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„Stuttgart 21“ in den Programmen der baden-württembergischen Parteien seit 1992: Kein zentrales Thema der Grünen

 

Durch das Vermittlungsverfahren zum Großbauprojekt „Stuttgart 21“ hat sich – wohl auch aufgrund des (zumindest zeitweise) rollenden Castor-Transports – die Lage am Hauptbahnhof in der baden-württembergischen Landeshauptstadt wieder etwas beruhigt. Dennoch bleibt das Thema auf der Agenda und wird eine, wenn nicht die zentrale Rolle im Landtagswahlkampf im kommenden Frühjahr 2011 spielen. Ein Aspekt, der in der Debatte um das Ausmaß der Demonstrationen immer wieder aufkam, war die Behauptung, dass die das Projekt befürwortenden Parteien und die Landesregierung von Baden-Württemberg in den letzten Jahrzehnten ihre Haltungen zu „Stuttgart 21“ nicht deutlich genug kommuniziert hätten und daraus die momentanen Verwerfungen zwischen einem Teil der (Stuttgarter) Bürgerinnen und Bürger einerseits und CDU, FDP sowie der SPD andererseits entstanden sind. Haben Christ-, Sozial- und Freidemokraten im Südwesten wirklich dieses Thema in den letzten Jahren derart missachtet und ihre Haltungen nicht deutlich genug gemacht? Sind wirklich die Bündnisgrünen die einzige Partei, die ihre ablehnende Haltung gegenüber dem Bauprojekt über einen langen Zeitraum hinweg deutlich gemacht hat?

Ein Blick in die Wahlprogramme der Parteien seit 1992 sowie in die Koalitionsabkommen der Landesregierungen kann ein wenig Licht ins Dunkel bringen. Man kann relativ einfach über die Häufigkeit der Wörter, die sich auf „Stuttgart 21“ explizit bzw. auf Infrastrukturmaßnahmen im baden-württembergischen Schienennetz allgemein beziehen, die Bedeutung dieses Themas für die Parteien bzw. – wenn man das Koalitionsabkommen heranzieht – für die Landesregierungen messen. Dabei zeigen sich erstaunliche Ergebnisse: so sind die Grünen in Baden-Württemberg mitnichten die Partei, die dieses Themengebiet am häufigsten in ihren Programmen nennt. Bei der Landtagswahl 1992 waren dies vor allem FDP und SPD: 1,6 bzw. 1,4% der Wörter in den Wahlprogrammen beider Parteien bezogen sich auf den Ausbau des Schienennetzes und dabei die – aus der Sicht dieser Parteien bestehende – Notwendigkeit, Stuttgart und den Stuttgarter Flughafen besser an den Bahn-Fernverkehr anzubinden. Auch 0,7% des Wahlprogramms der Union gingen inhaltlich in diese Richtung. Hingegen bezogen sich nur 0,1% der Wörter im Wahlprogramm der Grünen 1992 auf das Thema von Aus- und Neubau von Schienenstrecken. Zwar widmeten die südwestdeutschen Grünen zu den Landtagswahlen 1996 und 2001 diesem Thema mehr Raum in ihren Wahlprogrammen, allerdings war der Anteil inhaltlicher Aussagen zu „Stuttgart 21“ 1996 bei SPD und FDP sowie fünf Jahre später bei den Sozialdemokraten noch immer deutlich höher als in den Dokumenten der Grünen. Zur Wahl des Landesparlaments 2006 ging der Anteil an Wörtern, die sich auf Bahnbauprojekte in Baden-Württemberg bezogen, bei den Grünen im Vergleich zu 2001 sogar von 1% auf 0,6% zurück, wohingegen neben der SPD auch die CDU dieses Issue in höherem Ausmaß ansprachen.

Es gilt somit festzuhalten, dass die Grünen in Baden-Württemberg auf keinen Fall die Partei bei den vergangenen Landtagswahlen waren, die dieses Thema in ihren Wahlprogrammen in besonders hervorgehobener Weise angesprochen und problematisiert hatten. Dies taten auch – und noch dazu in zum Teil deutlich größerem Ausmaß – SPD, Liberale und die Christdemokraten. Zudem widmet sich ein nicht unerheblicher Teil der Koalitionsabkommen den Themengebieten „Schienennetz“ und „Stuttgart 21“ in sehr expliziter Form. Letzteres gilt insbesondere für den „schwarz-roten“ Koalitionsvertrag aus dem Jahr 1992, aber auch für das zweite christlich-liberale Koalitionsabkommen von 2001. Somit mögen zwar von Seiten der Landesregierung und der sie tragenden Parteien das Thema „Stuttgart 21“ und seine Implikationen nicht in ausreichender Form während der Legislaturperiode der Wählerschaft kommuniziert worden sein. Allerdings haben alle Parteien – insbesondere SPD, FDP und auch die CDU – ihre inhaltlichen Positionen zu diesem Thema im Durchschnitt seit 1992 mehr Gewicht in den Wahlprogrammen beigemessen als es die Grünen taten. Es scheint daher so, als ob die Grünen die wahlstrategische Bedeutung von „Stuttgart 21“ erst mit der Kommunalwahl 2009 entdeckt haben und nun versuchen, durch die explizite Herausstellung dieses Themas bei der Landtagswahl 2011 auf Stimmenfang zu gehen. Ob sich die Abkehr der SPD von Stuttgart 21 – „für die rasche Realisierung der Schnellbahntrasse Stuttgart/Ulm“ (SPD-Wahlprogramm 1992); „Mit „Baden-Württemberg 21“ das Land zum Treffpunkt Europas machen“ (SPD-Wahlprogramm 2001) – auszahlen wird, kann eher bezweifelt werden. Wähler mögen es in der Regel nicht, wenn Parteien inhaltliche Positionen auf einmal ins Gegenteil verkehren.