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Jeder siebte Schüler "sehr ausländerfeindlich"?

 

„Rechtsextremismus unter Schülern alarmiert Regierung“ titelte der Spiegel. Eine neue Studie an 42.000 Neuntklässlern habe ergeben, dass jeder siebte Schüler „sehr ausländerfeindlich“ und jeder zwanzigste „eindeutig rechtsextrem“ sei und/oder einer „Kameradschaft“ angehöre. Am weitesten verbreitet ist Ausländerfeindlichkeit in Regionen, wo es vergleichsweise wenig Ausländer gibt, und unter Haupt- und Förderschülern. Der Innenminister äußert sich betroffen. Stimmt das so?

Ja und nein. Mit 42.000 Befragten lässt sich beispielsweise der bundesweite Anteil derjenigen, die rechtsextremen Gruppen angehören, sehr präzise schätzen: Aller Wahrscheinlichkeit liegt der wahre Anteilswert in der jugendlichen Bevölkerung in einem Bereich von 4,8%-5,2%. Aufgrund des Auswahlverfahrens stehen auch die Aussagen über regionale Unterschiede auf einem soliden Fundament. Problematischer ist die Abgrenzung von „sehr ausländerfeindlichen“ und „eindeutig rechtsextremen“ von „weniger ausländerfeindlichen“ und „etwas rechtsextremen“ Schülern. Wie in Meinungsumfragen üblich, wurde den Schülern eine ganze Reihe von ähnlichen, aber nicht identischen Aussagen zum Thema Rechtsextremismus vorgelegt, die sie beantworten sollten. Kaum ein Befragter wird hier ausschließlich ausländerfeindliche oder -freundliche Antworten geben. Daraus resultiert ein Problem: Wie viele Fragen muss ein Jugendlicher (im Sinne der Fragestellung) positiv beantworten, um als „eindeutig rechtsextrem“ zu gelten? Solche Schwellenwerte sind stets willkürlich. Je nach Festlegung ergeben sich etwas mehr oder etwas weniger dramatische Zahlen.

Ein viel größeres Problem ergibt sich jedoch aus der Psychologie des Antwortverhaltens. Stichprobenverfahren wurden ursprünglich zur Qualitätssicherung in der Industrie entwickelt, wo unbelebte Objekte untersucht werden. Menschen hingegen sind soziale Wesen. die stets und in häufig schwer vorhersehbarer Weise auf die soziale Dimension der Befragungssituation reagieren. Rassismus, insbesondere Antisemitismus, ist in der deutschen Gesellschaft in höchstem Maße tabuisiert. Sind Gymnasiasten also tatsächlich weniger ausländerfeindlich als Hauptschüler oder machen sie sich einfach nur mehr Gedanken darum, was die Gesellschaft in Form des Interviewers von ihnen erwartet? Sind pubertierende Jungen tatsächlich stärker antisemitisch eingestellt als gleichaltrige Mädchen oder empfinden sie einfach größere Lust am Tabubruch? Und wie setzen sich die im Interview gemessenen Einstellungen in Verhalten um? Diese Fragen sind auf der Grundlage von Umfragedaten alleine nicht zu beantworten.