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Schaumkrone der Retrowelle

Kitty, Daisy & Lewis, die Rock’n’Roll-Geschwister aus London: In einer exklusiven Akustiksession zeigen sie, wie simpel und druckvoll ihr Blues funktioniert.

Wir trafen die drei hinter der Bühne der Berliner Columbiahalle. Hier geht’s zum Artikel.

 

Zutiefst gestrig, wie schön

Das Trio Kitty, Daisy & Lewis meint es ernst mit seiner Rock’n’Roll-Nostalgie. Auf seinem zweiten Album „Smoking in Heaven“ harmonieren Seelenruhe und Sehnsucht.

© G. Durham

Stoizismus ist die Praxis individueller Selbstkontrolle innerhalb universeller Ordnungen. Echte Stoiker bringen die Beherrschung ihrer Gefühle fast zur Perfektion, was sie dieser Tage zu Antipoden falscher Nostalgiker macht. Weiter„Zutiefst gestrig, wie schön“

 

Friedhofswärter des Rock’n’Roll

Die Band Mona aus Nashville bedient sich historischer Genre-Klischees, um daraus ihr Debütalbum zusammenzusetzen. Kann man öde finden oder euphorisch mitreißend.

© Universal Music

Es gibt Menschen, die halten Mona für die langweiligste Band der Welt. Dann gibt es andere, die halten Mona für vielleicht nicht eben die alleraufregendste Band der Welt, aber doch Weiter„Friedhofswärter des Rock’n’Roll“

 

Elvis war nicht der Erste

Der Rock’n’Roll ist ein Bastard, der viele Eltern hat. Die Kompilation „Roll Your Moneymaker“ stellt sie vor, die frühen Stars der klanggewordenen Brunft

Ach, die Legende. Die erste Rock’n’Roll-Single, heißt es, sei Rocket 88 von Ike Turner gewesen, im Jahr 1951 erschienen (aus Vertragsgründen unter anderem Namen). Dabei hatten bereits während des Zweiten Weltkriegs kleine Labels ihre Chance gewittert: Der Markt stagnierte, die schon älteren weißen Geschäftsleute an den Rudern der Plattenfirmen steuerten einen sicheren Kurs mitten im seichten Strom. Unabhängige Produzenten gründelten derweil in sumpfigen Untiefen und stürmischen Strudelzonen, mischten elektrische Gitarren und Saxofone in traditionelle Ensembles, verstärkten die Schlagzeuge oder ließen Klänge durch Abflussrohre laufen, um Echoeffekte zu erzeugen. Sun Records, Chess, King, Specialty und Okeh hießen die Labels. Ihr Publikum war, mehrheitlich jedenfalls, schwarz.

Der frühe Rock’n’Roll – die Petticoats und bonbonlackierte Straßenkreuzer der Sechziger lassen es immer wieder vergessen – wurzelte tief in der afroamerikanischen Kultur, in der mündlichen Überlieferung einer just aus der Sklaverei befreiten Volksgruppe – mit anspielungsreichen, zotigen Texten, körperbetonten Tänzen und handfesten Rhythmen. Den Weißen sei diese Musik zu bedrohlich gewesen, zu sexuell, führt Jonathan Fischer im Büchlein zu Roll Your Moneymaker aus. Fischer ist Boxer, DJ, Maler und Musikjournalist, er kuratiert die Black-Music-Reihe beim Label Trikont. Auf Roll Your Moneymaker stellt er nun frühen schwarzen Rock’n’Roll der Jahre 1948 bis 1958 vor.

Franz Dobler schrieb einmal über Fischer, „immer kommen die Journalisten, die seine gut recherchierten langen Booklet-Texte plündern und seinen Namen nur erwähnen, wenn sie extrem gute Laune haben.“ Der Begleittext ist auch diesmal durchaus fundiert. Es sei kein Wunder, schreibt Fischer, dass ausgerechnet die vollschlanken Herren Fats Domino und Big Joe Turner oder die verschmusten Platters als erste schwarze Musiker beim weißen Publikum ankamen – Typen, die so gar keine sexuelle Bedrohung ausstrahlten. Sie ebneten „weißen Plattfüßen“ wie Bill Haley den Weg. Für das bleichgesichtige Publikum hüllten Produzenten die rumpeligen Rhythmen in Zuckerwatte, in süßliche Doo-Wop-Vokalisen und romantesken Streicherguss. Erst Elvis „das Becken“ Presley bewegte die Hüften so, wie es zu einer Musik passt, die ihren Namen von einem umgangssprachlichen Wort für lustvollen Beischlaf bekam.

