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Karlsruhe und das Wahlrecht: Auf in ein Nebengefecht!

 

Gespannt richtet sich der Blick der Politik – wieder einmal – auf Karlsruhe. Was wird das Bundesverfassungsgericht zum neuesten Versuch urteilen, ein verfassungsgemäßes Wahlrecht zu installieren? Ist das negative Stimmengewicht (das korrekterweise eigentlich „vermindertes positives Stimmengewicht“ heißen müsste, aber das ist eine andere Geschichte) zur Genüge beseitigt? Oder werden die Richter sogar noch einen Schritt weitergehen und dieses Mal gleich die ganze Idee (nicht ausgeglichener) Überhangmandate beanstanden?

Wie auch immer das Urteil am Mittwoch ausfallen wird – eine Chance haben alle Beteiligten in jedem Fall verstreichen lassen. Die ganze Diskussion um die Reform des Wahlrechts war von Anfang an durch Technikalitäten und Kleinigkeiten geprägt. Wie kann man das negative Stimmengewicht beseitigen? Wie lassen sich Überhangmandate erhalten (oder abschaffen)? Zweifelsohne: Das sind gewichtige Fragen, ein Wahlrecht muss auch in den Details prinzipientreu funktionieren.

Und dennoch: Das negative Stimmgewicht hat empirische Konsequenzen, die sich in der Größenordnung von einem einzigen Sitz bewegen, den eine Partei zulasten einer anderen bekommt. Der kann entscheidend sein, richtig. Aber es bleibt doch ein einziger Sitz. Überhangmandate haben da schon größere Auswirkungen. Nach der Bundestagswahl 2009 gab es 24 davon. Da sie alle zugunsten der Union entstanden, liegt ein beachtlicher Verstoß gegen das Gebot der Gleichheit der Wahl vor. Und doch sind selbst diese 24 Sitze eine relativ bescheidene Größe.

Gemäß Art. 38 (1) des Grundgesetzes werden „(d)ie Abgeordneten des Deutschen Bundestages … in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes.“ Doch wie kann man von Letzterem sprechen, wenn die Wahlbeteiligung – wie 2009 – bei gerade einmal 70,8 Prozent lag? In Sachsen-Anhalt gingen gerade einmal 60,5 Prozent der Berechtigten zur Wahl. Und in einigen Städten und Stadtteilen war die Beteiligung sicher noch viel niedriger. Hätten die Nichtwähler Sitze im Parlament, dann würden sie seit 2009 – je nach Zählung und Hürden – rund 180 einnehmen!

Gleiche Wahl? Vertreter des ganzen Volkes? Die jüngsten (rückläufigen) Entwicklungen bezogen auf die Wahlbeteiligung lassen beides zunehmend fraglich erscheinen. Aber leider hat über diese Frage – wie kann man Wählen (und das Wahlsystem) attraktiver machen? – in der ganzen Diskussion niemand auch nur ein einziges Wort verloren. Auch aus Karlsruhe werden wir dazu morgen nichts hören. Schade eigentlich.

Thorsten Faas (@wahlforschung) ist Juniorprofessor für Politikwissenschaft, insbesondere Wählerverhalten, an der Universität Mannheim.