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Der Schröder-Reflex

 

Am Abend der Bundestagswahl 2005 wurde Fernsehdeutschland Zeuge einer außergewöhnlichen politischen Forderung. Gerhard Schröder erhob ebenso lautstark wie kompromisslos den Anspruch, in der sich anbahnenden Großen Koalition Bundeskanzler zu bleiben, obwohl seine Partei knapp hinter der Union geblieben war. Auch wenn schließlich alles etwas anders kam, war dies doch das erste Mal, dass ein ungeschriebenes Gesetz in Frage gestellt wurde: Dass nämlich der stärkste Koalitionspartner den Regierungschef stellt.

Vier Jahre später nun kommen im Rahmen der anstehenden Landtagswahlen ähnliche Gedankenspiele auf. Insbesondere in Thüringen wird dieser Tage offen diskutiert, ob mögliche Linksbündnisse von einem SPD-Ministerpräsidenten geführt werden könnten, auch wenn die Linkspartei mehr Mandate als die SPD erringen sollte. Aus Sicht der SPD scheint dies die Antwort auf die heiß diskutierte Frage zu sein, wie man die vorausgesagte linke Mehrheit nutzen könnte, ohne insbesondere der Bundespartei eine schwere Bürde für die Bundestagswahl aufzuladen. Nach zahlreichen Versicherungen aus den Reihen der SPD, man werde dem Linkspartei-Spitzenkandidaten Bodo Ramelow nicht ins Amt helfen, könnte ein Einknicken nach der Wahl einen Sturm entfesseln, der die hessische „Wortbruch“-Debatte an Heftigkeit noch übertreffen könnte.

Die Alternative aber wäre ein politischer Kulturbruch, für den es sehr gute Gründe geben müsste. Die Argumente Schröders anno 2005 waren zum einen, dass die SPD gemessen an den Umfrageergebnissen im Wahlkampfendspurt mächtig aufgeholt hatte, sodass sie die Union bei einem etwas späteren Wahltermin hätte überholen können. Zum anderen konnte er seine guten Persönlichkeitswerte in die Waagschale werfen und sich als eine Art „Volkskanzler“ darstellen.

Ob die SPD in Thüringen in den verbleibenden zehn Tagen noch zum Endspurt ansetzen und die Linkspartei überholen kann, ist ungewiss. Die Persönlichkeitswerte der beiden Kandidaten jedoch zeigen, dass Spitzenkandidat Christoph Matschie nicht deutlich vor Bodo Ramelow liegt. Gemessen an der so genannten Direktwahlfrage (in der die beiden jeweils Ministerpräsident Dieter Althaus gegenübergestellt wurden, siehe Abbildung) schneidet er kaum besser ab. Dazu wurde auch der direkte Vergleich zwischen Matschie und Ramelow erhoben – allerdings nicht in Form einer Direktwahlfrage, sondern anhand der Frage, ob die Linke ihren Kandidaten durchsetzen oder den SPD-Mann mitwählen solle. Auch hier gewinnt Matschie mit einer relativen Mehrheit von 42 zu 31 Prozent. Allerdings sind diese Zahlen zum einen wegen der besonderen Fragestellung schwierig einzuschätzen und zum anderen ebenfalls nicht so deutlich wie der Abstand zwischen Gerhard Schröder und Angela Merkel vor der letzten Bundestagswahl.

Direktwahlfragen zu Thüringen 2009 und der Bundestagswahl 2005

Quellen: LanderTREND Thüringen und ARD Deutschlandtrend von Infratest dimap

Mittlerweile ist klar, dass ein wahrgenommener Endspurt und gute Persönlichkeitswerte allein keine hinreichenden Kriterien dafür sind, als „Juniorpartner“ das Amt des Regierungschefs übernehmen zu können. Neben der Außenwahrnehmung spielt auch die interne Atmosphäre eine wichtige Rolle, und hier sind sich Matschie und Ramelow sicher näher als Schröder und Merkel es waren. Vieles spricht aber dafür, dass nur alle diese Kriterien zusammen die absolut notwendige Grundlage für solch eine außergewöhnliche Entscheidung bilden könnten. Denn ein unter diesen Gegebenheiten gewählter Ministerpräsident bräuchte auch außerhalb seiner Koalition einen starken Rückhalt, um die Kritik an der Legitimität seiner Wahl entkräften zu können. Solange also die SPD und ihr Spitzenkandidat das linke Lager auch jenseits der klassischen „Sonntagsfrage“ nicht dominieren, wird es zu dieser kleinen Revolution wohl nicht kommen.