Arrangements mindestens ebenbürtig ist. Lyrisch hingegen ist die Platte überlegen. Die pointierte Kritik wird in eine poetische, von gewitzten Wortspielen durchzogene Sprache transformiert, die den konkreten Anlass transzendiert.

Das Klischee von der ungebrochenen Leichtigkeit und Unbeschwertheit der zugrunde liegenden Formen wie Samba und Bossa Nova ist ein für alle mal zerstört. Und doch ist Construção nie erdrückend schwermütig. Man kann die zahlreichen Subtexte auch ignorieren – zumal wenn man des Portugiesischen nicht mächtig ist – und sich am musikalischen Reichtum berauschen.

„Construção“ von Chico Buarque ist als CD erhältlich bei Emarcy/Universal

Hören Sie hier „Desalento“

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(4) The Mothers of Invention: „Absolutely Free“ (1967)
(3) Soweto Kinch: „Conversations With The Unseen“ (2003)
(2) Syd Barrett: „The Madcap Laughs“ (1970)
(1) Fehlfarben: „Monarchie und Alltag“ (1980)

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Aus der Welt gefallen

Über die Jahre (2): Im August widmet sich der Tonträger Platten aus vergangenen Tagen. Heute: „The Madcap Laughs“, das zerfaserte und wunderschöne Solodebüt des Pink Floyd-Gründers Syd Barrett

Cover Syd Barrett

„Das Portrait eines Zusammenbruchs“ sei es, schrieb ein Kritiker bei Erscheinen des Albums. 1970 war das. Pink Floyd, die Band, die Barrett einst gegründet hatte, wurde damals zum Stadion-Großereignis, ohne ihn. Und Barrett? Ein kurzes Aufflackern, zwei Soloalben, psychedelische Drogen. Er verschwand. Ein Mythos, allenfalls vergleichbar mit zwei anderen Rock’n’Roll-Opfern der sechziger Jahre: Brian Wilson und Roky Erickson. Barrett ist der mysteriöseste unter ihnen. Von seiner kurzen Phase im Rampenlicht hat er sich nie erholt. Mit Rockstar-Romantik hat das nichts zu tun. Im Juli 2006 ist er mit 60 Jahren gestorben.

Zeitlos klingt das, was uns von ihm musikalisch erhalten geblieben ist und was er mit Mitte 20 schrieb. Sein Solodebüt The Madcap Laughs ist minimalistisch. Es konzentriert in 13 Miniaturen Pop und Poesie, Licht und Schatten. Selbst in den vollkommen zerfaserten Momenten, wenn er ansetzt, abbricht, noch einmal beginnt, erstrahlt die Seele dieser Stücke. Es gibt keinen Schutzwall mehr zwischen ihm und den assoziativen Texten, zwischen Gefühl und Melodie. Die Songs sind das Abbild einer aus den Fugen geratenen Innenwelt. Seine Stimme wirkt entrückt. Ob es auch seine Seele ist?

Es mag bessere Gitarristen und Sänger in den späten Sechzigern gegeben haben, an Ausdruck und Innovationskraft können es wenige mit Barrett aufnehmen. Die repetitiven, verzerrten Gitarrenlinien, rückwärts abgespielten Tonspuren und kindlich-spielerischen Melodien haben die Zeit überdauert. Die Nachwirkungen sind noch heute zu spüren: bei der Weird Folk Szene um Devendra Banhart, bei Julian Cope und seinem entrückten Album Fried, bei Robin Hitchcock und zahllosen Vertretern der britischen Popschule, von Damon Albarn bis hin zu The Kooks.

Wer Dark Globe, Feel oder If It’s In You heute hört, spürt noch das Flackern, das Barrett heimgesucht haben muss. Golden Hair, zwei zarte Minuten mit den Worten des Dichters James Joyce, und das psychedelisch experimentierfreudige No Good Trying wirken gefestigter. Late Night, das letzte Stück des Albums, ist eines der schönsten Liebeslieder überhaupt – Sehnsucht im Schlepptau. „Tief drinnen fühle ich mich ganz allein und unwirklich“, singt Barrett darin, „und die Art, wie du küsst, wird immer etwas ganz Besonderes für mich sein“. Es ist der Schlusspunkt einer psychedelischen Pop-Reise, die Barrett wenig später im Haus seiner Mutter in Cambridge nur noch als einen Bestandteil seiner Vergangenheit betrachtete.

Es führte kein Weg zurück. Nicht zu Pink Floyd, nicht zur Popmusik. Gegärtnert haben soll er in den Jahren danach und große Gemälde angefertigt, die er anschließend zerstörte. „I know where Syd Barrett lives“, sang Dan Treacy mit seiner Band Television Personalities in den frühen Achtzigern. Es ist nicht mehr länger Cambridge…

„The Madcap Laughs“ von Syd Barrett ist als CD erhältlich bei Capitol/EMI

Hören Sie hier einen Ausschnitt aus „No Good Trying“

Weitere Beiträge aus der Serie ÜBER DIE JAHRE
(1) Fehlfarben: „Monarchie und Alltag“ (1980)

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Sommerliches Zwitschern

In ihrer Heimat Argentinien ist Juana Molina als Fernsehkomikerin bekannt. Was sie noch kann, zeigt ihr nach vorn weisendes Album „Son“

Cover Molina

Sie hätte gefälligen Latino-Pop machen und die Bekanntheit ihres Gesichts im lateinamerikanischen Raum nutzen können. Aber Juana Molina ist nie den einfachen Weg gegangen. Sie versteckt ihr Gesicht auf den Plattenhüllen und unterläuft die simple Schönheit ihrer Songs mit Strategien der Avantgarde.