In den Liedern, die Fischer zusammengestellt hat, spielen brünstiges Röhren und spelunkige Gewaltfantasien noch die Hauptrollen, stehlen R’n’B-Shouter und Country-Hinterwäldler sich gegenseitig die Melodien und mischen Sonntagmorgengospel hinein. Der Rock’n’Roll war ein Bastard, der viele Eltern hatte, schwarze und weiße, Delta Blues und Zydeco, Schlager und Country. Zu hören ist das etwa bei Ike Turner: Seine Rhythm Kings experimentierten schon seit den vierziger Jahren mit zentnerschweren Bassläufen zu düsteren Texten und rohen Rhythmen. Oder bei Howlin‘ Wolf, der sich von Country-Jodlern ebenso inspirieren ließ wie vom Blueskönig mit der Mundharmonika, Sonny Boy Williamson. Oder bei Rufus Thomas, der seit den dreißiger Jahren in Minstrel-Shows auftrat und noch bis kurz vor seinem Tod im Jahr 2001 mit Tiger-Höschen, Plateaustiefeln und Umhang tourte. Mit Tiger Man (King Of The Jungle) verdreht er den Rassisten das böse Wort von der Dschungelmusik im Maul.

Fischer erzählt dazu im Begleitheft die spannenden Geschichten der Musiker. Etwa die des schwungvoll bluesenden Gitarristen Magic Sam, der so schnell lebte, dass er mit 32 Jahren am Herzinfarkt starb. Kenntnisreich erläutert Fischer, wie Chuck Berry die Grenze zwischen Schwarz und Weiß durchbrach: mit Texten aus der Welt der Halbwüchsigen, der realen wie der lüstern fantasierten. Er stellt Johnny „Guitar“ Watson vor, dessen Space Guitar Jimi Hendrix inspirierte, und Otis Rush, von dem Eric Clapton und Peter Green, Jeff Beck und Carlos Santana sich das Handwerk abschauten. Big Maybelle kommt zu Wort, die nicht nur die Heroinsucht mit Billie Holiday gemein hatte, und Janis Joplins Vorbild Etta James.

Die 24 Aufnahmen – je zwischen 123 und 169 vinylsingletaugliche Sekunden lang – machen die These vom Bastard Rock’n’Roll nachvollziehbar und klingen nicht immer so, wie man es landläufig vom Genre erwartet. Die Zusammenstellung erscheint getrieben vom Impetus des Jägers, Sammlers und Liebhabers – „dann könnte man noch…, und Slim Harpo fehlt… Und Bo Diddley muss auch drauf…“ – der mit seinen schwarzen Lederklamotten und den pelzverzierten Gitarren, der testosterontrunkenen Lautstärke, den Verzerrungsorgien und der knalligen Lichtshow weit hinauswies über den klassischen Rock’n’Roll bis in die Zeiten von Led Zeppelin oder gar den White Stripes. Ja, auch das erwähnt Jonathan Fischer in seinem Text, dessen Quanti- wie Qualität eine ebenso wohllaunige Würdigung verdient wie das auf Roll Your Moneymaker zu Hörende.

Die Kompilation „Roll Your Moneymaker – Early Black Rock’n’Roll 1948-1958“ ist auf CD und Doppel-LP bei Trikont/Indigo erschienen.

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Kitty, Daisy & Lewis: „s/t“ (Sunday Best/Rough Trade 2008)

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Drei falsche Fuffziger

Kitty, Daisy & Lewis nehmen uns mit in die frühen Jahre des Rock’n’Roll: Hier schmeckt das Wasser wie Wein, und man tummelt sich beschwipst im See. Ihre Lieder scheppern und swingen, dass es eine Freude ist.

Kitty Daisy & Lewis

Sie schätzen es, schon in der Frühe um sechs fröhlich tänzelnd unter die Dusche zu hüpfen? Legen Sie das beschwingte Debüt der Geschwister Kitty, Daisy & Lewis auf, dann gerät der Morgen zum Tanzfest.

Ukulele und Kontrabass ertönen, Scheppertrommel und Konga, Gretsch- und Hawaii-Gitarren, Klavier, Akkordeon und Mundharmonika – Kitty, Daisy und Lewis Durhamlieben die Musik der vierziger und fünfziger Jahre, sie zelebrieren die frühen Tage des Rock’n’Roll, den Rockabilly, den Rhythm’n’Blues, den Country, den Swing und den Blues. Erstaunlich, schließlich ist die älteste der drei gerade 20 geworden. Zehn Lieder – zwei selbst komponierte, acht uralte – bannten sie in ihrem Heimstudio in London auf Tonbänder. Deren Klang ist perfekt, aber eben hörbar analog, wie Hausmusik auf Schellack. Produziert haben sie das Album selbst und ohne Computer, so klingen die Lieder ungeschliffen und minimalistisch.

Den Auftakt macht die Coverversion von Going Up The Country: Kitty, Daisy und Lewis laden aufs Land, wo das Wasser wie Wein schmeckt und man sich beschwipst im See tummeln kann. Welch ein charmanter Plan! Und wie geschickt, das beste Stück gleich an den Anfang zu stellen. Canned Heat spielten das Lied im Jahr 1969 in Woodstock, hier klingt es noch mal zwei Dekaden älter. Frisch und lebendig tönt es, wenn sie den Rhythmus klatschen.

Und sie klingen nicht nur nach den Fünfzigern, sie sehen auch so aus: Die Geschwister sind gekleidet wie Zeitgenossen Elvis‘, die Frisuren um ihre Pausbacken sind stilecht: Die beiden Frauen tragen die Haare zu strengen Pferdeschwänzen gebunden, alle drei haben sich Tollen zurechtgegelt. Sie inszenieren sich perfekt, auch die grobkörnigen Bilder auf der Albumhülle vermitteln den Geist vergangener Tage.

Sie wissen, was sie tun. In der Dokumentation We Dreamed America von Alex Walker erzählt Kitty, dass sie schon als Kinder gerne Johnny Cash, Elvis, Louis Jordan und den alten Blues gehört hätten. Seit einigen Jahren bereits musizieren sie zusammen, schließlich gelang es ihnen, den BBC-Moderator Rob Da Bank zu begeistern. Er nahm ihre zweite Single, Johnny Hortons Mean Son Of A Gun, ins Programm und veröffentlicht sie auf seinem Label „Sunday Best“. Dort erscheint nun auch das Album.

Eigentlich ist das alles kein Wunder, schließlich kommen die Geschwister aus einer musikalischen Familie: Ihre Mutter Ingrid Weiss trommelte in den Achtzigern bei der Postpunkband The Raincoats, ihr Vater Graeme Durham ist Tonmeister in einem der besten Studios Großbritanniens, The Exchange. Auf der Bühne helfen die Eltern gerne aus, Ingrid Weiss spielt dann den Kontrabass, Graeme Durham die Gitarre.

Zu den Klängen von Kitty, Daisy & Lewis gelingt der Morgen. Und wenn Sie dann nach den kaum dreißig Minuten dieses Debütalbums beschwingt Ihr Badezimmer verlassen, schauen Sie zur Kontrolle kurz in den Spiegel. Könnte sein, dass Sie sich eine Tolle frisiert haben.

Das Debütalbum von Kitty, Daisy & Lewis ist als CD und LP bei Sunday Best/Rough Trade erschienen. Außerdem ist das Album in Form eines Buchs erhältlich, gefüllt mit fünf 10 Inch-Scheiben, die auf 78 Umdrehungen abzuspielen sind.

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