Als Kind hatte sie Gitarrenstunden bei Freunden ihres Vaters: Vinicius De Moraes und Chico Buarque, zwei Größen der brasilianischen Popmusik. Ihre Karriere begann sie beim Fernsehen, die familienfreundliche Comedy-Serie Juana und ihre Schwestern war im spanischsprachigen Teil Lateinamerikas ein Erfolg. In der Show sang sie ihre ersten Lieder. 1996 schied sie, schwanger, aus der Show aus und nahm ihr erstes, recht akustisches Album Rara auf. Die folgenden Alben, Segundo und Tres Cosas, etablierten ihre Mischung aus akustischen und elektronischen Elementen.

Das neue Album Son knüpft da an, ist aber komplexer. Die Lieder stehen weiterhin in der Tradition des raffinierten brasilianischen Pops ihrer Gitarrenlehrer, die melodische Gefälligkeit mit gewagten Arrangements und unaufdringlichem Experimentierwillen verknüpft. Sie sind zart, eingängig und kommen in der Regel ohne Refrain aus. Wenn es dann doch mal einen gibt, wird die Struktur gebrochen, indem sich bei der Wiederholung der Text ändert.

Die akustischen Elemente vermischt Juana Molina mit elektronischen Produktionsweisen. Sie verfremdet Vogelzwitschern und ihre Stimme, setzt die Rhythmen subtil gegen den Gesang. Immer wieder befragt sie die Leichtigkeit der einzelnen Elemente, ohne jemals penetrant zu werden. Die Wirkung ist entspannend, hypnotisierend, etwas unheimlich. Oft geraten die Lieder ins Schwimmen, es ist, als könne man dem Boden unter den Füßen nicht trauen.

Neue, aufrüttelnde Musik muss nicht laut sein. Dieser experimentelle Pop hat das Zeug zur Sommerplatte.

„Son“ von Juana Molina ist als LP und CD erschienen bei Domino Records

Hören Sie hier „La Verdad“

Weitere Stücke finden Sie auf der Website der Plattenfirma

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Junge Bräute und ehrliche Arbeit

Midlake singen bewegende Lieder vom einfachen Leben. Ihr Album „The Trials Of Van Occupanther“ erinnert an den Folk-Rock der späten siebziger Jahre

Cover Midlake

Was ist das denn? Schon wieder ein neues Album von Fleetwood Mac? Oder sind es Crosby, Stills, Nash & Young? Die Siebziger klingen durch: Ein gehaltvolles Piano und eine schmutzige Rockgitarre geben den Rhythmus vor, dazu kommt melodiöser mehrstimmiger Gesang über Bergsteiger und Steinmetze, Zedernholz und undichte Dächer. Die Stimme allerdings klingt weder nach Neil Young oder Steven Stills noch nach Fleetwoods Stevie Nicks.

Roscoe heißt das berauschende Stück und eröffnet das zweite Album der Band Midlake, The Trials Of Van Occupanther. Ein Album, das in seiner Melodiösität und seiner Direktheit, seiner Instrumentierung und Stimmung an vielen Stellen Erinnerungen weckt. Ein junger Mann namens Tim Smith hat das Album mit seiner Band in seinem Haus in Denton, Texas aufgenommen.

Dem flotten Roscoe folgt Bandits, eine halbakustische Ballade. Vorgetragen ohne Schmalz, verfeinert von einer dezente Flöte, zeigt es die Qualität von Midlake auf: Die Lieder sind getragen, aber nicht pathetisch; sie sind gefühlvoll und beschwingt, aber nicht banal.

Spätestens beim fünften Stück, Young Bride, ist klar, dass die späten Siebziger und der so genannte Adult Oriented Rock ganz und gar nicht die einzigen Bezugspunkte im musikalischen Universum Midlakes sind. Mit jedem Hören fallen mehr schrammelige Brit-Pop-Gitarren, psychedelisches Synthesizer-Gedaddel und andere Störgeräusche auf. Young Bride mit seinem stampfenden Rhythmus könnte mit etwas Glück der Schlüssel zum Erfolg von Midlake werden. Vorausgesetzt, die Indie-Diskos und Radiosender springen auf diesen Ohrwurm an.

Eine Stärke der Band sind die poetischen Texte. In Bandits stellt Smith die Frage, „Did you ever want to be overrun by bandits, to hand over all of your things and start over new“. Und erzählt dann, wie sie ausgeraubt wurden, als sie sich auf der Jagd befanden, wie sie einen Hasen und einen Ochsen fingen, und dass der Raub für sie gar kein Verlust gewesen sei, weil sie mit den beiden Tieren einfach ganz von vorne anfangen konnten. Nie steuern die Texte auf dramatische Enden oder Pointen zu, sie beschreiben das einfache, meist ländliche Leben. Sie erzählen von Wünschen und Träumen – „Bring me a day full of honest work, and a roof that never leaks, I’ll be satisfied“, heißt es in Head Home. In Young Bride ist die eben noch junge Braut plötzlich eine alte Frau, in It Covers The Hillsides geht es um den Kampf gegen den Hunger, wenn der erste Schnee fällt. We Gathered In Spring zieht ein ernüchterndes Fazit unter die Ausweglosigkeit des Landlebens, „I’m tired of being here on the hill, where I’m sure to find my last meal“.

Man könnte das alles als feine Gesellschaftskritik deuten, als Darstellung der Welt jener Menschen, denen Alltag heißt, ums Überleben zu kämpfen. Vielleicht aber wäre das eine Überinterpretation eines Werkes, das ohne Zynismus von der Einfachheit menschlicher Existenz erzählt.

„The Trials Of Van Occupanther“ von Midlake ist als LP und CD erschienen bei Bella Union.

Hören Sie hier „Young Bride“

Bei myspace kann man sich außerdem das Stück „Roscoe“ anhören

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